Kurzüberblick:
Psychotherapeutische Schulen
Wolfgang Müller-Funk
Eine psychische Erkrankung wird noch immer als Makel betrachtet, als könnte die oder der Betroffene gesund sein und normal funktionieren, wenn sie bzw. er nur wollte. Es gehen pro Jahr etwa fünf Prozent der Bevölkerung zur Psychotherapie, doch etwa zehn Prozent hätten es eigentlich nötig, wie epidemiologische Studien der World Health Organization, in denen die Wahrscheinlichkeit von psychischen Störungen erhoben wird, zeigen. Dabei ist dieser Wert von zehn Prozent ist in der Vergangenheit immer wieder empirisch bestätigt worden, wobei Depressionen und Angststörungen vorherrschend sind. Nach Aussagen der WHO werden Depressionen allmählich zur Krankheit Nummer eins und akute Belastungsreaktionen, die zu einem Burnout führen, in Form von Erschöpfungsdepressionen ebenfalls immer häufiger. Die Einschätzung von psychischen Störungen verlangt aber spezifisches Wissen und klinische Erfahrung, denn nur dann ist man in der Lage, eine seriöse Diagnose zu stellen. PsychotherapeutInnen, die eine solche Indikationsstellung vornehmen, müssen klinisch gut ausgebildet sein und stehen auch rechtlich in der Pflicht, solide und seriös zu arbeiten.
Die Zahl der Angebote, die bei seelischen Problemen Hilfe versprechen, ist unübersehbar groß geworden, wobei darunter auch fragwürdige Methoden sind, mit denen Anbieter etwa für Psychocoaching, Bachblütentherapie, Rebirthing, Rolfing und vieles andere mehr im Internet und in anderen Medien werben. In den letzten Jahren hat sich in den deutschsprachigen Ländern eine unübersehbare Vielfalt psychotherapeutischer Ansätze entwickelt, deren korrekte Bewertung auch für den Fachmann schwierig ist, zumal wesentlich mehr unüberprüfte oder unseriöse Verfahren angeboten werden als empirisch überprüfte. Unterschiede zeigen sich sowohl in den theoretischen Grundannahmen (Menschenbild, Entwicklung, Psychopathologie) als auch in der Konzeption des therapeutischen Prozesses (Therapieziel, Therapeutenrolle, Diagnostik, Therapiedauer). Zu den begrenzten Möglichkeiten schreibt Ulrich Gresch: "Moderne Menschen brauchen keinen Psychotherapeuten, der wie eine Mischung aus Arzt, Pfarrer und Schamane auftritt. Sie brauchen keine Psychotherapie, die wie eine alleinseligmachende Amtskirche organisiert und staatlich abgesichert ist. Psychologische Beratung und Psychotherapien sind wie kaum eine andere Dienstleistung auf Vertrauen angewiesen. Es liegt also in meinem ureigenen, auch wirtschaftlichen Interesse, ehrlich gegenüber meinen Kunden zu sein. Darum möchte ich mit besonderem Nachdruck betonen, dass ich keine Wunder-Methoden beherrsche und auch kein überlegenes, unanfechtbares psychologisches Wissen besitze. Und ich kann Ihnen auch nur den Rat geben, sich vor Psychotherapie-Gurus in Acht zu nehmen, die derartige magischen Kräfte zu besitzen behaupten."
Im Gegensatz zu hilfsbereiten Mitmenschen und Laientherapeuten gehört die Fähigkeit zur Abgrenzung - professionelle Distanz - in therapeutischen Berufen zur Ausbildung. Sie entsteht vor allem dadurch, dass man sich als ausgebildeter Therapeut selbst auf der Grundlage eines mehr oder minder erprobten theoretischen Hintergrundes reflektieren kann und dadurch z.B. Übertragungen oder Projektionen von eigenen Anteilen vermeidet und sich vor den Projektionen des Klienten schützt. Diese Distanz hat nichts damit zu tun, dass man sich als Therapeut nicht dennoch in sein Gegenüber einfühlen kann.
