Handlungsforschung
In der Handlungsforschung sind jene Menschen und Menschengruppen, welche von den Wissenschaftlern untersucht werden, nicht mehr bloße Informationsquelle des Forschers, sondern Individuen, mit denen sich der Forscher gemeinsam auf den Weg der Erkenntnis zu machen versucht.
Kurt LewinIn der wissenschaftlichen und fachdidaktischen pädagogischen Literatur werden für die Lehreraus- und -fortbildung zunehmend autonome, selbstgesteuerte und selbstreflexive Formen wie gerade die Aktionsforschung gefordert. Dabei verändert sich auch die Sicht auf das berufliche Selbstverständnis der LehrerInnen als ForscherInnen.
Handlungsforschung ist ein Ansatz empirischer Forschung, der in den Human- und Sozialwissenschaften und in Abgrenzung zur traditionellen Empirie - insbesondere der strengen experimentellen Forschung - entwickelt wurde. Handlungsforschung unterscheidet sich also deutlich von anderen Wissenschaftskonzepten. Die Grenzlinie verläuft zwischen dem kritisch-rationalen Ansatz und dem emanzipatorischen Ansatz der Kritischen Theorie. Drei wesentliche Merkmale (Prämissen) kennzeichnen diese Abgrenzung:
- Sozialwissenschaftliche Forschung kann nicht wertfrei betrieben werden, d.h., der Forscher ist kein außenstehender objektiver Beobachter, sondern greift parteilich in den Forschungsprozeß ein.
- Forschung ist ein gegenseitiger Lernprozeß, der sowohl den Forscher als auch den Untersuchten miteinbezieht.
- Sozialwissenschaftliche Forschung weist einen engen Praxisbezug auf, wobei gemeinsam Forscher und Untersuchter gesellschaftliche und soziale Probleme lösen.
Diese Prämissen fordern eine grundlegende Neubestimmung des sozial- und humanwissenschaftlichen Gegenstandes (Inhalt), und damit auch eine von diesem jeweiligen Gegenstand abhängige Konzeption der Methoden. Zentral für die bisherigen Umsetzungen dieses neuen Forschungskonzeptes ist der emanzipatorische Charakter des Forschungsprozesses.
Die französische Sichtweise der Aktionsforschung ("recherche-action") geht zwar wie die traditionelle Aktionsforschung davon aus, daß die Personen, die in einem bestimmten "Feld" arbeiten, dieses Praxisfeld auch selber erforschen, der Anstoß für das Forschungsprojekt geht aber nicht von der Wissenschaft aus, sondern von den betroffenen Personen, die in diesem Feld leben und arbeiten. Meist soll ein solches Forschungsprojekt dazu führen, die Situation für die Initiatoren zu verbessern. Damit werden die betroffenen Personen auch nicht zu Objekten der Forschung, sondern sie werden zu Forscherinnen und Forschern.
Handlungsforschung in der Erziehungswissenschaft
Die heute in der Erziehungswissenschaft gebräuchlichen Begriffe Handlungs-, Aktions- und Tatforschung sind synonyme Übersetzungen des Begriffes "action research", den Kurt Lewin geprägt hat. Er wollte - kommend von der experimentellen Sozialpsychologie - eine Wissenschaft begründen, deren Forschungsergebnisse unmittelbar Nutzen für Pädagogen, Sozialarbeiter etc. haben konnten. Lewin wollte praxisnahe Hypothesen aufstellen und entsprechend diesen Hypothesen sinnvolle Veränderungen im sozialen Feld (social change) durchführen und dann in längerfristigen Studien die Auswirkungen dieser Veränderungen kontrollieren. Dieser von Lewin vorgestellte Ansatz wurde erst Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vor allem von Pädagogen und Soziologen aufgegriffen und als Möglichkeit verstanden, um aus der Misere des neopositivistischen Paradigmas herauszukommen.
Die grundlegende Kennzeichen einer sich so verstehenden Handlungsforschung sind:
- Die Problemauswahl und -definition geschieht nicht vorrangig aus dem Kontext wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern entsprechend konkreten gesellschaftlichen Bedürfnissen.
- Das Forschungsziel besteht nicht ausschließlich darin, theoretische Aussagen zu überprüfen oder zu gewinnen, sondern darin, gleichzeitig praktisch verändernd in gesellschaftliche Zusammenhänge einzugreifen.
