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Essstörungen


Siehe auch das Spezialthema Esstörungen bei Jugendlichen mit folgenden Arbeitsblättern:

Essstörungen sind häufig auftretende psychosomatische Erkrankungen, zu denen die Anorexia nervosa (Magersucht) und die Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) gezählt werden. Die Adipositas (Fettsucht) kann eigentlich nicht als Essstörung bezeichnet werden, da kein regelhafter Zusammenhang zu seelischen Problemen gefunden wird. Häufig werden psychosomatische Formen der Adipositas als psychogene Adipositas oder Binge-Eating-Disorder (Heißhungerstörung) klassifiziert.

Prävalenzstudien von Essstörungen zeigen, dass lediglich 1 % aller Essstörungen weltweit das männliche Geschlecht betreffen. Im Gegensatz dazu gibt es eine hohe Prävalenz für Essstörungen bei Frauen und in Berufsgruppen, in denen der soziale Druck schlank zu sein hoch ist, z. B. bei LeistungssportlerInnen, Models und TänzerInnen. Vorwiegend Frauen kommen in eine widersprüchliche Situation, einerseits sollen sie sich um das Wohlergehen und die Ernährung der Familie kümmern, andererseits müssen sie ständig auf ihre Linie achten, um den gesellschaftlichen Anforderungen nach Schlankheit gerecht zu werden. In einer feministischen Sichtweise ist essgestörtes Verhalten eine versuchte aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt, wenn auch mit selbstschädigenden Folgen.

Arten von Essstörungen im Überblick

Magersucht (Anorexia nervosa)

bezeichnet einen selbstverursachten bedeutsamen Gewichtsverlust oder eine unzureichende altersgemäße Gewichtszunahme, die mit der tief verwurzelten Überzeugung einhergeht, trotz Untergewicht zu dick zu sein. Kernsymptom der Magersucht ist eine Körperschemastörung, denn magersüchtige Patienten überschätzen ihren Körperumfang und halten sich trotz Untergewicht für zu dick. Bei der restriktiven Anorexia nervosa wird der Gewichtsverlust ausschließlich durch Einschränkung der Nahrungszufuhr und/oder verstärkte körperliche Aktivität erreicht. Die Anorexia nervosa mit zusätzlichen Gewichtsreduktionsmethoden nutzt selbstherbeigeführtes Erbrechen, Abführmittel- und/oder anderer Medikamentenmissbrauch für das Ziel der Gewichtsabnahme. Bei der Anorexia nervosa mit bulimischen Attacken werden die Zeiträume eingeschränkter Nahrungszufuhr durch sogenannte Essattacken unterbrochen. Die kindliche Anorexia nervosa beginnt meist vor Eintritt in die Pubertät und geht mit einem Stillstand oder einer Verzögerung der pubertären Entwicklung und/oder des Wachstums einher.

Die Bulimie (Bulimia nervosa)

äußert sich durch häufig auftretende Essattacken, denen der Versuch folgt, den "dickmachenden" Effekt der Nahrung durch unterschiedliche Verhaltensweisen (selbstherbeigeführtes Erbrechen, Abführmittelmissbrauch, Fasten) entgegenzuwirken. Diesen Versuchen liegt die krankhafte Furcht zugrunde, zu dick zu werden, also wie bei der Anorexie ist eine vorangehende Körperschemastörung zu vermuten. Der Häufigkeitsgipfel dieser Essstörung liegt bei 18 bis 20 Jahren. Bulimische Menschen können unter-, norm- oder auch übergewichtig sein, sie haben jedoch meist ein sehr schlankes Körperideal. Unterschieden werden die folgenden Untergruppen: Bulimia nervosa mit Anorexia nervosa in der Vorgeschichte, Bulimia nervosa ohne Anorexia nervosa in der Vorgeschichte und die gleichzeitige Erkrankung an Anorexia und Bulimia nervosa, das heißt zusätzlich ein erhebliches Untergewicht und Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation).

