Theorien zum Erwerb und den Ursachen aggressiven Verhaltens
Wer die Hand als Erster zum Schlag erhebt,
gibt zu, dass ihm die Ideen ausgegangen sind.
Franklin D. Roosevelt
Es lassen sich grundsätzlich zwei Formen der Aggression (vgl. Boppel 2002) unterscheiden:
- Die Selbsterhaltungsaggression betrifft angeborene Verhaltensweisen, wie sie sich durch Selektion und Mutation in der Evolution herausgebildet haben. Sie dienen der Selbst- und Revierverteidigung, der Fortpflanzung, der Nahrungsaufnahme, der Lust-Freude-Beschaffung, der Ermittlung der Rangposition und der eigenen Grenzen sowie dem Erreichen und Erhalten von Sicherheit, Selbstwertgefühl und des Selbststolzes (sog. gesunder Narzissmus). Diese Form der Aggression dient im evolutiven Prozess dazu, die Lebensressourcen zu erhalten und zu erweitern.
- Die destruktive Aggression dagegen betrifft schädigendes Verhalten mit dem Zweck, durch Leidzufügung materiellen Gewinn, soziale Anerkennung und Macht, innere Befriedigung oder Stimulation zu erzielen. Dabei wird langfristig ein evolutiver Sinn nicht erkennbar, im Gegenteil: Erhaltenswerte und lebenswichtige Ressourcen werden vernichtet, soziale Probleme werden nicht nur nicht gelöst, vielmehr werden Gewalt-Gegengewalt-Zirkelprozesse ausgelöst. Solchen destruktiven Prozessen stehen normalerweise innerartliche Tötungshemmungen, evolutiv herausgebildete Altruismusmechanismen, Empathie, kulturelle Mechanismen (wie Moral und Gewissensbildung) sowie günstige Sozialisationsbedingungen entgegen, die allerdings unter definierten Bedingungen außer Kraft gesetzt werden können.
Es gibt heute in der wissenschaftlichen Psychologie nicht eine Aggressionstheorie, da die wesentlichsten Ansätze in ihrer ursprünglichen Form nie alle einschlägigen Verhaltensweisen erklären können. Dieses Faktum hat zu Weiterentwicklungen und zu komplexeren Theorien geführt, die sich dadurch auszeichnen, dass sieein kompliziertes Aggressionsgeschehen zugrunde legen und stets mehrere Wirkungsfaktoren berücksichtigen, wobei sie die Beziehung dieser einzelnen Faktoren zueinander zu klären versuchen. So sieht etwa der motivationspsychologische Ansatz nach Kornadt (1982) Aggression als eine in der Person angelegte Disposition an und das Aggressionsmotiv selber aber nicht als festgelegtes Verhaltensprogramm. Unterschieden werden dabei zwei Motivkomponenten der Aggression: das dispositionell angelegte Motiv zur Aggression und das entgegen gerichtete Motiv der Aggressionshemmung, das in der Erziehung, sowie in der Interaktion mit der Umwelt vermittelt wird. Die Fähigkeit zum empathischen Miterleben, initialisierte Normen und Werte, Einstellungen oder die Furcht vor Bestrafungen können somit das Auftreten aggressiver Verhaltensweisen beeinflussen. Die Stärke des Aggressionsmotivs variiert und hängt wesentlich von den Erfahrungen im Laufe der Entwicklung ab, die in der Interaktion mit der Umwelt (Familie, Freunde, Gesellschaft) gemacht werden.
Kleiner Exkurs zum Gewaltbegriff
Derjenige, der zum erstenmal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte,
war der Begründer der Zivilisation.
