Ethologisches Instinktkonzept (Lorenz)
In Konrad Lorenz' Trieblehre gibt es vier bedeutende Triebe, darunter den Aggressionstrieb, der mehrere biologische Funktionen erfüllt. Nach Lorenz gilt weder tierische noch menschliche Aggression reaktiv. Aggressionen werden nicht zu jedem Zeitpunkt geäußert, sondern sie haben arterhaltende Funktion und sollen, in Form von Flucht oder Angriff, in erster Linie das Überleben sichern. Lorenz definiert Aggression als den den auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch, wodurch er zwischenartliche Auseinandersetzungen explizit ausschließt. Auch spricht Lorenz davon, dass sich die Aggressionsenergie ständig neu nachbildet, und nach Abfuhr drängt, die von auslösenden Reizen stark abhängt. Sollten solche Reize zu lange ausbleiben, kann es zu sogenannten "Leerlaufhandlungen" kommen; die Aggressionen laufen auch ohne spezifischen äußeren Reiz ab. Wie populär dieses "Dampfkesselmodell" ist, zeigt sich in Redewendungen wie "Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt", "Dampf ablassen" oder "Mir platzt gleich der Kragen".
Lorenz, der viel mit Tieren experimentierte, führt einen folgenschweren Analogieschluß durch, indem er sein an Tieren (hauptsächlich Graugänsen) beobachtetes Verhalten einfach linear auf den Menschen überträgt. Beim Menschen soll sich der Aggressionstrieb besonders verhängnisvoll auswirken, da ihm die neuzeitliche Zivilisation kaum sinnvolle Entladungsmöglichkeiten biete. In der Folge entstünden beim Menschen Störungen in der physischen wie auch psychischen Gesundheit. Lorenz schlägt zur Regulierung des Aggressionstriebes vor, die Energie auf Ersatzhandlungen umzuleiten.
Neueste Forschungen zeigen, dass die emotionalen Seiten der Persönlichkeit wie etwa Aggression wohl ontogenetisch entstehen, also in der Individualgeschichte. Zwar haben sie einen genetischem Hintergrund, allerdings ist nicht die Art, sondern das Individuum die Einheit der Selektion. Siehe dazu Vögel mit Persönlichkeit
Im Gegensatz zum heutigen Stand der Biologie ging Lorenz davon aus, dass das Prinzip Arterhaltung das Verhalten der Tiere steuert. Er war davon überzeugt, dass ein Tier niemals seinesgleichen mordet und Aggressionen zwischen Artgenossen immer ritterlich ausgetragen würden. Dabei hatten andere Forscher längst beobachtet, wie Löwen, Affen und zahlreiche andere Tiere Konkurrenten und deren Nachwuchs töten. Die Soziobiologie verwarf das Paradigma der Arterhaltung. Und die Genetik lieferte die Beweise, dass der evolutionäre Prozess auf der Ebene der individuellen genetischen Konkurrenz stattfindet - auch auf Kosten der eigenen Art.
Von seinem wissenschaftlichen Werk ist wenig übrig geblieben, denn Grundannahmen seiner Verhaltensbiologie wurden bereits zu seinen Lebzeiten von neueren Erkenntnissen überholt, denn seine Sicht war mechanistisch und hatte keinen evolutionsbiologischen Ansatz.
Anmerkung: Die ethologische Aggressionsforschung sollte übrigens nicht dazu missbraucht werden, um aggressives Verhalten zu entschuldigen oder die zahlreichen Formen unsozialen Dominanz- oder Unterwürfigkeitsverhaltens zu verstärken.
Das Böse aus psychologischer Sicht
Verbrechen werden meist von Menschen begangen, die keineswegs psychisch krank sind, und lassen sich mit psychologischen Theorien erklären, die auch bei gewöhnlichen Situationen Anwendung finden. Roy Baumeister untersucht in seiner Psychologie des Bösen, warum Menschen Verbrechen begehen, wie das Böse in die Welt kommt. Er unterscheidet vier Wurzeln des Bösen:
- Böses als Mittel zum Zweck,
- Ideologie und fundamentalistische Religion,
- verletzter Narzissmus,
- Sadismus.