- Die als Problem aufgenommene soziale Situation wird als Gesamtheit - als soziales Feld - angesehen, aus der nicht aufgrund forschungsimmanenter Überlegungen einzelne Variablen isoliert werden können.
- Die praktischen und theoretischen Ansprüche des action research verlangen vom Forscher eine zumindest vorübergehende Aufgabe der grundsätzlichen Distanz zum Forschungsobjekt zugunsten einer bewußt einzunehmenden Haltung, die von teilnehmender Beobachtung bis zur aktiven Interaktion mit den Beteiligten reicht.
- entsprechend soll sich auch die Rolle der Befragten und Beobachteten verändern und ihr momentanes Selbstverständnis so festgelegt werden, daß sie zu Subjekten im Gesamtprozeß werden.
Insbesondere die Kritische Erziehungswissenschaft war mit dem Problem konfrontiert, ihre Kritik im pädagogischen Alltag umzusetzen. Kritische Theorie wollte zur Verbesserung der Lebenswirklichkeit beitragen. Als Lösungsmöglichkeit wurde dazu das Konzept der "Handlungsforschung" ausgearbeitet. Das Forschen sollte mit praktischem Handeln einhergehen und so in Kooperation mit dem PädagogInnen zu Reformen und zu Verbesserungen der Praxis führen. In dem Augenblick, in dem man die Praxis absichtlich verändert, wird empirisch-analytische Forschung sinnlos, weil sie nur Daten einer singulären Veränderung erheben würde und keine generalisierbaren Aussagen mehr möglich wären. Umgekehrt wäre eine Handlungsforschung sinnlos, die das Bestehende analysiert, ohne es verbessern zu wollen.
Anlaß für die Entwicklung des Konzepts Handlungsforschung war u.a. auch die Bildungsreform in den 70er Jahren, die für die ErziehungswissenschaftlerInnen neben der Praxisberatung und gutachterlichen Tätigkeiten weitergehende Möglichkeiten des Engagements bot. Im Rahmen von Modellversuchen und Innovationsprojekten in fast allen Feldern pädagogischen Handelns engagierten sich ForscherInnen in der Praxis, um Handeln, Forschung und Lernen in einem Gesamtprozeß zusammenzubringen. Ziel der Forschung sollte auch sein, eine Reflexion, die den festgefahrenen pädagogischen Alltag und die negativen Gewohnheiten verändern und damit Lernprozesse initiieren konnte. Dies sollte zusammen mit den von der Forschung Betroffenen und in deren Interesse erfolgen; sie sollten zu Beteiligten werden. Angestrebt wurde also eine Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und Theorie auf der einen, mit problematischer, lernbedürftiger Alltagspraxis auf der anderen Seite. Praktischer Diskurs und Kritik des Alltagsbewußtseins waren die Methoden, die zum Erlernen neuer und besserer Praxis führen sollten.
Stangl, Werner (2000). Handlungs- oder Aktionsforschung.
WWW: https://www.stangl-taller.at/
TESTEXPERIMENT/
experimentaktionsforschung.html
(03-03-10)
Methodologie der Handlungsforschung
Die Diskussion um die Methodologie der Handlungsforschung ist gekennzeichnet durch folgende Schwerpunkte:
- Traditionelle Kriterien der empirischen Forschung (Intersubjektivität, Bedingungskontrolle, Reproduzierbarkeit, Repräsentativität, Unabhängigkeit) werden in Frage gestellt, wobei die Definition neuer Kriterien noch aussteht.
- Die Entwicklung eines einheitlichen methodischen Konzeptes steht noch aus bzw. ist zu prüfen, ob unter diesem Paradigma ein solches überhaupt entwickelt werden kann.
- Es existiert noch kein gesellschafts- oder wissenschaftstheoretisches Forschungskonzept, das Richtlinien für die Bestimmung der Struktur des Gegenstandes und des Erkenntnis- und Wissenschaftsprozesses bereithält.
Folgende Perspektiven können für die Entwicklung der Handlungsforschung derzeit abgeleitet werden:
- Die Einheit von Forschung und Entwicklung liegt darin begründet, daß soziale Probleme auftauchen, für die Lösungsstrategien gesucht werden müssen (Innovationsforschung). Die Forscher werden dabei selbst zu im Feld handelnden Akteuren, wobei sie verändernd in die sozialen Prozesse eingreifen.