- Tiefenpsychologische Ansätze
Psychische Störungen sind durch vergangene Konflikte bedingt. Im Vordergrund der Therapie stehen Aufdeckung und Auflösung dieser Konflikte sowie unbewusster Motive: Psychoanalyse (Freud), Analytische Therapie (Jung), Individualtherapie (Adler), Ich-Analyse (A. Freud), Fokaltherapie (Balint), Psychodrama (Moreno), Katathymes Bildererleben (Leuner), Transaktionsanalyse (Berne), Imago-Therapie (Hendrix). - Kognitiv-Verhaltenstherapeutische Ansätze
Psychische Störungen entstehen durch Lernprozesse, aufrechterhaltende situative Bedingungen und kognitive Verzerrungen. Im Vordergrund der Therapie stehen dementsprechend Veränderungen des Verhaltens, der situativen Bedingungen und der kognitiven Verzerrungen. Therapieschulen im engeren Sinne gibt es kaum, es kann eher von Strömungen innerhalb einer breiten Grundorientierung an der empirischen Psychologie gesprochen werden: Verhaltensanalyse (Skinner), Verhaltenstherapie (Eysenck), Systematische Desensibilisierung (Wolpe), Reiz-Konfrontationstherapie ("Exposure", Marks), Rational-Emotive Therapie (Ellis), Multimodale Verhaltenstherapie (A. Lazarus), Kognitive Verhaltenstherapie (Beck/ Meichenbaum), Schematherapie (Young). - Humanistisch-Existentialistische Ansätze
Diese uneinheitliche Gruppe von Verfahren konzentriert sich auf Selbstheilungskräfte im Menschen, die in der Therapie gefördert werden sollen. Wahrnehmung und Erleben sollen im Hier-und-Jetzt aktiviert und das Wachstum der Persönlichkeit gefördert werden. Dabei wird die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung in der Therapie betont: Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (Rogers), Gestalttherapie (Perls), Focusing (Gendlin), Primärtherapie ("Urschrei") (Janov), Neurolinguistisches Programmieren (Bandler & Grinder). - Systemische Ansätze
Psychische Störungen sind kein individuelles Problem, sondern Ergebnis eines fehlgesteuerten Systems bzw. fehlerhafter Kommunikation (meist Familie oder Partnerschaft). Die Therapie dient daher der Veränderung des Systems, d.h. der Beziehungs- und Interaktionsmuster in Partnerschaft, Familie oder Gruppe: Kommunikationstherapie (Watzlawick/Jackson), Systemische Familientherapie (Haley/Satir/Selvini-Palazoli), strukturelle Familientherapie (Minuchin), dynamische Familientherapie (Stierlin), Kollusion/Koevolution (Willi), Familienaufstellung (Hellinger). - Körperorientierte Therapieformen
Hierbei handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe ohne gemeinsamen theoretischen Ursprung. Grundidee ist, dass durch systematische Körperübungen die Sensibilität für den eigenen Körper gesteigert, ein höherer Bewusstseinsgrad erreicht und dadurch die psychische und körperliche Gesundheit gefördert werden soll: Charakteranalyse (Reich), Bioenergetik (Lowen), Strukturanalyse (Rolf), Autogenes Training (Schultz), Progressive Muskelrelaxation (Jacobson), Bewusstheit der Bewegung (Feldenkrais), Atemtherapie (Middendorf), Rebirthing (Ort), Kinesiologie und Edu-Kinestetik (Dennison).
Aus der umfangreichen Psychotherapieforschung im Hinblick auf wissenschaftliche Überprüfung und praktische Bewährung lassen sich die Therapieformen in vier Wirksamkeitsgruppen zusammenfassen:
- Keine Wirkungsnachweise: Klassische Psychoanalyse nach Freud, Analytische Therapie nach C.G. Jung, Humanistisch-existentialistische Ansätze, Neurolinguistische Programmieren, Primärtherapie nach Janov, Rebirthing, Orgon/Vegetotherapie (Reich).
- Negative Befunde: Autogenes Training (als Therapiemethode, nicht als Entspannungsverfahren).
- Ungenügende Wirkungsnachweise: Individualtherapie nach Adler, Katathymes Bilderleben, Transaktionsanalyse, Psychodrama, Bioenergetik, Gestalttherapie, Systemorientierten Familientherapie.
- Hinlängliche Wirksamkeitsnachweise: Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, Psychoanalytischen Therapien, Kurztherapien (nicht die klassische Psychoanalyse).