Ein tiefgehendes Schamgefühl führt dazu, dass die Betroffenen ihre Krankheit lange Zeit verheimlichen und sich sozial isolieren. Häufig treten auch Depressionen unterschiedlichen Schweregrades und selbstverletzendes Verhalten (SVV) auf.

Die Adipositas

kann die Folge eines ganzen Bündels von Faktoren sein, zum Beispiel emotionaler Störungen, Angst oder Depression, genetische Veranlagung, Eigenheiten des Stoffwechsels und andere physische Merkmale, aber auch gesellschaftliche Einflüsse. Übergewichtige sehen sich selbst negativer als Normalgewichtige und in vielen Fällen ist eine psychotherapeutische Behandlung notwendig.

Binge Eating

bedeutet wörtlich "gieriges Essen, vollstopfen". Das Binge-Eating entspricht gewissermaßen einer Bulimie ohne Erbrechen oder andere gewichtsreduzierende Manipulationen (die man als "purging" bezeichnet) und ist daher oft mit Übergewicht verbunden. Betroffene haben Schwierigkeiten bei Gewichtsreduktionsprogrammen und nehmen schnell wieder zu, nicht selten über das ursprüngliche Gewicht hinaus. Das Binge-Essverhalten besitzt häufig eine Suchtdynami, sodass eine tiefergehende Verbesserung erst mit einer therapeutischen Auflösung der ursächlichen Problematik möglich ist.

Ursachen

Problematisierungsweisen von menschlichem Verhalten sind nach Foucault (2012) zentrale Prozesse der Subjektivierung, wobei ein Subjekt zu einem Begriff von sich selbst weniger über die Sprache davon kommt, was normal ist, als davon was nicht normal ist. Problematisierungen sind demnach als Teil der Maschinerie zur Hervorbringung von Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen zu verstehen. Da die Problematisierung als Wirkungsweise von Macht gerade auf die Selbststeuerung der Individuen zielt, sind die Orte der Machtausübung paradoxerweise häufig jene, an denen es keine Pflicht und kein Verbot gibt. Das trifft auch auf den Bereich der Ernährung zu, wie auch auf viele weitere Formen von Eigenkörperregierungen, was auch die Fülle an öffentlichen Problematisierungsmechanismen in diesem Bereich erklärt. So gibt es eine große Anzahl an moralisch konnotierten Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Essen und Trinken, was nicht zuletzt zu einer Etablierung und Popularität von Fitnessstudios führte und diese somit als Zeugnis der wachsenden Bedeutung eines idealisierten Normalkörpers und einer diesen kultivierenden Lebensweise gesehen werden können. Somit sind auch die Imperative zur körperformenden Sportausübung, wie sie in Magazinen und in der Werbung für Fitnessstudios angepriesen werden, ein Teil der Ernährungsethik, die den menschlichen Körper als Zeichen für den Erfolg einer Selbstregierung symbolisiert.

Die Ursachen der Essstörungen werden also durch viele Faktoren bedingt. Familiäre, soziale und soziokulturelle Einflüsse, biologische Faktoren sowie solche der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung spielen dabei eine Rolle. Ernährung dient einem fundamentalen menschlichen Basisbedürfnis und ist eine Voraussetzung für Gesundheit und Entwicklung. Ernährung erfüllt aber nicht nur das Bedürfnis der körperlichen Existenzerhaltung, sondern hat über ihre materiell-biologische Funktionhinaus weitere wichtige Funktionien:

Die massive Wirkung von sozialen Wertvorstellungen wird am modernen Schlankheitsideal deutlich. Insbesondere in der westlichen Wohlstandsgesellschaft existiert ein zunehmend negatives Image von Übergewichtigkeit. Übergewichtigen wird ein undiszipliniertes Ernährungsverhalten, mangelnde Selbstkontrolle und allgemein eine Abweichung von der dominierenden Leistungsideologie unterstellt. Insbesondere Mädchen und Frauen verbinden mit dem äußeren Aussehen und seit einigen Jahrzehnten mit Schlanksein hohe persönliche Bewertung, Achtung und damit auch Selbstwertgefühl. Bevorzugt Mädchen und Frauen registrieren, dass ihre Geschlechtsgenossinnen, die die gewünschten Merkmale aufweisen, hohe Zuwendung und Beachtung genießen, in vielen alltäglichen Lebenszusammenhängen Bevorzugungen erfahren. 