Hinter ähnlichen Taten stehen oft ganz verschiedene Motive, denn es muss keine ideologischen Gründe haben, wenn die Bewohner ganzer Städte ausgerottet werden, sondern es kann einfach ein Mittel sein, um an Reichtümer und Länder zu kommen. Verbrechen als Mittel zum Zweck sind auch der Alltag der Kriminalität, da Raubmorde und Banküberfälle eine Möglichkeit sind, ohne Arbeit an Geld zu kommen.
Erschreckender sind für Menschen oft die Verbrechen, die aus ideologischen Gründen begangen werden und sogar im Namen des Guten. Diese Menschen wollen für Veränderungen sorgen und fühlen sich hohen Idealen verpflichtet, die sie anderen aufzwingen wollen und daher sie zur Gewalt greifen. Von ihrem Standpunkt aus wird die Gewalt um eines positiven Zieles willen begangen.
Der Sadismus, die pure Freude an Quälerei und Mord lässt sich daraus ableiten, dass Täter zunächst aus anderen Motiven heraus töten, dann sich daran gewöhnen und merken schließlich, dass es ihnen Spaß macht.
Auch Menschen, die aus Idealismus in den Krieg zogen, können Spaß am Töten gewinnen, denn ihre Gefühle wurden durch schlimme Erfahrungen in einen negativen Zustand versetzt und sie versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen, indem sie positive Gefühle mobilisieren. Dies gelingt immer besser, je öfter sich dieser Prozess wiederholt und am Ende können die positiven Gefühle sogar überwiegen, sodass aus Schrecken Freude geworden ist.
Dass Menschen sich die meiste Zeit halbwegs moralisch verhalten liegt an der Fähigkeit zur Selbstkontrolle, d.h., sie hindern sich selbst daran, unmoralischen Impulsen und Wünschen nachzugeben und tun dies, weil sie z.B. Schuldgefühle haben, die sie dazu drängen. Schuldgefühle nützen der Gesellschaft, auch wenn es nicht angenehm für den Einzelnen ist, sich schuldig zu fühlen, denn Menschen ohne Schuldgefühle begehen eher Gewalttaten. Ein anderer Schutz ist Empathie, denn moralische Gefühle halten Menschen von Untaten ab, nicht moralische Überzeugungen.
Das Böse im Menschen definiert sich nach Reinhard Haller durch einen Mangel an Empathie, also dem Unvermögen, sich in andere hineinzuversetzen und mitzuempfinden, was diese verletzen könnte. Beim Bösen spielen meist Neid, Eifersucht oder Rache eine zentrale Rolle, wobei jeder Mensch spürt, dass er auch in sich diese Gefühle hat bzw. auch erkennen möchte, welcher Anteil daran bei ihm selbst vorhanden ist. Ein Verbrechen ist somit nur ein Spiegel jener bösen Anteile, die in jedem Menschen schlummern. Dabei sind Sexualität und Habgier meist die wesentlichen Beweggründe, wobei bei Taten im Beziehungsbereich das Böse gewissermaßen unter dem eigenen Dach wohnt. Zwar gibt es auch immer wieder motivarme Delikte, d. h., die Anlässe für die Verbrechen sind oft äußerst gering, doch finden sich hinter scheinbar motivlosen Verbrechen meist massive Kränkungen der TäterInnen. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft sensibler und narzisstischer geworden ist, wobei zum Narzissmus die Kränkbarkeit mit dazu gehört. Menschen wollen negative Gefühle heute oft nicht mehr zeigen, sodass sich irgendwann im Inneren dieser Menschen etwas zusammenbraut. Daher können auch ganz normale Menschen Böses tun, wobei man im Anschluss an ein Verbrechen oft das Muster einer psychischen Störung sucht, doch diese Suche ist dabei nur eine Art Schutzmechanismus der Gesellschaft, die nicht wahrhaben will, dass das Böse im Prinzip in jedem Menschen steckt. Menschen mit einer Depression oder Angststörung werden sogar seltener aggressiv, denn ihnen fehlt der Antrieb oder sie haben Angst vor dem Handeln. Aber bei Menschen mit Wahnvorstellungen gibt es einen höheren Risikofaktor, wobei die Erziehung und das soziale Umfeld einen Risikofaktor darstellen, denn wenn jemand in der Kindheit keine Zärtlichkeit und Zuwendung erlebt hat. Aus der Sicht der Philosophie ist das Böse der Preis der Freiheit, denn es gäbe keine Freiheit, wenn Menschen sich in ihrem Handeln nicht zwischen Gut und Böse entscheiden können. Psychologisch betrachtet ist das Böse eine Form der Aggression, also eine Vitalkraft, die in die richtigen Bahnen gelenkt werden muss, sodass niemand anderer zu Schaden kommt.