- Die Komplexität und Prozeßhaftigkeit des sozialen Geschehens wird durch die Untersuchung in realen Sozialzusammenhängen (Feldforschung) berücksichtigt. Daraus ergibt sich aber das grundlegende Dilemma, daß bisher noch keine adäquaten Methoden entwickelt werden konnten, die dem Gegenstand adäquat sind.
Eine Neubestimmung der Beziehung Forscher-Untersuchte ist notwendig, indem ein gleichberechtigter kooperativer Kommunikations- und Handlungszusammenhang hergestellt wird.
Handlungsforschung in der Schule
Der forschende Lehrer durchläuft mehrere Zyklen der Erkenntnisgewinnung und Handlungsverbesserung: Identifizierung eines Problems, Untersuchung der Situation, Entwicklung von Handlungsstrategien, Beobachtung, Reflexion der Realisierung, Vergleich mit Perspektiven anderer Betroffener, Neuformulierung des Problems und Entwicklung neuer Strategien.
Wissenschaftler können diesen Vorgang des "praktischen Theoretisierens" durch Beratung und Analyse unterstützen. Die Aktionsforschungsergebnisse sind nicht im üblichen Sinne (mit Hilfe statistischer Verfahren) verallgemeinerbar. Eine "naturalistische Verallgemeinerung" ist möglich, indem der Leser einer Studie den Fall auf seine eigene Situation bezieht und selbst die Gültigkeit der Aussagen für seinen Fall beurteilt, bzw. "quer durch die Fälle" den Vergleich mehrerer Studien anstellt.
Handlungsforschung in der Psychologie
In der Psychologie gibt es bisher nur wenige überzeugende Versuche, das Paradigma der Handlungsforschung forschungsleitend umzusetzen. Am ehesten können der Ansatz der Ethnomethodologie (Cicourel), das Konzept des symbolischen Interaktionismus (Mead) und einzelne kommunikationstheoretische (insbesondere therapeutisch orientierte) Richtungen als erste Versuche in dieser Richtung bewertet werden.
Die Bedeutung der Handlungsforschung für die Psychologie liegt vor allem in den Perspektiven, die sie eröffnet. Die Bestimmung des Stellenwertes künftiger human- und sozialwissenschaftlicher Forschung für eine Gesellschaft - vor allem angesichts immer knapperer Ressourcen in diesem Bereich - ist meines Erachtens von zentraler Bedeutung. Eine Rechtfertigung für Wissenschaft bzw. wissenschaftliches Handeln führt letztendlich zu einem Nachweis der Existenzberechtigung des Wissenschaftlers bzw. der Notwendigkeit seines Handelns. Dazu vermag die Handlungsforschung einen essentiellen Beitrag zu leisten. Grafisch läßt sich der Prozeß der Handlungsforschung - und damit wissenschaftlichen Handelns - wie folgt veranschaulichen.
In Thesenform seien daher einige Aspekte zusammenfassend wiederholt, wobei diese Punkte eine Abgrenzung zu herkömmlichen Forschungspraxis darstellen:
Handlungsforschung ist dialogisch.
Handlungsforschung ist emanzipatorisch.
Handlungsforschung ist demokratisch.
Handlungsforschung hilft bei der Lösung von Konflikten.
Handlungsforschung wirkt verändernd.
Handlungsforschung betont die Emotionalität des Menschen.
Handlungsforschung setzt neue Impulse für wissenschaftliches Handeln.
Handlungsforschung ist dynamisch.
Handlungsforschung steht im gesamtgesellschaftlichen Kontext.
Handlungsforschung berücksichtigt den Menschen.
Handlungsforschung baut Macht ab.
Handlungsforschung reduziert Ängste.
Handlungsforschung ist idiographisch.
Handlungsforschung verbindet Alltags- und wissenschaftliches Wissen.