Umgekehrt erleben Mädchen und Frauen, die glauben, diese begehrten äußeren Erscheinungsformen nicht aufzuweisen, dass sie diese Art der Bewunderung, der Beachtung, der Bevorzugung nicht erfahren, eher im Gegenteil: Sie fühlen sich abgewertet, verhöhnt, ignoriert. In der Hoffnung, diese privilegierte Position der Schönen, Begehrten und Bewunderten beziehen zu können, sind viele Mädchen und Frauen nicht selten nahezu wahnhaft darum bemüht, diesem vermeintlichen Ideal der Schlankheit nachzueifern und darüber ihr natürliches Bedürfnis, sich ausgewogen und hinreichend zu ernähren, in gesundheitsschädigender Weise zu unterdrücken. 

Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass bei an Bulimie erkrankte Menschen andere Regionen des Gehirns aktiv sind als bei Personen mit Heißhungerattacken ohne Erbrechen (Binge-Eating-Disorder). Ergebnisse wie diese können unter Umständen in Zukunft die Therapie von Essstörungen verbessern.

Nach einer Erhebung aus dem Jahr 1998 leiden rund 200.000 ÖsterreicherInnen an Essstörungen.

"Ich wollte nicht mehr so pummelig aussehen. Ich fand mich am Bauch, den Oberschenkeln und an den Hüften viel zu dick und wabbelig. Ich wollte so aussehen wie Irina, der Star unserer Klasse. Deshalb nahm ich ab. Die ersten Pfunde purzelten rasch. Ich war ziemlich euphorisch. Doch dann ging es nur noch im Schneckentempo. Mit 37 Kilo fand ich mich in Ordnung, hatte aber panische Angst wieder zuzunehmen. (...) Wenn ich ein Mädchen in der U-Bahn in einen Krapfen beißen sah, dachte ich nur: 'Die kann sich das ja leisten, die ist dünn. Aber ich? Nein, ich kann das wirklich nicht machen. Ja, wenn ich noch schlanker wäre...'"

Entnommen aus

Essstörungen Muck, Evelyne (2003). Wenn Töchter nichts mehr essen - Magersucht bei jungen Mädchen. In Wassilios E. Fthenakis & Martin R. Textor (Hrsg.), Das Online-Familienhandbuch - www.familienhandbuch.de
WWW: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Fachbeitrag/a_Jugendforschung/s_872.html (02-04-15)
Unter Verwendung von
http://www.bulimie-online.de/angehoerige/information/info.htm (05-12-12)
http://www.meduniwien.ac.at/essstoerungen/ergebn1.html (06-01-05)

Das Essen

Das Sprichwort "Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen" verweist auf die elementare Bedeutung des Essens im Leben jedes Menschen. Essen und Trinken sind daher ein Ereignis, das jeden Menschen körperlich und seelisch erfasst und durch individuelle, interpersonelle und soziokulturelle Faktoren beeinflusst wird. Dass seelische Konflikte oder Leiden sich in diesem zentralen Lebensbereich als psychosomatische Störungen des Essverhaltens widerspiegeln, ist daher nicht verwunderlich. Das Essen ist etwas Alltägliches, immer Wiederkehrendes, und scheint auf den ersten Blick das Natürlichste und Selbstverständlichste der Welt zu sein. Es gehört zu den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen und ist verbunden mit sinnlichem Genuß und Wohlgefühl. Seit Menschengedenken gehört das gemeinsame Essen zum Ritual des Zusammenlebens. Redewendungen wie "Ich habe dich zum Fressen gern", "Es kotzt mich an" oder "So einfach lasse ich mich nicht abspeisen" zeugen davon, dass Menschen schon immer mit dem Essen eine Vielzahl unterschiedlicher Gefühle in Verbindung gebracht haben (Imgart 2002).

