Psychotechnische "Schulen":
Kinesiologie und Edu-Kinestetik
Die zentrale Methode der "Angewandten Kinesiologie" ist der vom US-Chiropraktiker George Goodheart von älteren Verfahren entlehnte "Muskeltest", bei dem ein Tester einen einzelnen Muskel des Getesteten durch Handauflegen und Druck auf den ausgestreckten Arm der Testperson danach "befragt", ob dieser "an-" oder "ausgeschaltet ist. Mit Hilfe dieses Tests, bei dem die Voraussetzungen der TesterIn nach Dennison nur in der "Liebe" zur getesteten Person und der eigenen "Zentriertheit" bestehen und nicht in besonderen Kenntnissen (Dennison 1992, S. 29), werden dann alle möglichen Befunde, zum Beispiel über wirksame Medikamente, Lebensmittelunverträglichkeiten, aber auch Lernstörungen, bei denen dann bestimmte "Gehirnpunkte" befragt werden, diagnostiziert (vgl. Breitenbach & Keßler 1997). Man scheut sich auch nicht, eine lange namhafte Tradition zu bemühen: "Vor 2000 Jahren verwendete der griechische Arzt Hippokrates das Muskeltesten, um neurologische Verletzungen an Soldaten zu untersuchen. Vor über 500 Jahren nutzten es die Maya-lndianer um festzustellen, ob das Wasser an einer bestimmten Stelle trinkbar war. Im 19. Jahrhundert wandten es die französischen Neurologen Charcot und Babinsky an" (Ohne Autor o.J.). Beliebt ist auch das "Haarezupfen", das der Feststellung dient, ob der Körper genug Flüssigkeit hat. "Mit dem Zupfen an den Haaren wird die Haut gereizt, und bei zu wenig Wasser im Körper genügt dieser Reiz, um Stress zu erzeugen, der mit dem Muskeltest messbar gemacht wird. Außerdem ist es für die Gültigkeit der Messergebnisse erforderlich, dass die getestete Person genügend Wasser hat. Abhilfe kann bei Bedarf mit stillem Mineralwasser geschaffen werden (Forstner-Billau o.J.).
In Kombination mit anderen Techniken, von Farbwirkungen bis zur angeblichen Änderung des genetischen Codes, können dabei angeblich alle Probleme des menschlichen Lebens mit einfachen Mitteln bewältigt werden. Die dieser esoterischen Gauklerübung unterstellten physiologischen Gründe sind wissenschaftlich völlig unhaltbar. Der Muskeltest eignet sich weder zur Diagnose von psychischen Störungen noch irgendeiner anderen körperlichen oder geistigen Erkrankung. Klinische Tests haben eindeutig ergeben, dass der "Muskel-Test " nicht mehr Aussagekraft hat als ein Würfelspiel, wobei die Armkraft unwillkürlich vom Blick und von den Gedanken des Getesteten beeinflusst wird, dem Gegendruck des Testers an immer anderen Stellen des Armes (Hebelwirkung) und anderen Faktoren. Breitenbach & Keßler (1997) haben in einem Doppelblindversuch mit 99 sprach- und lerngestörten Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren den Muskeltest anhand zweier Aussagen der Edu-Kinestetik auf seine Verläßlichkeit als Diagnoseinstrument überprüft und belegt, dass der Muskeltest aus empirischer Sicht derzeit kein valides diagnostisches Verfahren ist. Ebenfalls muß darauf hingewiesen werden, daß momentan auch nur mangelhafte emprische Belege für die Effektivität edukinestetischer Förderung vorliegen, wobei immer von einem Hawthorne-Effekt ausgegangen werden muss. Zum Glück gilt aber: "Die Methoden (?) sind so einfach, dass man damit (an und für sich) nichts falsch machen kann. Solange man nicht mit Gewalt an den verschiedenen Muskeln zerrt, passiert den Muskeln kein Unheil. Und die verschiedenen Stärkungsmethoden wirken nur bei Blockaden. Wenn eine Blockade beseitigt ist, schadet eine weitere Stärkung nicht" (Forstner-Billau o.J.).
