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Gender und Geschlecht in der Schule
- Persönlichkeitsentwicklung im mittleren Erwachsenenalter
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts begann man das Ausmaß, in dem das Geschlecht nicht nur die gesellschaftliche Rolle und Position, sondern auch Persönlichkeit und Charakter eines Menschen bestimmte, zunehmend zu hinterfragen. Man argumentierte, dass Frauen nicht von Natur aus unterwürfiger, weniger intelligent, emotional anfälliger oder stärker auf ihr Äusseres fixiert seien als Männer, sondern dass sie sich so verhielten, weil die Gesellschaft es von ihnen erwarte. 1955 hatte der Psychologe John Money die Unterscheidung von «gender» und «sex», also zwischen sozialem und biologischem Geschlecht, vorgeschlagen, wobei vor allem Feministinnen dieses Modell attraktiv fanden, denn einerseits negierte es die biologischen Differenzen zwischen Männern und Frauen nicht, und ebenso wenig auch einen gewissen Zusammenhang zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, anderseits trug es der prägenden Macht gesellschaftlich determinierter Rollenbilder Rechnung, ohne aber die Hoffnung auszublenden, dass diese durch sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel aufgeweicht werden und damit Frauen wie Männern neue Freiheiten schenken könnten. In der Folge wurde die Rolle der Biologie bei der Herausbildung der Persönlichkeit zunehmend heruntergespielt, während die Bedeutung kultureller und gesellschaftlicher Prägungen in den Vordergrund rückte. Bilder- und Schulbücher, in denen Papa zur Arbeit geht, während Mama den Haushalt erledigt, Spielzeugautos für Buben und Puppen für Mädchen, gerieten in die Kritik, weil es Kindern stereotype Rollenbilder aufzuzwingen schien. Dahinter stand die Überzeugung, dass Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen, Männern und Frauen nicht naturbedingt sind, sondern Resultat einer entsprechenden Sozialisierung. 1990 lieferte das von der amerikanischen Philosophin Judith Butler vorgelegte Buch Gender Trouble eine Dekonstruktion der Unterscheidung von Sex und Gender, wonach die Unterscheidung von Sex und Gender deshalb unhaltbar ist, weil es erkenntnistheoretisch objektive biologische Definitionsmerkmale der Geschlechter nicht geben könne. Damit verliert die Dichotomie von Frau und Mann ihr eindeutiges biologisches Fundament, und es wird zumindest denkmöglich, dass es mehr als zwei Geschlechter geben könne. "Viele Wertkonservative sehen in diesem dekonstruktivistischen Konzept der «Queer»-Theoretikerin aus Berkeley die Ursache für den Zerfall der Werte des Abendlandes. Das mutet weltfremd an. Naiv erscheint es, die Auflösung der traditionellen Ehe und Familie auf das Gender-Konzept zurückzuführen, so, als hätten sich die sozialen, medizinisch-technischen, ökonomischen, kulturellen und rechtlichen Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte nach Begriffsreflexionen gerichtet – und als seien nicht diese umgekehrt selber Teil gesellschaftlicher Umwälzungen, die neue Fragen an die Wissenschaft herangetragen haben. Nicht zufällig liegt eines der zentralen Forschungsfelder der Gender-Studies darin, die Ursachen und Gründe für den Wandel, aber auch für die Kontinuität von Geschlechterordnungen in der jüngeren Gegenwart zu untersuchen" (Meyer, 2013). Die Vorstellung, dass Geschlechterrollen primär ein soziales Konstrukt seien, implizierte die Hoffnung, dass man die mit dem biologischen Geschlecht verbundenen Grenzziehungen überwinden könnte, wobei in der heutigen Diskussion aber die Vorstellung von Geschlecht essenzialistischer zu sein scheint denn je, denn demnach mag Geschlecht nicht mehr durch die Genitalien definiert sein, sondern dafür sitzt es im menschlichen Gehirn.