Die Grundsätze der Action-Research
- Der Forscher
Die Forscher nehmen nicht notwendig die Rolle von neutralen, distanzierten Beobachtern ein. - Die Forschungs-Objekte
Die Untersuchten sind "betroffene Subjekte. - Die Methoden
Die Methoden müssen ihrem Forschungsgegenstand angemessen sein. - Die Planung
Betroffene sind bei der Planung von Projekten zu beteiligen. Ihre Bedürfnisse und Fragestellungen finden Einzug in das Forschungsdesign - Der Projektablauf
Die wiederholte Rückkopplung von (Zwischen-)Ergebnissen an die TeilnehmerInnen/Betroffenen schafft eine "zyklische Verlaufsform": dies ermöglicht eine Ändrung bzw. Anpassung des Projektplans. - Die Auswertung
Die Auswertung bezieht sich nicht primär auf die Verifikation oder Falsifikation einer zuvor aufgestellten Untersuchungshypothese, sondern auf die Analyse des gesamten Forschungsablaufs und seiner Interaktionen. - Die Hypothesen
Hypothesen und Fragestellungen dienen primär der Erforschung von Sachverhalten in sozialen und erzieherischen Feldern (und nicht bloß der Überprüfung von Forschungshypothesen). - Das Untersuchungsfeld
Die Handlungsforschung untersucht Handlungen, Vorgänge oder Sachverhalte in sozialen oder erzieherischen Feldern. - Die Interaktionsformen
Die Formen der Interaktion, die im Untersuchungsfeld zwischen den Forschern und den Teilnehmern ablaufen, sind konstitutiv für den Verlauf des Forschungsprozesses im Feld sowie für die beabsichtigten Veränderungen oder Verbesserungen im Feld. - Gütekriterien
Die Gütekriterien sind neu zu formulieren: Ziel des Forschungsprozesses ist nicht die Generalisierbarkeit der Ergebnisse, sondern ihre Realitätshaltigkeit und ihre Praxisrelevanz. Die neuen Gütekriterien lauten: Realitätshaltigkeit, Transparenz, Praxisrelevanz und Interaktion. - Die zyklische Verlaufsform
Durch die Beteiligung der Betroffenen im Feld und das (ständige feed-back von (Zwischen-)Ergebnissen in das Feld ergibt sich eine zyklische Verlaufsform: Planung - Handlung - Auswertung - Planung ...
Die Formulierung von Forschungsfragen im qualitativen Design
Ein Untersuchungsplan qualitativer Forschung legt das Untersuchungsziel und den Ablauf fest und beinhaltet als Rahmenbedingung die Regeln, die die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Proband und Forscher wesentlich bestimmen.
Die Einzelfallanalyse
Während des gesamten Analyseprozesses soll der Rückgriff auf den Fall in seiner Ganzheit und Komplexität erhalten bleiben, um so zu genaueren und weniger oberflächlichen Ergebnissen zu gelangen (bspw. Beichten, Memoiren, Tagebücher, Nachrufe etc.). Zentrale Punkte der Einzelfallanalyse (= Vorgehensweise) sind:
- Formulierung der Fragestellung: Was soll mit der Fallanalyse bezweckt werden?
- Falldefinition: Was soll als Fall gelten? Extremfälle, Idealtypen, häufige oder besonders seltene Fälle, Grenzfälle, theoretisch interessante Fälle …
- Bestimmung der spezifischen Methoden.
- Materialsammlung: Tonband, Video, Fallprotokolle sowie Kommentierung des Materials (Kontextbindung der Erhebung, besondere Eindrücke etc.).
- Auswertung des Materials: Interpretation anhand bestimmter Auswertungsmethoden.
- Einordnung des Falles in einen größeren Zusammenhang. Vergleich mit anderen Fällen, um die Gültigkeit der Ergebnisse abschätzen zu können (Cross-Case-Analysis).
Die Fragestellung stellt die erste Reduktion der Vielfalt und eine erste Strukturierung des Feldes dar: es werden bestimmte Aspekte in den Vordergrund gestellt, während andere Aspekte ausgeschlossen oder in den Hintergrund gerückt werden. Die Forschungsfrage soll daher
- "generativ" sein, d.h. einen interessanten und relevanten Zugang zum Feld eröffnen,
- klar abgegrenzt sein (nicht implizit eine Vielzahl anderer Fragen aufwerfen),
- im Rahmen der vorhandenen Ressourcen beantwortbar, d.h. realistisch sein,
- genuin qualitative Fragestellungen können nicht mit ja/nein beantwortet werden! (Frage nach Mustern, Typen, etc.)
Der Weg zur Forschungsfrage
- Formulierung der Grundfragestellung (Thema)
- Formulierung spezifischer Teilfragen (welche Aspekte interessieren mich genau an dem Thema?)