Zu allem Überdruss fließen in diese Techniken Versatzstücke aus unterschiedlichen theoretischen und esoterischen Zusammenhängen ein (z.B. Neurophysiologie, Psychomotorik, Tai Chi, Akupunktur, Aura- und Chakra-Arbeit etc.). Die Begründung der Methoden besteht daher in einem Sammelsurium von Begriffen und Modellen, die mehr oder weniger korrekt aus unterschiedlichen Ansätzen entliehen und zu einem stark verkürzten eigenen Modell rekombiniert werden. Dabei wird auf eine genaue Auseinandersetzung mit den Quellen weitgehend verzichtet, vermutlich auch deshalb, da sie den meisten auch unbekannt oder vermutlich unverständlich sind.
Die Liste der Anwendungsmöglichkeiten ist auf Grund dieses esoterischen Mischmasch natürlich nicht enden wollend (zusammmengefaßt das Angebot einer einzigen website): bei chronischen Schmerzen, Verspannungen, Schwächen, Funktionsstörungen in Muskeln, Organen und Energiefluss in den Meridianen, Austesten von versteckten Allergien und Unverträglichkeiten auf Lebensmittel, Medikamente, Wasch- und Pflegemittel, Umweltgiftbelastungen, Schwermetallbelastungen (Amalgam), Autoabgase, berufsbedingte Schadstoffe, Strahlenbelastungen, elektromagnetische Belastungen, Narben als Störfelder, Süchte, Austesten von verträglichen Nahrungsmitteln und Medikamenten, die optimale Dosierung von Vitamin und Mineralstoffbedarf, bei Leistungs-, Konzentrations- und Lernstörungen, gute Koordination und Integration der beiden Gehirnhälften, stressfreies Lernen, Lesen, Sehen und Hören, Lernblockaden auflösen, Gehirntraining
Die Auswüchse erreichen seit einiger Zeit auch die Schulen: Denkmützen, liegende Achten, Beklopfen des Brustbeins, rechte Hand auf linkes Knie usw. (s.u.). LehrerInnen benutzen diese Methoden in der Hoffnung und dem Glauben, dass sie ihren SchülerInnen damit helfen können, erfolgreicher zu denken, sich besser zu konzentrieren, richtiger zu schreiben und zu rechnen. Viele berichten auch über ihre Erfolge und empfehlen KollegInnen diese Verfahren weiter, sogar Fortbildungen werden an Schulen organisiert - nicht selten um diese Methoden auch Eltern weiter zu vermitteln.
Die liegende Acht passt als Symbol recht gut für die Kinesiologie, denn in der Geschlossenheit des Zeichens manifestiert sich, dass hier ein selbstbezügliches System unentwegt zirkulär affirmiert: Prozesse vollziehen sich ohnehin von selbst, der Nutzen tritt von selbst zutage, gelegentliche "Überprüfungen" durch den Muskeltest zeigen den jeweils fälligen nächsten Schritt im Prozess, der ja niemals schief gehen kann, weil er sich von selbst vollzieht. Der Verzicht auf konkrete Zielsetzungen ist schließlich ein Garant für ein sich selbst fortschreibendes Verfahren, enn wenn Zielerreichung kein Kriterium ist, darf der Prozess samt seiner Begleitung wohl ziemlich lange dauern (vgl. Trimmel, 2009).
Vor der Anwendung solcher kinesiologischer Verfahren in Diagnose und Therapie wird seitens psychologischer und medizinischer Fachverbände sowie der Gesundheitsbehörden gewarnt. Die von Dennison nach 1960 eingeführte Lehre der "Edu-Kinestetik", eine auf den oben genannten Ideen der Kinesiologie beruhende Gymnastikform, machte aus den unsinnigen Annahmen und kruden Diagnosen der Kinesiologie ein florierendes Geschäftsmodell, das an sich wirkungslose Bewegungsübungen zur Therapie erklärt. Nach Dennison & Dennison (1995) ist Edu-Kinestetik eine Methodik, die Lernenden dazu verhilft, durch bestimmte Bewegungen und Berührungen die im Körper verborgenen Potentiale und Fähigkeiten "herauszuholen und jederzeit verfügbar zu machen". Nach Auffassung der Edu-Kinestetik entstehen Lernblockaden dadurch, daß Kinder sich zu sehr bemühen und dabei den Gehirnintegrationsmechanismus, der für ein vollständiges Lernen erforderlich ist, ausschalten. Die Edu-Kinestetik verspricht nun durch spezielle Brain-GymÜbungen den Lernenden Zugang zu den "unzugänglichen", "blockierten" Teilen des Gehirns, so daß das Lernen nun ungestört erfolgen kann. Als wichtige Übungen können dabei die "liegende Acht", die "Denkmütze" und "Überkreuzbewegungen" angesehen werden. Diese Übungen werden durchgeführt, bevor die Kinder an eine gestellte Aufgabe herangehen. Sie sollen die "Integrationsfähigkeit" des Gehirns fördern und auf diese Weise Lernblockaden aufheben oder lindern. Edu-Kinestetik soll Ausgeglichenheit verschaffen, den Menschen vor dem Lernen "anschalten" und dafür sorgen, daß man während des Lernens im Gleichgewicht bleibt (Dennison 1995, S. 157).