Eva Jaeggi (2001) hat in ihrem Buch "Und wer therapiert die Therapeuten?" (Stuttgart: Klett-Cotta) die psychische Befindlichkeit von PsychotherapeutInnen untersucht und kommt zu dem Schluss: "Natürlich ist nie auszumachen, ob sich zum Beruf des Psychotherapeuten eventuell besonders labile Naturen hingezogen fühlen" (S.113). Die Autorin berichtetet Zahlen über schwere psychische Störungen bei Therapeuten: 73 % schwere Angststörungen, 90 % (undifferenzierte) schwere psychische Störungen, 82 % schwere persönliche Probleme infolge Beziehungsschwierigkeiten, 57 % Depressionen, 11 % Süchtige und 2 % Suizidversuche. Sie folgert daraus, dass der Beruf des Psychotherapeuten nicht unbedingt der gesündeste ist bzw. nicht unbedingt die gesündesten Menschen anzieht.
Sonnenmoser (2009) berichtet von einer Untersuchung von Psychologen der Universitätsklinik Ulm und des Vereins Ethik in der Psychotherapie, die 81 Beschwerdefälle gegen Psychotherapeuten ausgewertet haben, wobei berücksichtigt werden muss, dass Machtgefälle, Abhängigkeit, Scham und auch mangelnde Informiertheit oft dazu beitragen, dass viele PatientInnen auf eine Beschwerde verzichten. "Die Klagen richteten sich häufiger gegen männliche als gegen weibliche Psychotherapeuten; gegen männliche Therapeuten wurde signifikant häufiger der Vorwurf der sexuellen Grenzverletzung vorgebracht. Die häufigste Beschwerde (43 Prozent) bezog sich darauf, dass der Therapeut nicht genügend Empathie zeigte, sodass der Patient kein Vertrauen zu ihm entwickeln konnte. Auch wurde bemängelt, dass der Therapeut zu wenig auf die Probleme des Patienten einging (27 Prozent). Mangelnde Aufklärung über die Therapie wurde fast gleichhäufig beklagt (etwa 20 Prozent) wie sexuelle Grenzverletzung und ökonomischer Missbrauch des Patienten durch den Therapeuten. Beklagt wurden auch „Diagnosedrohungen“ (20 Prozent), das heißt, ein Therapeut stellt dem Patienten eine ungünstige Diagnose („unheilbar“), wenn dieser sich nicht den Vorstellungen oder Forderungen des Therapeuten anpasst. Schweigepflichtverletzungen seitens des Therapeuten wurden in zwölf Prozent der Fälle beklagt. Vergleichsweise selten vorgebracht wurden Beschwerden zum Beispiel über Störung von Therapiestunden durch fortgesetztes Telefonieren während der Sitzungen oder Inanspruchnahme des Patienten für therapiefremde Tätigkeiten."
Nebenwirkungen einer Psychotherapie
Eine Therapie greift in komplizierte Verflechtungen der menschlichen Psyche, wodurch es unter Umständen auch zu einer Verstärkung der psychischen Beschwerden oder zum Auftreten neuer Krankheitssymptome, zu einer Überforderung oder zum Gefühl der Abhängigkeit von der Psychotherapeutin oder dem Psychotherapeuten kommen kann. KlientInnen berichtennicht selten über Erschöpfungszustände nach dem Besuch beim Therapeuten, von Verwirrung oder der Zunahme von negativen Gefühlen, Verzweiflung und Kränkung. Häufig findet sich auch eine Verschlechterung eines depressiven Zustandes bei Gruppentherapien, in denen die KlientInnen sich gegenseitig anstecken können. Aber auch Behandlungsfehler, unkorrekt durchgeführte Behandlungen und falsche Diagnosen tragen dazu bei, dass eine Psychotherapie eine negative Wirkungen zeigen kann, wobei manche Studien davon ausgehen, dass es etwa jedem zehnten Klienten nach der Therapie schlechter geht als vorher. Was beim einem Menschen dazu führt, die belastende Situation aufzulösen, kann beim anderen übermächtige und negative Gefühle verstärken, und so etwa Ängste vertiefen. Am Beginn einer Therapie ist es aber meist unumgänglich, sich der Probleme der dahinter steckenden Erkrankung bewusst zu werden und sich dann damit aktiv auseinanderzusetzen, was in der Regel mit starken Emotionen verbunden ist. Als größter Risikofaktor für einen therapeutischen Misserfolg gilt jedoch eine problematische Beziehung zum Therapeuten, denn es kann ein Gefühl der Abhängigkeit enstehen, das bei einem Betroffenen die eigene unter Umständen die Selbsthilfefähigkeit einschränkt.