- Formulierung und Definition so genannter "sensibilisierender Konzepte" (Schlüsselkonzepte), die für die Fragestellung relevant sind.
Sensibilisierende Konzepte sind theoretische Konzepte, die für das sensibel machen, wonach man sucht, worauf man achten muss, wonach man fragen muss. Sensibilisierende Konzepte unterscheiden sich durch ihre Offenheit von Hypothesen, haben aber eine ähnliche Funktion im Forschungsprozess, nämlich die Strukturierung der Untersuchung und die Fokussierung der Aufmerksamkeit des Forschers.
Zur Suche nach sensibilisierenden Konzepten sind Vorkenntnisse eine Voraussetzung für "intelligente Fragen", eine größere Aufmerksamkeitsreichweite werden durch Vorwissen/Kategorien und persönliches bzw. analytisches Vorwissen aus der Fachliteratur zur Generierung sensibilisierender Konzepte erreicht.
Literatur
Flick, U. (1991). Stationen des qualitativen Forschungsprozesses. In Flick, U., v. Kardorff, E., Keupp, H., v. Rosenstiel, L. & Wolff, S. (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung (S. 147-173). München.
Quelle:Heinrich, Martin (2005). Merkblatt: Formulierung von Forschungsfragen. Universität Linz: PPP der jku.
Kritik an der Handlungsforschung in der Erziehungswissenschaft
Durch den Ausschluß der empirisch-analytische Forschung stellt sich die Frage, ob es sich tatsächlich um ein wissenschaftliches Forschungskonzept im engeren Sinne handelt. Hier könnten Zweifel angebracht sein. Eine mögliche Kritik würde also in die Richtung gehen, daß pädagogische Fortbildung in Forschung umdefiniert wurde.
Für die universitäre Forschung ergibt sich das gravierende Problem, daß die ForscherInnen nun auch - wie die PraktikerInnen - den vielfältigen Handlungsverpflichtungen der Praxis ausgesetzt sind. Die pädagogische Komponente schwingt so im Prozeß der Handlungsforschung immer mit. Damit verzichtet die Handlungsforschung auf ein Strukturmerkmal wissenschaftlichen Handelns, nämlich auf die Entlastung vom alltäglichen Handlungsdruck in der Praxis. Darin liegt eine Tendenz zur Deprofessionalisierung der Wissenschaft.
Fundierte wissenschaftliche Aussagen erfordern einen hohen Zeitaufwand und beschränken sich oft auf Spezialprobleme. Ob und in welcher Weise das Forschungswissen praktisch genutzt werden kann, ist dabei meist noch ungeklärt. In der Praxis dagegen muß gehandelt werden. Hier geht es nicht um ausführliche Begründungen, sondern meist nur um sichere Orientierungen, Zweckmäßigkeit und Erfolg. Man kann fragen, ob ein so hoher Aufwand bei ungewissem Erfolg und unklaren Anwendungsperspektiven überhaupt zu rechtfertigen ist.
Diese klassischen Strukturen wissenschaftlichen Handelns werden bei der Handlungsforschung teilweise außer Kraft gesetzt - insbesondere die Minimierung von Handlungs- und Entscheidungszwängen. Das kann nicht ohne Wirkung bleiben, weil in der Handlungsforschung tendenziell widersprüchliche Intentionen verfolgt werden - wissenschaftliches Handeln und praktisch-pädagogisches Handeln streben offensichtlich nicht die gleichen Ziele an. Die Absicht, wissenschaftlich zu handeln bei gleichzeitigem Verzicht auf ein Strukturelement wissenschaftlicher Tätigkeit, führte auch tatsächlich zu erheblichen Problemen. Im Namen der Wissenschaft sollten unter Handlungsdruck praktische Entscheidungsprobleme gelöst werden. Oft zeigte sich aber, daß das Angebot der Wissenschaft entweder falsch oder nur eine unter vielen möglichen 'richtigen' Lösungen war. Rationalität ist oft erst retrospektiv als solche erkennbar. Letztlich hat die Zukunft über die Güte der Entscheidung zu urteilen - wenn auch vernünftig begründete Prognosen als Entscheidungshilfen zweckmäßig sind.