Welcher wohl auch dem Laien nachvollziehbare Unsinn in diesem Zusammenhang verbreitet wird, läßt sich aus Fragmenten einer Seminarankündigung entnehmen:
Anatomisch gesehen existieren zwei Hirnhälften und diese weisen auch einige Unterschiede im Hinblick auf funktionelle Aspekte auf. Wichtige Sprachzentren sind in der linken Hirnhälfte lokalisiert, was allerdings nicht bedeutet, dass diese der "Sitz unserer Ratio" wäre und die rechte der unserer Gefühle. Was die Emotionen anbelangt: Das limbische System befindet sich mitten im Gehirn, insofern ist die Aufteilung – Emotion rechts, analytisches Denken links – nicht haltbar. Die Aufteilung von Emotion auf der einen und Ratio bzw. Vernunft auf der anderen Seite ist daher nicht sonderlich tragfähig. Diese Rechts-links-Trennung erscheint eben so einfach, deshalb wird sie seit Jahrzehnten immer wieder hervorgeholt, aber die Hirnforschung ist längst weiter.
Kennzeichnend für Psychotechniken ist auch das Erfinden immer neuer Begriffe, unter denen "derselbe Wein" verkauft wird - so findet man unter dem Titel "LEAP (Learning Enhancement Advanced Program): das Spezialprogramm für Lern- und Teilleistungsstörungen" folgende Charakteristik:
- Weltweit einmaliges Spezialprogramm zur Beseitigung von Lern- und Teilleistungsstörungen (Lesen/Rechtschreiben/ Rechnen/Konzentration) und zur Erweiterung der Lern- und Konzentrationsfähigkeit
- Wirkungsvolle Beseitigung von Legasthenie
- Deutliche Effizienzsteigerung aller Fähigkeiten des Gehirns
- Sondierung des Corpus Callosum
- Auflösen des tiefen Switchings
- Sondierung der Gehirn- und Körperdominanzmuster
- Sondieren von Faktoren, die die interhemisphärische Integration beeinträchtigen
- Sondieren spezifischer Gehirnareale: Hippocampus, Broca-, Wernickezone, ...
- Beurteilung von Umgebungsfaktoren und deren beeinträchtigendem Einfluss auf die Gehirnintegration
- Korrekturen, die die interhemisphärische Kommunikation eröffnen
- Balancierung der Wernicke- und Broca-Funktionen
- Balancierung limbischer Funktionen Lokalisierung von Gestalt- und Logikfunktionen über kinesiologische Verfahren
- Visuelle Integrationverfahren
- Auditive Integrationsverfahren
- Audio-visuelle Integration
- Balancierung vestibulärer Funktionen
- Korrektueren für Alphabet, Verschmelzung und Zahlen
- Balancierung von Augenmuskelfunktionen
- Balancierung des auditiven und visuellen Kurzzeitgedächtnisses
- Farbenblindheit
- Balancieren verschiedener Typen von Lesestörungen
- Leseverständnis
- Rechtschreibprobleme
- Balancierung verschiedenster Probleme mit Mathematik und Rechnen
- Balancierung der Funktionen für die Ausführung verschiedener Leistungen: Bildvervollständigung und Ergänzung, Ordnen nach Ähnlichkeiten, räumliches Arrangieren von Dingen nach bildlicher und/oder verbaler Vorgabe
Diese Fähigkeit ist im Lauf der Evolution wohl einmal auf Lautäußerungen ausgedehnt worden, wobei für die "Umwidmung" des Broca-Zentrums nur einige Fasern auf das motorische Zentrum projiziert werden mußten, das die Muskeln in Mund und Kehlkopf aktiviert. Auch bei heutigen Menschen ist das Broca-Zentrum dann aktiv, wenn sie "nur" gestikulieren oder kompliziertere Werkzeuge benutzen. Die Entwicklung des Broca-Areal als Syntax-Zentrum setzt bei Menschen etwa im Lebensalter von zwei bis zweieinhalb Jahren ein. Auch davor können Kinder schon etliches sagen, aber die Fähigkeit, komplexe, syntaktisch korrekte Sätze zu bilden, entwickelt sich erst danach, wenn auch in rasantem Tempo.