Überblick über einige Psychotherapierichtungen und -schulen
- Allgemeines zur Psychotherapie
- Ausbildung in Psychotherapie
- Klientenzentrierte Therapie: Carl Ransom Rogers
- Psychodrama und Gruppenpsychotherapie: Jakob Levy Moreno
- Humanistische Psychologie: Abraham Maslow
- Gestalttherapie: Fritz Perls
- Die Systemischen Therapien
- Systemisches Fragen
- Die Systemische Familientherapie
- Kognitive und Verhaltenstherapie: Joseph Wolpe, Hans J. Eysenck
- Imago Therapie
- Die "Schematherapie" nach Jeffrey E. Young
- Transaktionsanalyse nach Eric Berne
- Achtsamkeitstherapie
- Modeling Therapie
- Persönliche Konstrukte - George A. Kelly
- Kurzzeittherapeutischen Schulen
- Körperorientierte Therapien - Focusing
- Hypnotherapie
- Psychologische Beratung im Internet - die "eTherapie"
- Therapeutische Allianz
- Tipp: Schreiben als Therapie
- Literatur und Quellen
- Siehe auch den Kurzüberblick: Psychotechnische Schulen
- NEU: Test der Stressbelastung
Literatur und Quellen
Buchheim, A., Kächele,H., Cierpka M., MünteT. F., Kessler H., Wiswede D., Taubner S., Bruns G. & Roth G. (2008). Psychoanalyse und Neurowissenschaften.Neurobiologische Veränderungsprozesse bei psychoanalytischen Behandlungen von depressiven Patienten. Nervenheilkunde, 27: 441–445.
Bucher, Meredith, Suzuki, Takakuni & Samuel, Douglas (2019). A meta-analytic review of personality traits and their associations with mental health treatment outcomes. Clinical Psychology Review, 70, doi:10.1016/j.cpr.2019.04.002.
Gaab, J., Kossowsky, J., Ehlert, U. & Locher, C. (2019).
Effects and Components of Placebos with a Psychological Treatment
Rationale – Three Randomized-Controlled Studies.
Scientific Reports, doi:10.1038/s41598-018-37945-1.
Gresch, Ulrich (2003). Re: Kritik an der Psychoanalyse. Newsgroup: de.sci.psychologie. Sun, 05 Oct 2003 13:06:25 (03-10-05)
Grubner, Angelika (2019). Die Verstrickung von Psychotherapie und neoliberaler Politik. Psychologie & Gesellschaftskritik, 42, 7–23.
Hoppe, Christian (2013). Vom Wissen zum Können, vom Unterricht zum
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Scilogs.
WWW:
http://www.scilogs.de/blogs/blog/wirklichkeit/2013-09-26/vom-wissen-zum-k-nnen-vom-unterricht-zum-training-oder-grenzen-des-kognitiven-paradigma-in-der-psychologie
(13-09-29)
Parong, Jocelyn, Seitz, Aaron R., Jaeggi, Susanne M. & Green, C. Shawn (2022). Expectation effects in working memory training. Proceedings of the National Academy of Sciences. doi: 10.1073/pnas.2209308119.
Roth, G. (2015). Wie das Gehirn die Seele formt. Frankfurter Allgemeine vom 11. August.
Sonnenmoser, Marion (2009). Beschwerden: Therapeuten zeigen zu wenig Empathie.
WWW: aerzteblatt.de, PP 8, Ausgabe Oktober 2009, Seite 450.
http://www.psychoprobleme.de/psychologische-beratung/psychotherapie-mythen.htm (07-06-06)
http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/PSYCHOLOGIEORD/PsychologieSchulen.html (05-11-06)
http://www.4real.ch/psy-thrp.html (01-11-17)
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http://www.pdh.ch/moreno-triade/ (02-03-05)
http://www.beratung-therapie.de/therapie/therapiemethoden/therapiemethoden.html (02-07-31)
http://www.ifap-index.de/bda-manuale/angst1/6psychoth/65.html (02-08-10)
http://www.swr.de/laemmle/therapieformen/index.html (02-05-27)
http://www.eBund.ch (03-10-25)
http://www.ship.edu/~cgboeree/rogersdeutsch.html (05-11-06)
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