Das Geschlecht als soziale Ordnungskategorie
Das Geschlecht wird nach Pierre Bourdieu (1982) wie andere soziale Ordnungskategorien als Gewöhnungsakt inkorporiert und bildet einen Habitus,
also das Ensemble inkorporierter Schemata der Wahrnehmung, des Denkens,
Fühlens, Bewertens, Sprechens und Handelns, das alle expressiven,
verbalen und praktischen Äußerungen der Mitglieder einer Gruppe oder
Klasse strukturiert. Dem Habitus liegt die Notwendigkeit des Erwerbs
eines praktischen Sinns zugrunde, d.h., intuitiv zu wissen, ohne davor
jedesmal darüber nachzudenken zu müssen, wie man sich in einer möglichen
Alltagssituation vernünftig verhält. Ob jemand sich intuitiv vernünftig
verhält, hängt vor allem davon ab, ob er sich gemäß der geschichtlich
ausgebildeten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata seiner Klassen-,
Gruppen-, Geschlechtszugehörigkeit verhalten kann.
Der Habitus kann daher als ein Erzeugungsprinzip
jener Existenz verstanden werden, die in Abstimmung mit den umgebenden
sozialen Strukturen entsteht. Diese Form der Abstimmung ist den
Individuen nicht bewusst und wird daher durch ihre Präreflexivität
als natürlich erlebt, da er tief im Subjekt verankert ist. Diese
relativ stabile Verankerung findet statt, weil der Habitus von den
Individuen sinnlich erfahren wird, d.h., er hat eine empfindbare
somatische Dimension bzw. bildet im Körperlichen eine auch von außen
beobachtbare, sinnlich erfahrbare Gestalt. Ein Beispiel eines solchen
geschlechtstypischen Habitus, der die individuelle Leibeserfahrung prägt
und dadurch gendertypische Gesten, Fühl- und Denkweisen sowie
Körperhaltungen erzeugt, ist etwa, dass Mädchen und Frauen sich häufiger
Sorgen machen, wenn ihre Körperteile eher groß sind, während Jungen und
Männer eher Körperregionen für kritisch erachten, die sie für zu klein
halten, sodass die unmittelbare leibliche Erfahrung mit einer
Fülle an Bedeutungen und sozialen Werten befrachtet ist (Wuttig, 2010).
Gender und Geschlecht in der Schule
Ausgangspunkt einer Studie war eine kooperative Mittelschule in Wien, die einen MigrantInnenanteil von 80 % aufweist. Gerade für SchülerInnen, die nicht nur mit dem Thema Gender, sondern zugleich noch mit Ethnischen Unterschieden konfrontiert sind, ist es in der heutigen Zeit extrem schwer einen positiven Schulabschluss zu erlangen. Frage ist es nun wie man den Unterricht zu gestalten hat, damit alle gleichberechtigt behandelt werden sowohl in Fächern wie Deutsch oder Englisch aber auch in naturwissenschaftlichen Fächern wie zum Beispiel Informatik (Berghammer & Pichler, 2009, S. 834).
Um dies zu untersuchen teilte man die Schulklassen in verschieden Gruppen ein. Jede Klasse wurde erst einmal in zwei Gruppen geteilt, anschließend wurde bei der ersten Klasse entschieden, dass die zwei Gruppen nach Geschlecht aufgeteilt wurden – d.h. eine Burschen- und eine Mädchengruppe. In der zweiten Klasse sollten sich jeweils ein Mädchen und ein Junge im Team zusammenfinden um an dem Projekt zu arbeiten und in der dritten Klasse wurden ebenfalls Teams gebildet, welche jedoch geschlechtshomogen zusammengesetzt waren. Anschließend machten sich die SchülerInnen ans Werk um ihre Aufgabe zu lösen (Berghammer & Pichler, 2009, S. 835).
Zum einen sollte untersucht werden, ob die Gruppenzusammensetzung Einfluss auf das Endergebnis hat, zum anderen ob die Sprachkompetenz der SchülerInnen Einfluss auf das Endergebnis hat. Des weiteren wurde untersucht, ob Mädchen in geschlechtsheterogenen Gruppen degradiert werden oder ob sie eine gleichberechtigte Stellung einnehmen, ebenso ob und wie sich der Druck auf die Buben, dass sie technikkompetent sein sollen, auf das Arbeiten in gemischtgeschlechtlichen Teams auswirkt (Berghammer & Pichler, 2009, S. 836).