Zum Aufbau des Gehirns und der Funktion der einzelnen Zentren siehe im Detail
- Wie funktioniert unser Gedächtnis?
- Netzwerk Gehirn
- Aufbau des Gehirns
- Rechte versus linke Gehirnhälfte?
- Funktionen des Gehirns
- Inhaltsabhängige Gedächtnisformen
- Speicherabhängige Gedächtnisformen
Wie auch der Laie erkennen kann, handelt es sich um dieselben typischen Irrlehren, Unkenntnisse, Missdeutungen und Vorurteile, auf denen auch die Kinesiologie beruht. Geradezu erheiternd ist das Umsichwerfen mit Bezeichnungen von Gehirnarrealen: Corpus Callosum, Hippocampus, Broca-, Wernickezone.
BTW: auch bei Tieren ist die Kinesiologie anwendbar, allerdings wird der Muskeltest bei Stellvertretern gemacht, was wohl eine Annäherung an Hellinger darstellt ;)
Der Kinderpsychologe Heinz Zangerle glaubt, dass Schulfitness-Angebote aus dem Repertoire der Esoterik im Trend liegen, da sie die schnelle Lösung versprechen: Verbesserung der kindlichen Konzentration durch Bewegung aus der Edu-Kinestik, Legasthenikertherapie durch Bachblüten, Behandlung von Aggressionen mit Qui-Gong und Reduzierung diffuser Ängste mit Aromatherapie. Es liegt am Lehrer, für den Rosenquarz am Schülerpult zu sorgen und die individuell günstigste Mondphase für den Prüfungstermin zu beachten (vgl. Wiese-Gutheil 2002). Klaus Samac konnte in einer österreichischen Studie (1997) empirisch nachweisen, dass Edu-Kinestetik die Schulleistungen nicht fördert, indem er zur Überprüfung der von Kinesiologen behaupteten Hypothese, Edu-Kinestetik fördere Schulleistungen, eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe aus der dritten Schulstufe mit einem standardisierten Schulleistungstest in Mathematik und Deutsch vortestete. Die Stichprobengröße betrug insgesamt 350 Probanden. Ein Brain-Gym-Übungsprogramm wurde in Zusammenarbeit mit einer in Kinesiologie ausgebildeten Ergotherapeutin ausgearbeitet. Mit den Schülerinnen und Schülern der Versuchsgruppe wurden diese Übungen für die Dauer von zehn Wochen durch die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer durchgeführt. Im Anschluss wurden wieder beide Gruppen getestet. Mit Hilfe der multivariaten einfaktoriellen Kovarianzanalyse mit zweifach abgestuftem Faktor konnte ein Einfluss der Edu-Kinestetik in Form von Brain-Gym nicht nachgewiesen werden. Die Versuchs- und die Kontrollgruppe unterschieden sich nicht signifikant voneinander. Ausgehend von der Annahme, es bestehe ein kausal-linearer Zusammenhang zwischen somatischen und psychischen Prozessen, wird der sogenannte Muskeltest verwendet. Über die Spannung des Deltamuskels wird auf die Einstellung des einzelnen geschlossen. Innerhalb weniger Minuten lassen sich so angeblich Störungen und Blockaden feststellen. Mit dem Glaubenssatz "Der Körper lügt nicht" wird der Muskeltest zum Breitband-Diagnostikum.