Was macht das Gute gut und das Böse böse?
Böse übernatürliche Wesen werden häufig so dargestellt, dass sie auf unbeabsichtigte Bitten reagieren, während dies bei Darstellungen guter übernatürlicher Wesen weniger häufig der Fall ist. Diese Asymmetrie lässt vermuten, dass Menschen erwarten, dass sich gute und böse Agenten in ihrer Sensibilität für die Absichten anderer Menschen unterscheiden. Dunk et al. (2021) haben diese Hypothese in fünf Experimenten mit über zweitausend erwachsenen ProbandInnen untersucht. In den Experimenten 1 bis 4 bewerteten diese, ob gute oder böse Agenten Anfragen von Menschen gewähren würden, die sich in ihrem Verständnis dessen, was sie erbaten, und in der korrekten Ausführung der Anfragen unterschieden. In allen Experimenten waren die guten und bösen Agenten entweder übernatürliche Wesen oder normale Menschen. Die Teilnehmer sagten voraus, dass die guten Agenten für die Absichten hinter den Bitten sensibel sein würden, während die bösen Agenten vergleichsweise unempfindlich gegenüber diesen Absichten sein würden. In einigen Experimenten sagten sie außerdem voraus, dass die bösen Agenten stärker darauf achten würden, ob die Anfragen korrekt ausgeführt werden. In einem fünften Experiment bewerteten die Teilnehmer schließlich die Erklärungen dafür, warum ein Agent eine Bitte von jemandem erfüllen würde, der nicht versteht, worum er bittet. Die ProbandInnen waren der Meinung, dass böse Agenten solche Bitten gewähren könnten, weil ihnen die Absichten der anderen gleichgültig sind, während die ProbandInnen diese Erklärung für gute Agenten nicht stark befürworteten. Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie der moralische Charakter die Entscheidungsfindung beeinflusst. Sie deuten auch darauf hin, dass die Überzeugungen der Menschen über gute und böse übernatürliche Wesen in ihren Ansichten über normale Menschen begründet sein könnten.
Vereinfacht: Um als gut zu gelten reicht es nicht aus, schlicht eine Bitte zu erfüllen, sondern es war wichtig, zwischen den Zeilen zu lesen und die Beweggründe der Bitte zu berücksichtigen. Böse ist also eher, wer etwa genau darauf achtete, dass die Bitte korrekt formuliert ist, ohne zu berücksichtigen, was eigentlich dahinter steckt.
Literatur
Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta.
Dollard, J., Doob, L.W., Miller, N.E., Mowrer, O.H. & Sears, R.R. (1939). Frustration and Aggression. New Haven: Yale University-Press.
Dunk, Rebecca J., Goulding, Brandon W., Fugelsang, Jonathan A. & Friedman, Ori (2021). Butt-dialing the devil: Evil agents are expected to disregard intentions behind requests. Journal of Experimental Social Psychology, 96, doi:10.1016/j.jesp.2021.104188.
Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke, Bd. XIII. London: Imago Press.
Lorenz, K. (1963). Das sogenannte Böse. Wien: Borotha-Schoeler.
Lorenz, Konrad (1983). Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Miersch, Michael (2009). Auch Graugänse gehen fremd.
WWW: http://www.welt.de/welt_print/article3283228/Auch-Graugaense-gehen-fremd.html (09-02-27)
Nolting, H.P. (1978). Lernfall Aggression. Reinbek: Rowohlt.
Petermann, F. & Petermann,U. (1978). Training mit aggressiven Kindern. München: Urban & Schwarzenberg.
Schwind, H.-D. & Baumann, J. (Hrsg.).(1990). Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Berlin: Duncker & Humblot.
Selg, H., Mees, U. & Berg, D. (1997). Psychologie der Aggressivität (2., überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Frankfurter Neue Presse vom 10. Jänner 2020
https://www.fnp.de/hessen/psychiater-erklaert-verbrechen-darum-rasten-immer-mehr-menschen-zr-13429257.html (20-01-10)
http://www.hr-online.de/website/specials/wissen/index.jsp?rubrik=6952&key=standard_document_37844016 (09-09-10)
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