In einem ersten Schritt wurde untersucht, ob und welchen Einfluss die Gruppenzusammensetzung auf das Endergebnis hat. Zu diesem Punkt muss man ganz klar sagen, dass die Gruppenzusammensetzung keinen Einfluss nimmt, wenngleich man in dieser Beobachtung herausfand, dass Mädchen weniger oft nachgefragt und um Hilfe gebeten haben als Burschen. Die Umgangsformen in den Gruppen und Teams waren bei den Mädchen zum größten Teil wertschätzende wohingegen in den Burschenteams Vorschläge der Teampartner oft abgetan wurden oder gar keine Beachtung fanden. Trotzdem hat sich die Annahme nicht bestätigt, da 32 der 34 Teams beim Lösen ihrer Aufgabe erfolgreich waren (Berghammer & Pichler, 2009, S. 836f).
Das zweite Forschungsziel war es zu untersuchen, ob die Sprachkompetenz das Endergebnis beeinflusst. Diesbezüglich hat man herausgefunden, dass keine sprachlichen Verständigungsprobleme bzw. Verständnisprobleme aufgetreten sind, was aber möglicherweise auch darauf zurückzuführen ist, dass sowohl die Bauanleitung als auch die Programmieranweisungen bildlich dargestellt waren (Berghammer & Pichler, 2009, S. 837).
Im dritten Schritt wurde untersucht, ob Heterogenität auf die Tätigkeitsbereiche der Mädchen in der Gruppe Einfluss haben. Dieser Punkt wurde ganz klar bestätigt, da in fast allen heterogenen Teams die Mädchen in eine passive Rolle gedrängt wurde und gerade einmal zum Ausfüllen des Forschungsauftrages miteinbezogen wurden. In manchen Teams wurde das Bauen mit Arbeiten und das Programmieren mit Spielen gleichgesetzt, was dazu führte, dass die Mädchen das Bauen übernahmen und die Burschen anschließend programmierten und ihren Roboter, den sie größtenteils als ihr Eigen betrachteten, ausprobierten (Berghammer & Pichler, 2009, S. 837f).
Als letzten Punkt untersuchte man noch, ob Burschen in gemischgeschlechtlichen Gruppen den Druck als technisch kompetenter als Mädchen zu gelten spüren und ob dieser auch Auswirkungen auf ihr Verhalten hat. Man muss sagen, diese Hypothese hat sich bestätigt, da sowohl in heterogenen Gruppen das Problem auftrat, dass Burschen mit Mädchen nicht zusammenarbeiten wollten, als auch der Faktor Zeit für Burschen eine erhebliche Rolle zu spielen schien. Während Mädchen den Faktor Zeit vollkommen außer acht ließen, sahen Burschen die Bewältigung der Aufgabe geradezu als Wettkampf. Diese Verhalten wurde nicht nur in heterogenen Gruppen, sondern auch in homogenen Gruppen festgestellt, wobei man ganz klar sagen muss, dass es in geschlechtsheterogenen Gruppen deutlich ausgeprägter war (Berghammer & Pichler, 2009, S. 838f).
Endergebnis der Untersuchung ist, dass es unter bestimmten Vorraussetzungen sinnvoll ist Schulklassen temporär nach Geschlecht zu teilen, um damit Stress abzubauen, was zu einem entspannten Arbeitsklima führt und eine bessere Entfaltung der SchülerInnen gewährleistet (Berghammer & Pichler, 2009, S. 841f).
Gender-Sprache
Studien zu geschlechtergerechter Sprache zeigen, dass die Gerechtigkeit der Sprache in erster Linie vom Kontext abhängt, in dem diese verwendet wird. Wichtig ist daher nicht die bloße Formulierung, die bestimmte Bilder im Kopf erzeugt, sondern im Vordergrund steht eher der abstrakte Informationsgehalt etwa einer Berufsbezeichnung. Es gibt keine überzeugenden wissenschaftlichen Belege dafür, dass Personenbezeichnungen zu Assoziation mit konkreten Merkmalen wie dem Geschlecht führen. Zwar gibt es generische Maskulina, doch das hat jedoch weniger mit der Formulierung als mit der eigenen Lebenserfahrung und wahrgenommenen Lebensrealität zu tun. Es zeigt sich auch, dass vor allem Pluralformen generischer Maskulina im Deutschen von den Menschen in der Regel korrekt verstanden werden, also geschlechtsneutral. Wo Wörter ohnehin als geschlechtsneutral verstanden werden, wirken Gender-Zusätze möglicherweise sogar noch in stärkerem Maße als unwillkommene Fremdkörper. Generell sollte man die bewusstseinsbildende Macht einer Sprache nicht überschätzen, denn diese prägt nicht allein das Bewusstsein. Sprachregulierungen alleine lösen daher keinen Bewusstseinswandel aus und verringern auch nicht mögliche damit verbundene Ressentiments.