Allerdings zeigen Studien die Bedeutung der Bewegung für das menschliche Gedächtnis, denn schon 2,5 Stunden Sport pro Woche kann bei älteren Menschen den Gedächtnisverlust deutlich bremsen. Australische ForscherInnen um Nicola Lautenschlager (Universität Melbourne) etwa beobachteten 138 Menschen ab 50 Jahren, die zu Beginn der Studie von Erinnerungsproblemen berichteten. Eine Gruppe dieser Personen betrieb wöchentlich 142 Minuten oder täglich 20 Minuten mehr Sport als die Vergleichsgruppe. Schon nach sechs Monaten zeigte sich ein positiver Effekt.
Andrea Logen, Christiane Fügemann, Wolf-Rüdiger Minsel & Egon Stephan von der Universität zu Köln haben mit einem ABA-Design experimentell überprüft, ob sich psychophysiologische Stressparameter, subjektives Stresserleben, Konzentrationsleistung, Aufgabenbewertung und Stimmung nach der Anwendung von Brain-Gym dahin gehend verändern, dass Stress reduziert und Aufgaben besser und leichter gelöst werden. Als Kontrollbehandlung wurden Umhergehen und leichte Lockerungsübungen durchgeführt. Je 22 Studenten bildeten die Versuchs- und Kontrollgruppe. Für keinen der untersuchten Parameter zeigten sich Effekte, die sich signifikant von den Effekten der Scheinbehandlung unterschieden.
So sollen Brain Gym Übungen es dem Übenden ermöglichen, diejenigen Teile des Gehirns zu aktivieren, die zuvor inaktiv waren. Allerdings gibt es keinen wissenschaftlich haltbaren Beleg dafür, dass irgendein Bereich des Gehirns im Wachzustand inaktiv bleibt, denn selbst im Ruhezustand ist das gesamte Gehirn aktiv. Es gibt auch keinerlei Beweis dafür, dass das in der Kinesiologie propagierte Reiben und Kneten bestimmter Punkte am Körper die Signalübertragung einer Gehirnhälfte zur anderen Körperseite fördert. Das Gehirn erhält dadurch sicher nicht mehr Sauerstoff, sondern diese Fokussierung führt zu eher weniger Sauerstoffzufuhr zum Gehirn. Es wird dadurch auch keinerlei elektromagnetische Energie erzeugt.
Nicole Becker fasst in ihrem Buch “Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik” betont, dass die pädagogische Empfehlungen der Kinesiologie , die sich auf Forschungsergebnisse berufen, übrhaupt keine belegbare wissenschaftliche Quelle haben, sondern in Zitations-Zirkeln auf andere Artikel verweisen, die aber wiederum selbst keine empirische Grundlage haben. Besonders häufig zu finden ist die These, dass durch das Schulsystem die linke, rationale Hirnhälfte permanent überfordert und die rechte Hirnhälfte mit ihren kreativen und emotionalen Fähigkeiten unterfordert wird. Daher werden in der Edu-Kinestetik gymnastische Übungen zur Integration beider Gehirnhälften empfohlen, um dadurch Lernblockaden zu beseitigen. Zwar sind solche Überkreuz-Übungen hinsichtlich der Motorik recht wirksam, aber dass man damit Lernstörungen beheben kann, ist Unsinn. Ein weiterer Mythos betrifft die Theorie der Lernfenster, der sensiblen Phasen, woraus Empfehlungen zur Frühförderung mit klassischer Musik, Englisch-Kurse für Babys abgeleitet werden. Sensible Phasen gibt es bekanntermaßen nur für die sensorischen Fähigkeiten in den ersten Lebensjahren.
