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Gestalttherapie: Fritz Perls

Die unmittelbare Erfahrung sowohl des Klienten als auch des Therapeuten steht in der Gestalttherapie im Mittelpunkt. Deren Ziel ist es, dem Klienten bewusst zu machen, was er tut und wie er handelt und dabei gleichzeitig die Akzeptanz seiner eigenen Persönlichkeit sowie seine Selbstachtung zu stärken. In erster Linie geht es dabei immer um den fortlaufenden Prozeß der Behandlung, weniger um das, was im einzelnen gesagt wurde. Heute wird die Gestalttherapie nicht nur als Form der Psychotherapie genutzt, sondern ebenso im Coaching, in der sozialen Arbeit oder in der Organisationsentwicklung, wobei sich die GestalttherapeutInnen als dialogisches, annehmendes Gegenüber zur Verfügung stellen, sodass die KlientInnen lernen, ihre Selbstgestaltungspotentiale zu entfalten und ihr Leben neu zu entwickeln. Das gilt auch für Sonderformen wie Gestaltberatung, Gestalt-Coaching, Gestalt-Supervision, Gestalt-Organisationsentwicklung oder Gestalt-Unternehmensberatung.

Der Begriff Gestalt kennzeichnet die Konfiguration von Einzelheiten zu einem Ganzen, bei der sich alle einzelnen Teile aufeinander beziehen und gemeinsam eine Struktur oder einen Prozeß ergeben. Für die Persönlichkeit des Individuums bedeutet das, daß jeder Aspekt in seiner Funktion Teil eines Ganzen ist und erst im Zusarnmenhang der gesamten Persönlichkeit in seiner Bedeutung erfasst werden kann. Der Mensch lässt sich damit als eine Gestalt verstehen, die sich aus Teilgestalten zusammensetzt, die miteinander in einer Wechselwirkung stehen. Dieser Gedanke wurde zuerst durch die Gestaltpsychologen Max Wertheimer (1880- 1943) und Kurt Koffka (1886 1941) formuliert, die in ihren Untersuchungen nachweisen konnten, daß der Mensch eine Situation in ihrer Gesamtheit wahrnimmt und nicht als Ansammlung von Einzelheiten. In der Gestalttherapie werden die Gestaltgesetze therapeutisch angewendet sowie für den Einzelfall adaptiert: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; die Teile verleihen dem Ganzen seine Bedeutung; und der Zusammenhang von Figur und Hintergrund.

Begründer der Gestalttherapie ist Friedrich (Frederick) Salomon Perls (1893 1970). Ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern und einige unglückliche Liebesverhältnisse bringen ihn dazu, sich einer Analyse zu unterziehen und dann auch gleich selbst Analytiker zu werden. Sein Wunsch, einmal Sigmund Freud erleben zu dürfen, wird Wirklichkeit, als er im Jahr 1936 einen Analytiker Kongreß besucht. Zu der Zeit ist Freud aber schon ein alter Mann, geschwächt durch endlose Krebsoperationen. Ganze vier Minuten steht er Perls Rede und Antwort, und bei Perls ist die Enttäuschung gross. In seiner Autobiographie (In and out the Garbage Pail, 1969) faßt er seine Gefühle in Worte, und sein erstes wichtiges Buch gerät zu einer Abrechnung mit dem Grossmeister der Psychoanalyse. "Ego Hunger. A Revision of Freud's Theory and Method" 1940) vollzieht dann endgültig den Bruch mit Freud und mit der Psychoanalyse überhaupt. 1947 emigriert Perls nach New York und gründet 1964 das Zentrum für Gestalttherapie in Esalen, das als Ausbildungszentrum für Gestalttherapeuten dient und wo er Workshops und Vorträge hält. Das Ziel der Gestalttherapie ist Bewusstwerdung; der Schwerpunkt liegt auf dem, was unmittelbar erlebt und empfunden werden kann, nicht darauf, was das bedeutet oder was damit vielleicht gemeint sein könnte. Immer steht die Frage im Vordergrund: "Was erlebst du jetzt?" Der Mensch schafft sich selbst immer wieder neu, und er entdeckt sich selbst immer wieder aufs Neue. Er ist auf der Suche nach neuen Horizonten und sieht sich dabei vor neue Herausforderungen und Möglichkeiten gestellt. Der Klient wird in der Therapie immer wieder dazu aufgefordert, mit seinem Verhalten zu experimentieren, um die Erfahrung des konkreten Augenblicks bewusst zu erleben. Die Gestalttherapie interessiert sich nicht dafür, welche biographischen Einzelheiten zu den gegenwärtigen Verhaltensmustern geführt haben, sie ist ganz auf die Gegenwart bezogen. In den Augen Perls entstehen neurotische Symptome aus der Unfähigkeit des Menschen, ein Gleichgewicht zwischen sich und seiner Umgebung herzustellen und zu bewahren. Deshalb lernt er in der Gestalttherapie, sich nach seinen Erfahrungen und Empfindungen zu richten, die er im Augenblick erlebt. Neurose ist nämlich ein Abwehrmechanismus gegen die Bedrohungen der Aussenwelt. 

Die Taktiken der Gestalttherapie entspringen dem grundlegenden Ziel, die Aufmerksamkeit und die Bewußtheit des Patienten wieder zu integrieren und dem weiteren Ziel, seine Problemlösefähigkeit zu entwickeln. Nach Auffassung der Gestalttherapie demonstriert der Patient kontinuierlich seine Vermeidung mit seinem Erleben in bewußtem Kontakt zu stehen. Perls beschreibt die grundlegende therapeutische Strategie, um dieses Vermeidungsverhalten aufzubrechen folgendermaßen: "Deshalb ist das, was ich als Therapeut tue, als Katalysator in zwei Richtungen zu arbeiten: Situationen herstellen, in denen eine Person diese Festgefahrenheit erlebt - die Unbequemlichkeit -, und ich frustriere ihr Vermeidungsverhalten weiter, bis sie bereit ist, ihre eigenen Ressourcen zu mobilisieren".