Michael Klein & Hendryk von Reichenberg setzen sich in ihrem Buch "Das Ende der Gender-Sprache. Genderismus, Sprachkrampf, Tiefenpsychologie" mit der Gender-Sprache auseinander, die starke emotionale Reaktionen bei Menschen erzeugt, denn die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die genderpolitisch motivierten Veränderungen der Sprache ab, da es sich um einen Angriff auf ihre Identität handelt. Nach den Einschätzungen der Autoren ist die Gender-Sprache kein Produkt einer intellektuellen oder gar sprachwissenschaftlichen Analyse und besitzt daher keine wissenschaftliche Basis, wobei Gender-Sprech noch dazu Ungerechtigkeiten schafft, da sie keine Rücksicht auf Behinderte, sozial Benachteiligte, Migranten, Diverse nimmt. Die Gender-Bewegung stellt im Kern eine kleine Gruppe in gesellschafts- und erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen der Hochschulen, denn dort gibt es inzwischen mit staatlicher Förderung zahlreiche Genderprofessuren und noch mehr Gleichstellungsbeauftragte, die die Gender-Sprache propagieren.
Ihrer Meinung nach liefert Gender-Sprache nur vordergründig mehr Gerechtigkeit und Inklusion, denn in Wirklichkeit erzeugt sie das Gegenteil. Gender-Sprache erweist sich nämlich eher als elitäres und totalitäres Top-Down-Projekt zur Veränderung des Sprechens und in der Folge des Denkens der Bevölkerung, wobei Gender-Sprache keinen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden liefern kann und durch einen ergebnisoffenen, freien, undogmatischen und den Menschen wieder als Ganzes in den Blick nehmenden Diskurs zu überwinden ist.
Gendern kann übrigens auch unter einer linguistischen Perspektive betrachtet werden, denn es handelt sich in vielen Sprachen um eine grammatikalischen Kategorie, die Substantive in bestimmte Nominalklassen einteilt, wobei es auch Sprachen ohne derartige Nominalklassen gibt wie etwa das Türkische, das Finnische und mit gewissen Abstrichen auch das Chinesische. Sprachen mit solchen Nominalklassen sind die meisten indogermanischen Sprachen wie Deutsch und Französisch, die meisten semitischen Sprachen und die meisten Sprachen der hauptsächlich in Afrika gesprochenen Sprachfamilie der Bantusprachen. Statt den Nominalklassen etwa einfach Nummern zu geben, wurden in der traditionellen Grammatik sprechende Bezeichnungen vergeben, die dazu führten, dass eine der drei Nominalklassen im Deutschen und Lateinischen den Namen maskulin oder männlich bekam, die zweite den Namen feminin oder weiblich. Die Bezeichnung der dritten Nominalklasse unterscheidet sich im Lateinischen und Deutschen deutlich, denn die lateinische Ausdrucksweise ist Neutrum, was nämlich nur keines von beiden bedeutet, also weder Nominalklasse eins noch Nominalklasse zwei. Die in der traditionellen deutschen Grammatik eingeführte Bezeichnung als sächlich ist also keine Übersetzung des lateinischen Neutrum, sondern stellt eine eigene, historisch gewachsene Begriffsprägung dar. Diese traditionellen Bezeichnungen der Nominalklassen stammen daher, dass einige der ihnen zugewiesenen Wörter biologisch männliche Personen (Nominalklasse 1) bzw. biologisch weibliche Personen (Nominalklasse 2) enthalten, wobei diese Zuordnung aber nicht eindeutig ist, d.h., weder im Deutschen noch im Lateinischen oder anderen indogermanischen bzw. semitischen Sprachen landen alle Bezeichnungen für biologisch männliche Personen immer in Nominalklasse 1 bzw. alle Bezeichnungen für biologisch weibliche Personen in Nominalklasse 2 und alle Nicht-Personen-Bezeichnungen in Nominalklasse 3.
Geschlecht aus biomedizinische Sicht
Nach dem Human-Genom-Projekt
ist die Biologie deutlich von der DNA "abgerückt" und immer weniger
BiologInnen gehen davon aus, dass die DNA das Individuum vorbestimmt.