Kinesiologischer Muskeltest zur Verträglichkeitsprüfung zahnärztlicher Restaurationswerkstoffe
Es existieren bislang kaum kontrollierten Studien zur retest-Reliabilität der Angewandten Kinesiologie (AK) im Rahmen zahnmedizinischer Fragestellungen. Ziel einer von Hans-Jörg Staehle (Universitätsklinik Heidelberg) durchgeführten randomisierten Doppelblindstudie mit 112 Testpersonen war es, unter Einbeziehung von qualifizierten Anwendern der AK die retest-Reliabilität eines mit diesem Verfahren durchgeführten zahnärztlichen Materialtests zu überprüfen. Dabei wurde der Frage nachgegangen, ob Untersuchungsergebnisse mit Hilfe der AK zu Aussagen über Verträglichkeiten beziehungsweise Unverträglichkeiten gegenüber einem Dentalmaterial geführt haben, auch reproduzierbar sind. Bei dieser Methode soll mittels Muskeltest ermittelt werden, ob jemand allergisch auf bestimmte Stoffe reagiert. Zwei Zahnärzte, die zusätzlich zu ihrer fachmedizinischen Ausbildung über Qualifikationen zur Kinesiologie verfügten, testeten bei den Probanden die Verträglichkeit zweier zahnärztlicher Restaurationswerkstoffe. Nachdem sich 31 Personen als für die Versuche nicht geeignet erwiesen, ermittelten die Zahnärzte in der ersten Testphase 34 Probanden, die die Werkstoffe vertrugen; sieben vertrugen sie nicht. Bei 40 Testpersonen wurde ermittelt, dass sie Präparat I vertrügen, Präparat II jedoch nicht bzw. umgekehrt. Bei der zweiten Gruppe wurde nun in einem zweiten verblindeten Test ermittelt, ob die Tester die gleiche Verträglichkeit/Unverträglichkeit herausfinden konnten wie beim ersten Mal. Ergebnis: Die AK-Diagnosen waren nicht zutreffender, als wenn sie mit einem Würfel ermittelt worden wären. Insegesamt wurde mittels der Kinesiologie eine höhere Unverträglichkeitsrate von Zahnwerkstoffen ermittelt, als sie in der Praxis tatsächlich auftritt.
Quelle: Zahnärztliche Mitteilungen online vom 01.10.2006
http://www.zm-online.de/m5a.htm?/zm/19_06/pages2/zmed1.htm (06-10-17)
Originalarbeit:
Staehle, H.J., Koch, M.J., Pioch, T. (2005). Doubleblind Study on Materials Testing with Applied Kinesiology. J Dent Res 84 (11), 1066-1069.
Ontologische Kinesiologie
Übrigens hat der schottischer Kinesiologe Solihin Thom die Methode der Ontologischen Kinesiologie entwickelt, die nicht mehr auf die Diagnose von Störungen fokussiert, sondern lehrt, die Ursprünge von Symptomen zu erkennen sowie den Sinn von Krankheiten, Schmerzen und Problemen zu verstehen. Ontologie bedeute in diesem Zusammenhang, "sein zu lassen, was ist": "Wenn jemand mit Kopfschmerzen in die Praxis kommt, gilt es zunächst einmal, diese Kopfschmerzen wertzuschätzen, denn Therapie bedeutet das Ignorieren dessen, was der Körper mitteilen will." Beseitigt man ein Symptom, wird der Körper ein stärkeres entwickeln müssen, um "seine Geschichte zu erzählen", d.h. auszudrücken, was ihm fehlt. Die Botschaft dieser Methode ist schlicht: "Prozesse geschehen von selbst, Symptome verschwinden von selbst, der Nutzen tritt von selbst zutage." Eleganter kann man die eigene Überflüssigkeit eigentlich nicht erklären, denn wenn das, worauf es ankommt, von selbst abläuft, dann muss es doch genügen, dem Prozess zu vertrauen ().
Quelle: Trimmel, Roswitha (2009). Zuwendung als Ware.
WWW: http://www.scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2009/07/zuwendung-als-ware.php (09-07-25)
Life Kinetik
Eine neue Spielart der Kinesiologie ist Life Kinetik, wobei diese angeblich den Körper nutzt, um die Reserven des Gehirns zu entfalten. In einer Aussendung heißt es dann: "Durch spaßige und ungewohnte Bewegungsaufgaben wird das Gehirn gezwungen, neue Verbindungen zwischen den Gehirnzellen zu schaffen. Je mehr dieser Verbindungen bestehen, desto höher ist die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Da dieses Training körperlich kaum belastend ist, unterstützt es jeden, egal welchen Alters und Fitnessgrads, bei seiner persönlichen Entwicklung".