Ein Strukturproblem von Handlungsforschung liegt in den Folgen des Wissensvorsprungs der ForscherInnen bezüglich des wissenschaftlichen Wissens und der Vermittlung dieses Wissens mit dem praktischen Wissen der PädagogInnen. Der Diskurs der Wissenschaft ist ein grundlegend anderer als der Diskurs der pädagogischen Praxis. Diese pragmatisch wichtige Differenz zwischen wissenschaftlichem Diskurs und pädagogischen Formen des Umgangs ist an keiner Stelle in der Theorie der Handlungsforschung systematisch dargestellt oder berücksichtigt worden.
- So folgt der wissenschaftliche Diskurs den tradierten Prämissen der Wahrheitsfindung. Diese Prämissen sind von den Wissenschaftlern in langen Auseinandersetzungen immer wieder diskutiert und verändert worden. Es haben sich etablierte Muster der Forschung herausgebildet (Forschungsmethoden, Hypothesen, Theorien, Wege der Datenerhebung etc.).
- Im pädagogischen Umgang hingegen geht es um die Anknüpfung an vorhandenes Wissen sowie an bestehende Kompetenzen und Einstellungen bei den AdressatInnen, die sich durch Lernprozesse in eine gewünschte Richtung verändern sollen. Neues, vorher festgelegtes Wissen oder Können wird den Lernenden so vermittelt, daß sie ihre Kompetenzen erweitern können. Der Aspekt der Vermittlung steht im Zentrum. Im pädagogischen Handlungszusammenhang gibt es also eine bestimmte Zielvorstellung, ein Wissen oder Können, das didaktisch (also mit Rücksicht auf die Lernenden, ihren Entwicklungsstand und ihr Vorwissen) vermittelt wird. Dies ist bei einem der Partner vorhanden (den PädagogInnen) und bei den anderen (AdressatInnen) nicht.
- Im wissenschaftlichen Diskurs muß demgegenüber das Ziel - die Erkenntnis - jeweils von allen DiskursteilnehmerInnen erst noch gesucht werden; nur das Kriterium des Diskurses (also die Wahrheit der zu begründenden Aussagen in Beziehung zu einer definierten Methode) ist bekannt.
Handlungsforschung wäre dann als sinnvolles Forschungs- und Innovationskonzept denkbar, wenn die Phasen von Forschung und Deutung auf der einen und Innovation und Versuchshandelns auf der anderen getrennt gehalten würden.
Die weitere Entwicklung der Erziehungswissenschaft hat aber gezeigt, daß sich das Konzept Handlungsforschung nicht auf Dauer etablieren konnte. Ende der 70er, spätestens Anfang der 80er Jahre war das Konzept als Methode und disziplininternes Streitthema (und wohl auch als Modeerscheinung) veraltet.
Im Detail: Koring, Bernhard: Handlungsforschung in der Erziehungswissenschaft.Quellen
Stigler, Hubert (1996). Methodologie. Vorlesungsskriptum. Universität Graz.
WWW: http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/edu/studium/
materialien/meth.doc (98-01-03)
Stangl, Werner (1997). Zur Wissenschaftsmethodik in der Erziehungswissenschaft. "Werner Stangls Arbeitsblätter".
WWW: http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/
ARBEITSBLAETTERORD/Arbeitsblaetter.html
Koring, Bernhard (o.J.). Lerneinheit 6. Handlungsforschung in der Erziehungswissenschaft.
WWW: http://www-user.tu-chemnitz.de/~koring/
virtsem1/kapit6.htm (01-09-01)
Inhaltsübersicht Forschungsmethoden der Psychologie und Pädagogik
- Grundbegriffe des Empirismus
- Grundlagen empirischer Sozialforschung
- Messung als Modellbildung
- Gütekriterien für Wissenschaft und wissenschaftliche Forschungsarbeiten
- Gütekriterien empirischer Forschung
- Gütekriterien qualitativer Forschung
- Forschungsplanung
- Detailschema für die Projektierung einer empirische Untersuchung
- Die Beobachtung
- Das Experiment
- Der psychologische Test
- Soziometrie
- Inhaltsanalyse
- Der Fragebogen
- Das Interview
- Das standardisierte Interview
- Narratives Interview
- Die Gruppendiskussion
- Stichproben
- Einzelfallforschung
- Handlungsforschung
- Was ist Kausalität?
- Werner Stangl: Test und Experiment in der Psychologie
- Literatur und Quellen
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