Nach Voß (2009) hält sich diese deterministische Auffassung dennoch in
populären Vorstellungen und ist auch in biologischen Auffassungen von
Geschlecht weiter präsent. Aktuelle biologische Konzepte beschreiben
zwar die Entstehung und Bestimmung des Geschlechts als das Ergebnis
eines Netzwerkes von miteinander interagierenden Genen beziehungsweise
deren "abgelesenen" Produkten, doch zugleich besteht aber die
Vorstellung fort, diesem Netzwerk sei ein einzelnes Gen
vorgeschaltet, eine Art "Mastergen", das die Entwicklung von "weiblich"
zu "männlich" letztendlich determiniere. Die Auffassung,
"männlich" entwickle sich aktiv und "weiblich" passiv, blieb in der
Forschung zentral, und wurde mit Theorien der Chromosomen- und
Genforschung unterfüttert, wobei seit den 1970er Jahren mehrere Gene als
Kandidatinnen vorgeschlagen und wieder verworfen wurden. 1990
beschrieben schließlich Andrew Henrik Sinclair et al. ein Gen als den
gesuchten Faktor und benannten ihn als Sry (sex determining region Y).
Allerdings stellte sich rasch heraus, dass Sry die umfassenden
Erwartungen nicht erfüllte, denn in Experimenten wurde Mäusen mit
XY-Chromosomensatz ein DNA-Abschnitt, auf dem die Sequenz des Sry-Gens
lokalisiert war, entnommen und in Mäuse mit XX-Chromosomensatz
eingesetzt. Das Ergebnis war, dass sich "nur" bei einem Viertel der
Mäuse ein als männlich angesehenes Erscheinungsbild ausbildete. Ein
männliches Erscheinungsbild wurde bei jenen Mäusen mit
XX-Chromosomensatz vollständig vermisst, die ein menschliches Sry-Gen
erhalten hatten. Später wurde beobachtet, dass auch bei Menschen mit
XY-Chromosomensatz und unvollständig ausgebildeten Hoden "nur" in zehn
bis fünfzehn Prozent der Fälle eine Veränderung des Sry-Gens vorlag. War
hingegen bei männlichem Erscheinungsbild und mehr oder weniger
vollständig entwickelten Hoden ein XX-Chromosomensatz vorhanden, so
konnte in vielen Fällen kein Sry-Gen nachgewiesen werden. All diese
Beobachtungen relativierten die Vorstellung, dass Sry eine weitreichende
Bedeutung in der Geschlechtsentwicklung habe.
Generell setzt sich in der Biologie
die Auffassung durch, dass Entwicklungsprozesse nicht einfach auf die
Wirkung eines oder weniger Gene reduziert werden können. Stattdessen
zeigt sich, dass verschiedene Gene beziehungsweise Genprodukte in
komplexer Weise zusammenwirken und auf Einflussfaktoren der Zelle, des
Organismus sowie der Umwelt reagieren. Dass es auch bei der
Geschlechtsentwicklung um Prozesse und deren Regulation gehen muss, wird
bereits aus der Struktur der DNA sowie aus den vielfältig untersuchten
und dennoch noch nicht genau verstandenen Prozessen der Transkription
und Translation deutlich. Sie sind notwendig, damit aus DNA überhaupt
erst für die Zelle und den Organismus verwertbare "Information" gebildet
wird.
Für den Prozess der Geschlechtsentwicklung ist daher festzuhalten: Erst
durch vielfältige Prozesse wird aus einer DNA-Sequenz ein in der Zelle
wirksames Genprodukt, und aus einer einzigen DNA-Sequenz, die
"abgelesen" wird, können zahlreiche verschiedene Genprodukte auf der
Ebene der mRNA- und der Aminosäuresequenz gebildet werden.