Weiterführende Literatur
Schachtsiek, Christine & Kant, Christoph (Hrsg.) (1997). "Eddi fragte mich, ob ich bereit sei für die Befreiung meiner Bahnen". Texte und Materialien zur Diskussion von Edu-Kinestetik und Brain Gym. Berichte zur Sondererziehung und Rehabilitation Nr. 5. Fernuniversität Hagen.
WWW: http://www.uni-koblenz.de/~proedler/res/ata.pdf (02-06-20)
Hund, Wolfgang (1997). Ein merkwürdiges Ei im pädagogischen Nest: Edu-Kinestetik. Bayerische Schule, Heft 4, 36-37.
Hund, Wolfgang (1997). Edu-Kinestetik: Denk-, merk-, frag-würdig?. Kritische Anmerkungen zu einer "neuen Methode". Grundschulmagazin 7-8.
Kierspe-Goldner, Claudia (2001). Erdknöpfe und Denkmützen. Dubiose Angebote auf dem Nachhilfe- und Lernförderungsmarkt. Schulheft, Nr. 103, S. 65-73.
Walbiner, Waltraud (1997). Edu-Kinesiologie. Ein neuer Heilsweg in der Pädagogik? Staatsinstitut
für Schulqualität und Bildungsforschung, München (Arbeitsbericht Nr. 290).
Walker, Barbro (2004). Edu-Kinestetik - Ein pädagogischer Heilsweg? Eine kritische Analyse. Marburg: Tectum-Verlag.
Walker, Barbro (2004). Edu-Kinestetik- ein pädagogischer Heilsweg? Die Deutsche Schule, 4, S. 514-515.
Meidinger, Herrmann (1995). Kinesiologie - Eine neue Therapieform in der Schule? Report Psychologie Heft 10.
WWW: http://www.learn-line.nrw.de/angebote/schulberatung/main/
downloads/meidinger01.pdf (04-11-14)
Die in diesem Sammelband vorgestellten Arbeiten geben einen differenzierten Überblick über die Edu-Kinestetik, wobei die pädagogische Kritik durch Offenlegung des edu-kinestetischen Menschenbildes aufzeigt, daß sich hinter der ganzheitlichen Fassade vom Lernen durch Bewegung ein simplifizierendes, mechanistisches Bild vom Menschen verbirgt.
Breitenbach, Erwin & Keßler, Bernd (1997). Edu-Kinestetik aus empirischer Sicht - eine empirische Überprüfung des Muskeltests. Sonderpädagogik 27 (1), 8-18.
WWW: http://www.uni-wuerzburg.de/gbpaed/mixed/edoz/breitenbach/ed-kinestetik.html (02-10-19)
http://www.uni-koblenz.de/~proedler/res/edukin.pdf (04-06-09)
Logen, Andrea, Fügemann, Christiane, Minsel, Wolf-Rüdiger & Stephan, Egon (2004). Stressreduktion und Leistungsverbesserung - Hält Brain-Gym, was es verspricht?
reportpsychologie 29/10.
In dieser Arbeit wird die inhaltliche Beziehung zwischen Edu-Kinestetik und Lernstörungen aus der Sicht der Edu-Kinestetik erläutert, bisherige empirische Forschungen, die sich mit diesem Zusammenhang auseinandersetzen, werden referiert und kritisch bewertet. Der Muskeltest, eine Grundlage edukinestetischer Förderung wird im Detail beschrieben und im Licht vorliegender empirischer Forschung betrachtet. In einem Doppelblindversuch mit 99 sprach- und lerngestörten Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren wird der Muskeltest anhand zweier Aussagen der Edu-Kinestetik auf seine Verläßlichkeit als Diagnoseinstrument überprüft.
Die "Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V." beschäftigt sich schon seit vielen Jahren in kritischer Weise mit den Auswüchsen der Kinesiologie - auf der dort eingerichteten Webseite "Edu-Kinestetik / Brain-Gym" finden sich weitere Belege dafür, dass man als Psychologe dieser Psychotechnik äußerst kritisch gegenüber stehen muss.
Siehe auch im Überblick die Arbeitsblätter zu den Psychotherapeutischen Schulen und Psychoanalytische Schulen bzw. die "Gebrauchsinformation" zu manchen eher randständigen Theorien aus dem Umkreis der Kommunikationspsychologie.
Quellen und Literatur zu Psychotechnischen Schulen
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