Es gibt viele spezifische Methoden zur Durchführung der Gestalttherapie. Um die Vielfalt zu kategorisieren, lassen sie sich nach dem Ausmaß einteilen, in dem sie in erster Linie die Erweiterung der Zugänglichkeit des menschlichen Erlebensflusses oder eine Erweiterung des Sinns für das eigene Erleben intendieren. Die ersteren nennt man Bewußtheit-erzeugende Techniken (awareness-generating), die letzteren die Verantwortung-erzeugenden (responsibility-generating) -Techniken. In der Praxis müssen aber beide Ziele kombiniert werden, um die Ziele der Gestalttherapie zu erreichen.

Für Perls bedeutet "Frustration" die unvermeidbare Begleiterscheinung seiner grundlegenden therapeutischen Strategie, dem Patienten nicht aktiv zu helfen. Damit, dem Patienten nicht zu helfen, meint Perls, ihm nicht seine Bedürfnisse zu erfüllen, nicht seine Arbeit für ihn zu tun und nicht die fehlenden Teile des Patienten einzusetzen. Perls will den Patienten seine eigenen Ressourcen spüren lassen. Dies kann seiner Meinung nach nur geschehen, wenn der Therapeut dem Patienten nicht Dinge abnimmt, die er selber leisten kann. Diese mangelnde Bereitschaft des Therapeuten, den Patienten zu führen, wird unvermeidlich vom Patienten als Frustration erlebt.

Gestalttherapeutischen Übungen und Vorgehensweisen finden sich eklektisch in verschiedenen anderen psychotherapeutischen Verfahren wieder. wobei es immer gilt, als ganzheitliches, wachstumsorientiertes Therapieverfahren gemeinsam mit den Klienten Fehlanpassungen aufspüren und zu versuchen, die Selbstgestaltungspotentiale zu entfalten. Die Gestalttherapie stellt nicht wie etwa analytische Verfahren die Suche nach der Ursache eines Handelns in den Vordergrund, sondern wie viele psychotherapeutische Richtungen die Arbeit im Hier und Jetzt. Der Therapeut zentriert die Aufmerksamkeit auf aktuelle Prozesse, was im Augenblick körperlich gespürt, gedacht oder gefühlt wird, was als der entscheidende Faktor von Veränderungs- und Wachstumsprozessen gesehen wird. Eine typische Übung ist etwa

Der leere Stuhl

Bei dieser Technik der Gestalttherapie wird ein leerer, also unbesetzter Stuhl oder ein ähnliches Requisit verwendet. Der leere Stuhl dient als Projektionsfläche und Platzhalter für Bezugspersonen, die für die KlientInnen im Zusammenhang mit einem bestimmten Thema bedeutsam, aber abwesend sind, oder für einen Persönlichkeitsanteil de KlientInnen, oder ein Gefühl usw. Bei dieser Phantasiegesprächtechnik wird der Klient aufgefordert, sich vorzustellen, dass die abwesende Bezugsperson, oder etwa ein bestimmtes Gefühl auf dem leeren Stuhl säße, um dann mit ihr oder ihm einen Dialog zu entwickeln. Der leere Stuhl kann auch als räumliche Markierung für bestimmte Seiten der eigenen Person, mit denen sich der Klient beschäftigt, dienen. Dabei wird der Klient eingeladen, in einen laut ausgesprochenen Dialog einzutreten, wie er zwischen widersprüchlichen Seiten seines Selbst ohnehin schon in Gedanken stattfindet. Mit dem Wechsel von Rede und Gegenrede können die TherapeutInnen ihre Klienten dazu auffordern auch ihren äußeren Platz aktiv zu wechseln und sich jeweils auf den Stuhl zu setzen, auf dem die aktive Seite situativ verankert ist. "Was empfindest du? Bleibe dabei. Erlebe es!" Solche Aufforderungen wird der Klient von seinem Therapeuten zu hören bekommen. Er soll auf diese Art dazu ermutigt werden, seine Gefühle festzuhalten, wahrzunehmen, sie intensiv zu durchleben und sich ihrer dann bewusst zu werden. Auf diese Art bekommt er einen Zugriff auf seine Ängste und die lähmenden Gefühle der Ohnmacht und Unzulänglichkeit.

Dieser leere Stuhl hat die Aufgabe, die Rollen, die wir aus uns selbst verstossen haben und andere Menschen, die wir brauchen, um unseren Lebenstext verstehen zu können, zu vergegenwärtigen. In der Vorstellung nimmt jener andere dort Platz, auf den sich der Klient in der Therapie bezieht oder den er anders nicht erreichen kann. Manchmal bekommt der Klient auch den Auftrag, sich mit diesem anderen zu identifizieren, in diesem Fall tauscht er mit der vorgestellten Person den Platz und setzt sich selbst auf den leeren Stuhl, damit er sich besser in die abwesende Person hineinversetzen kann, um zu erfahren, wie der andere eine Situation erlebt. Die Aufträge, die der Klient während der Sitzungen bekommt, können auch als Hausaufgaben aufgegeben werden. Damit kann der Klient die neu gewonnenen Erfahrungen im häuslichen Rahmen erproben. Aber auch hier steht das unmittelbare Erleben, nicht die Reflexion im Vordergrund. 

 

 

Quelle
https://www.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIE/PARADIGMA/240GestaltGanzheitFeld.PDF (04-02-02)

Überblick über einige Psychotherapierichtungen und -schulen



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