Sigmund Freud
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Gewaltbegriff meist nur im Zusammenhang mit der offen und sichtbaren physischen Gewalt benutzt, wobei Formen der Gewalt, die nicht physischer Natur sind, ausgeschlossen bleiben. Jedoch ist die Ausgrenzung der psychischen Gewalt nicht gerechtfertigt, da deren Wirkung oft schwerwiegend und psychische Gewalt häufig mit physischer Gewalt verbunden ist. Beide Formen der Gewalt haben Folgen im seelischen Bereich. Diskriminierungen, Drohungen sowie Hierarchien können ähnliche, manchmal sogar schwerwiegendere psychische Folgen für eine Person haben als körperliche Gewalt. Häufig treten Bedeutungsüberschneidungen mit den Begriffen Macht, Herrschaft und Autorität auf. Der Begriff der strukturellen (indirekten) Gewalt geht auf Johann Galtung zurück, der zwischen manifester, latenter, intendierter, nicht - intendierter, struktureller und personaler Gewalt unterscheidet. Die strukturelle und personale Gewalt können sich durch psychische, physische, objektbezogene und objektlose Gewaltausführungen äußern, dabei kann die Intention eine positive oder negative Einflußnahme sein. Bei der direkt und personal bezeichneten Gewalt gibt es einen Akteur und das Objekt der Gewalt nimmt diese normalerweise auch wahr. Die indirekte, strukturelle Gewalt wird vom Objekt dagegen nur schwer wahrgenommen, da es bei dieser keinen Akteur gibt, sondern die Gewalt in das System von repressiven Strukturen eingebaut ist. Sie äußert sich durch ungleiche Macht- und Lebenverhältnisse. (vgl. Galtung, 1975, S. 12). Gewalt ist nach Galtung (1975, S. 9) jener Faktor, der eine mögliche Selbstverwirklichung verhindert und dann vorliegt, "wenn Menschen so beeinflußt werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre aktuelle potentielle Verwirklichung."
Dollard, Doob, Miller, Mowrer & Sears (1939) definieren Aggression "als eine Handlung, deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus (oder Organismus-Ersatzes) ist". "Aggression" meint daher immer ein Verhalten, kein Motiv und keinen aggressionsaffinen Affekt wie Ärger, Wut oder Hass. Die "Gerichtetheit" in der Definition verhindert, dass zufälliges Schädigen als Aggression gilt. Auch die "Absicht" kann nicht als Kriterium gelten, da sonst z.B. Tiere, Kinder und Absichten leugnende Straftäter aus der Aggressionsforschung ausgeschlossen werden müssten. Vandalismus und Umweltverschmutzung können hingegen zu den Aggressionen gerechnet werden, wenn man "Organismus" auch Gruppen oder Institutionen darunter fasst. Unter "Aggressivität" kann man daher die relativ überdauernde Bereitschaft eines Menschen oder Tiers zu aggressivem Verhalten verstehen.
"Gewalt" ist ein heute inflationär gebrauchter Begriff für eine Teilmenge der Aggression, wobei meist physische Aggressionen damit gemeint werden, die mit relativer Macht bzw. Kraft einhergehen. Dazu muss man auch psychische Aggressionen zählen wie Drohungen, und verbale Aggressionen, die mit relativer Macht bzw. Kraft gezeigt werden.
Heute stellen sich in der Aggressionsforschung neue Probleme oder alte Probleme mit plötzlich gesteigerter Dringlichkeit: die sexuelle Gewalt gegen Kinder (sexueller Missbrauch), Gewalt in den Medien (Mediengewalt), Gewalt in der Familie (gegen Kinder, Partner, alte Menschen), Kinder- und Jugendkriminalität, Gewalt in der Schule, Gewalt am Arbeitsplatz (Mobbing), sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder einschließlich (Kinder-) Pornographie, Gewalt im Straßenverkehr, Gewalt im Sport, Gewalt gegen Ausländer, Hooliganismus, politischer Extremismus, Terrorismus, Krieg, aber auch das Phänomen der Selbstverletzung (Autoaggression bis zum Selbstmord). Zu diesen Themen wird heute von der wissenschaftlichen Psychologie vorwiegend interdisziplinär geforscht und gearbeitet. Generell ist eine Verschiebung der Betonung insofern erkennbar, als vorbeugende Maßnahmen gegenüber therapeutischen Überlegungen an Bedeutung gewinnen.
Formen der Gewalt in der Familie
Die Gewalt in der Familie hat viele Gesichter und tritt im Alltag vor allem in Form von psychischer und ökonomischer Unterdrückung auf. Zwar gibt es keine typische Form von Gewalt in der Familie, jedoch werden in der Regel Frauen ihr Opfer.