Unterschiedliche Längen der Aminosäuresequenzen, verschiedene
angelagerte chemische Gruppen, verschiedene Faltungen der resultierenden
Proteine bedeuten für die jeweiligen Genprodukte auch, dass sie
obgleich sie von einer einzigen DNA-Sequenz, einem einzigen Gen stammen
unterschiedliche Lokalisationen in der Zelle, unterschiedliche
Aktivitäten und unterschiedliche Reaktivitäten aufweisen können. Die
Expression eines Gens sagt also wenig über das entstehende Genprodukt
und dessen Wirkungen in der Zelle aus. Die Komplexität wird noch
deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass vom Genom, also der
gesamten DNA-Sequenz eines Organismus, nur etwa vier bis fünf Prozent so
etwas wie Gene darstellen. Und selbst innerhalb dieses Bereichs findet
sich zu einem größeren Teil "nicht-codierende" DNA-Sequenz, die bei der
Modifikation der primären mRNA sequenzspezifisch erkannt und entfernt
wird. Nur etwa zwei Prozent der gesamten DNA-Sequenz
stellen tatsächlich "codierende" Bereiche, also Gene dar. Der Rest der
DNASequenz wurde bis vor einigen Jahren vielfach als "Müll-DNA"
beschrieben, eine Wertung die mittlerweile als falsch gilt, da ihr
vielfältige Funktionen in der Regulierung der Gen-Expression
zugeschrieben werden.
Das Verständnis der Geschlechtsentwicklung muss vor diesem
Hintergrund daher überdacht werden: Chromosomen, Gene und andere
Faktoren determinieren nicht das biologische Geschlecht, vielmehr bilden
sich als geschlechtlich betrachtete Merkmale entsprechend den
individuell spezifisch wirkenden Faktoren in einem Prozess aus, dessen
Ergebnis nicht vorbestimmt ist. Ein solcher Prozess
ist zu jedem Zeitpunkt offen für verschiedenste Einflüsse der Zelle,
des Organismus und der Umwelt. Daher prägen sich Merkmale und das
betrifft auch die Genitalien individuell unterschiedlich aus, so dass
zahlreiche Kombinationen auch zwischen heute als "weiblich"
beziehungsweise "männlich" betrachteten Merkmalen auftreten. Somit
stellt die binäre Einteilung in "weiblich" und "männlich" lediglich eine
gesellschaftliche Einordnung dar, die vielfach noch mit einer Auf- oder
Abwertung verbunden ist. Auch eine Ableitung dieser Einteilung aus dem
Kriterium der Fortpflanzungsfähigkeit, wie sie gesellschaftlich vielfach
vollzogen wird, muss überdacht werden. So ist, wenn man allein von den
organischen Voraussetzungen ausgeht, Fortpflanzung weit seltener
tatsächlich möglich, als populär angenommen. Die derzeitige
biomedizinische Forschung, die sich immer mehr mit Komplexität
konfrontiert sieht, lässt für das Geschlecht zumindest eine
Schlussfolgerung mit Gewissheit zu: "Weiblich" und "männlich" gibt es nicht,
vielmehr entwickeln sich auch die Genitalien, und zwar individuell
unterschiedlich, sodass schließlich eine Betrachtung von Prozessen dazu
beitragen könnte, die tatsächlich auftretende Variabilität an Merkmalen
wahrzunehmen und besser zu verstehen, wie sich Geschlecht entwickelt.
Literatur
Berghammer, M. L. & Pichler, D. (2009). Roberta trifft Robert, oder: Wie Mädchen und Buben selbstständig und selbsttätig technische Aufgaben lösen. Zeitschrift für Erziehung und Unterricht, 159, 834-843.
Bourdieu, Pierre (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt: Suhrkamp.
Meyer, K. (2013). Wider Natur und Schöpfungsordnung? NZZ vom 18. Dezember.
Neef, Martin (2018). Das Konzept des sogenannten ‚Geschlechtergerechten Sprachgebrauchs‘ aus sprachwissenschaftlicher Sicht. In Imke Lang-Groth & Martin Neef (Hrsg.), Facetten der deutschen Sprache. Berlin: Peter Lang.
Voß, Heinz-Jürgen (2009). Angeboren oder entwickelt? Zur Biologie der
Geschlechtsentwicklung. In GID-Redaktion (Hrsg.), Aus dem Bio-Baukasten:
SeXY Gene, GID SPEZIAL Nr. 9.
Wuttig, Bettina (2010). Der traumatisierte
Körper, die vibrierende Ruhe und die Kraft der Vergesslichkeit. Zum
Verhältnis von Körper, Trauma und Geschlecht (S. 351-365). In Anke
Abraham & Beatrice Müller (Hrsg.), Körperhandeln und Körpererleben.
Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld:
transcript.
https://www.welt.de/kultur/plus217170354/Argumente-gegen-das-Gendern-die-Sie-anderswo-nie-lesen.html (20-10-07)
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