Physische Gewalt Oftmals bedrohen Männer ihre Frauen mit Waffen oder gefährlichen Gegenständen, doch die am häufigsten auftretenden Formen physischer Gewalt zielen direkt darauf ab, das Opfer zu verletzen. Frauen werden geschlagen, getreten, gestoßen und gewürgt, ihnen werden Verbrennungen und Knochenbrüche zugefügt, sie werden gefesselt. Frauen werden durch die Rationierung von Nahrung gequält und durch Schlafentzug gefoltert.
Psychische Gewalt Die Opfer psychischer Gewalt erleiden alle Formen von Demütigungen und Erniedrigungen - ihr Selbstbewusstsein wird systematisch untergraben. So z.B. sehen sie sich mit beleidigenden Worten konfrontiert, Drohungen werden ausgesprochen, sie werden eingeschüchtert. Abweisende Blicke oder Gesten geben ihnen zu verstehen, dass der Partner sie gering schätzt oder gar für verrückt hält.
Soziale Gewalt Kontakte zur Außenwelt werden untersagt, bzw. einer genauen Kontrolle unterzogen - die Frau hat Rechenschaft darüber abzugeben, was sie tut, wen sie trifft, mit wem sie spricht oder wohin sie geht. Frauen werden eingesperrt, und durch gezielten Rufmord in die Isolation getrieben. Frauen werden wie Bedienstete behandelt, alle Entscheidungen trifft der "Herr des Hauses". Der Besitz persönlicher Gegenstände wird verboten, oftmals wird ihr Eigentum zerstört. Pflegebedürftige Frauen werden vernachlässigt, Hilfe wird verweigert, lebensnotwendige Medikamente werden nicht verabreicht.
Religiöse Gewalt Auch religiöse Faktoren können Auslöser familiärer Gewalt darstellen. So leiden Frauen häufig unter dem Druck starrer religiöser Regeln oder werden an der Ausübung ihres Glaubens gehindert.
Sexuelle Gewalt Sexuelle Gewalt verletzt sowohl den Körper als auch die Seele einer Frau. Die wohl grausamste Art stellt hierbei die Vergewaltigung dar. Oftmals werden Frauen aber auch zu erniedrigenden sexuellen Handlungen genötigt. Gegen ihren Willen werden schmerzhafte sexuelle Praktiken ausgeübt. Sie werden von ihrem Partner durch verbale und tätliche Angriffe sexuell belästigt, bzw. ihrer Persönlichkeit beraubt und zum Objekt degradiert.
Ökonomische Gewalt Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau wird von vielen Männern ausgenutzt, um ihre Machtstellung innerhalb einer Partnerschaft zu beweisen. Der Alleinverdiener verfügt über alle finanziellen Mittel, Geld wird der Frau lediglich zugeteilt, über alle Ausgaben hat sie Buch zu führen. Es bleibt ausschließlich dem Ermessensspielraum des Mannes überlassen, wie viel Geld für die Haushaltsführung oder gar für persönliche Wünsche der Frau, wie z.B. Kleidung oder Schmuck zur Verfügung steht. Sie hat um Geld zu bitten. Finanzielle Mittel werden manchmal generell verweigert bzw. willkürlich der Frau wieder entzogen. Berufstätige Frauen dürfen über ihr eigenes Einkommen nicht selbst entscheiden, sondern werden dazu gezwungen, ihren gesamten Verdienst zu Hause abzugeben. Ökonomische Gewalt kann sich auch darin äußern, dass Frauen bewusst als "Heimchen am Herd" gehalten werden und die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit verweigert wird, um weiterhin die wirtschaftliche Abhängigkeit zu garantieren
Quelle: http://www.akatemia.org/projektit/perhevak/gewalt.htm (05-11-17)
Erinnerung an traumatische Ereignisse können aggressiv machen
Quelle: newsgroup de.sci.psychologie - Einträge zum Thread "Unfallschock" vom 4.4.2007
Inhaltsverzeichnis zum Thema Aggression
- Theorien zum Erwerb und den Ursachen aggressiven Verhaltens
- Kleiner Exkurs zum Gewaltbegriff
- Lernpsychologische Erklärung von Aggressionen
- Rowell Huesmanns soziale Entwicklungstheorie
- Berkowitz' kognitive Neoassoziationstheorie
- Psychoanalystische Aggressionstheorien (Freud, Adler)
- Aggressionsminderung durch Katharsis
- Ethologisches Instinktkonzept (Lorenz)
- Frustrations- Aggressionstheorie (Dollard)
- Das Phänomen des Amok
- Eine Form der Autoaggression: Selbstverletzung
- Suizidalität im Jugendalter
- Genetische Faktoren der Aggression
- Aggression und Serotoninspiegel
- Hooliganismus
- Tipps für Eltern
- Aggressionshemmung
- Die Entwicklung von Emotionen
- Die Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien
- Formen der Gewalt in der Familie
- Trainingsprogramm zum Umgang mit aggressiven Kindern
- Die Wahrnehmung von Gewalt in der Familie durch Kinder
- Zum Umgang mit Aggression in der Schule
- Literatur zur Aggression
Siehe auch die neue Zusammenstellung:
Inhaltsverzeichnis
Theorien zur Erklärung - Genetischer Ansatz - Ethologisches Konzept - Huesmann und Berkowitz - Lernpsychologische Erklärung - Katharsishypothese - Psychoanalytische Erklärung - Frustrationshypothese - Exkurs - Amok - ein interkulturelles Phänomen - Selbstverletzung - Wahrnehmung in der Familie - Familie - Hooliganismus - Medienwirkung - Medien-Forschung - Elterntipps - Selbstverletzendes Verhalten - Trainingsprogramm - Schule - Literatur
Literatur zur Aggression
Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta.
Berkowitz, L. (1994). Is something missing? Some observations prompted by the cognitive-neoassociationist view of anger and emotional aggression. In L. R. Huesmann (Ed.), Aggressive behaviour. Current perspectives (S. 35-57). New York: Plenum.
Boppel, Peter (2002). Die Entstehung menschlicher Destruktivität am Beispiel der Folterer-Ausbildung. Heilpädagogische Forschung Nr. 4.
WWW: http://www.heilpaedagogischeforschung.de/ab0245.htm (03-05-11)
Dollard, J., Doob, L.W., Miller, N.E., Mowrer, O.H. & Sears, R.R. (1939). Frustration and Aggression. New Haven: Yale University-Press.
Eron, L. D. (1994). Theories of aggression. From drives to cognitions. In L. R. Huesmann (Ed.), Aggressive behaviour. Current perspectives (S. 3-11). New York: Plenum.
Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke, Bd. XIII. London: Imago Press.
Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Reinbeck: Rowohlt.
Huesmann, L. R. & Miller, L. S. (1994). Long-term effects of repeated exposure to media violence in childhood. In L. R. Huesmann (Ed.), Aggressive behaviour. Current perspectives (S. 153-186). New York: Plenum.
Kornadt, Hans-Joachim (1982). Aggressionsmotiv und Aggressionshemmung. Stuttgart.
Kunczik, Michael & Zipfel, Astrid (o.J.). Wirkungen von Gewaltdarstellungen.
WWW: http://www.medienpaedagogik-online.de/mf/4/00677/ (05-11-21)
Lorenz, K. (1963). Das sogenannte Böse. Wien: Borotha-Schoeler.
Mummendey, A. (1996). Aggressives Verhalten. In: W. Stroebe, M. Hewstone & G. M. Stevenson (Hrsg.), Sozialpsychologie. Eine Einführung (S. 421-452). Berlin: Springer.
Nolting, H.P. (1978). Lernfall Aggression. Reinbek: Rowohlt.
Petermann, F. & Petermann, U. (1978). Training mit aggressiven Kindern. München: Urban & Schwarzenberg.
Schwind, H.-D. & Baumann, J. (Hrsg.) (1990). Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Berlin: Duncker & Humblot.
Schulentwicklung. Erst Nachdenken – dann Handeln. Wahrnehmen, Erklären und Handeln zu Aggression und Gewalt als Strategie für eine tolerante und weltoffene Schule. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM).
Selg, H., Mees, U. & Berg, D. (1997). Psychologie der Aggressivität. Göttingen: Hogrefe.
Selg Herbert (o.J.). Aggression. WWW: http://www.wissenschaft-online.de/abo/lexikon/psycho/337 (05-10-28)
Entstanden unter Verwendung von http://bidok.uibk.ac.at/texte/aggressionen-3.html (02-07-29)