Am deutlichsten kann das bei Säuglingen beobachtet werden. Für sie ist die Aufnahme von Nahrung gleichzeitig Quelle der Sättigung und der Fürsorge. Nahrung und Zuwendung sind in diesem Stadium noch identisch

Im weiteren Entwicklungsverlauf ist für Babies und Kleinkinder von elementarer Bedeutung, die unterschiedlichen Bedürfnisse unterscheiden zu lernen. Dies setzt voraus, dass Eltern aufmerksam für die Bedürfnisse ihrer Kinder sind und nicht bei jedem Schreien des Säuglings automatisch Nahrung anbieten.

Die Untersuchung von Hintergrund-Faktoren zeigte, dass die Eltern übergewichtiger Kinder diese häufiger mit Nahrungsmitteln belohnen und dass übergewichtige Kinder in ihrem Essverhalten leichter durch äußere Reize und Emotionen störbar sind. Solche Unterschiede in der Mikrostruktur des Essverhaltens können langfristig zu einer erhöhten Kalorienaufnahme und damit zur Entstehung und Aufrechterhaltung des Übergewichts beitragen. Die Ergebnisse werden im Rahmen eines lerntheoretisch orientierten Modells diskutiert, das sowohl spezifischen innerfamiliären Konditionierungsprozessen als auch allgemeinen sozialen Stressreizen Bedeutung für den Erwerb eines ungünstigen Essstils zumisst (Laessle et al. 2001).

Im Jugendalter gibt es häufig rasante reale Veränderungen im Körper und in der Umwelt, etwa die Entwicklung der Brust und der Schambehaarung, die hormonell gesteuerte vermehrte Fetteinlagerung an den Hüften und am Gesäß sowie die phasenhafte, nicht steuerbare Erhöhung des Hormonspiegels. Familien müssen sich auf eine sich immer schneller ändernde Umwelt einstellen, die Pubertät und Adoleszenz eines Kindes verlangen daher eine Neudefinierung der Rollenverteilung. Ernährungsmuster von Jugendlichen können vor dem Hintergrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Einbindung in die Gleichaltrigengruppe und von jugendlichen Moden gedeutet werden. Ähnlich dem Drogenkonsum (Rauchen und Alkohol) ist auch das Ernährungsverhalten über soziale und jugendkulturelle Einflüsse bestimmt. Besonderheiten des Lebensstils und der Gleichaltrigengruppen-Zugehörigkeit bilden ebenso wichtige Faktoren des Ernährungsverhaltens wie Alter, Geschlecht, familiäre Einbindung und das soziale Umfeld. Wie auch bei Erwachsenen stehen im Jugendalter Mangel-, Fehl- oder Überernährung für eine Vielzahl von gesundheitlichen Beschwerden bzw. hyperkalorische und fettreiche Lebensmittel für eine gesundheitsabträgliche Ernährung. 

Aktuelle Studien berichten über eine Zunahme von essgestörtem Verhalten bei Schülern und Studenten. Diäten, Essattacken und exzessives Sporttreiben zur Gewichtsreduktion verbreiten sich immer mehr. In immer jüngerem Alter erkranken Mädchen, besonders die Bulimie breitet sich aus. Auch sind vermehrt Jungen davon betroffen.

Häufig werden die im Kindes- und Jugendalter eingespielten und verfestigten Gesundheitsverhaltensmuster und Ernährungsgewohnheiten im weiteren Lebensverlauf beibehalten. Aus diesem Grunde kommt der Analyse der Einflussfaktoren auf die Ernährungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen eine herausragende Bedeutung zu. 

Kinder und Jugendliche reagieren sehr sensibel auf problematische Konstellationen in ihren Lebensbedingungen. Häufig entstehen in diesem Zusammenhang Symptome der Gesundheitsbeeinträchtigung und gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen. Wichtige Einflussfaktoren auf das Gesundheits- und speziell das Ernährungsverhalten sind Beziehungsprobleme mit den Eltern, Belastungen und Anforderungen im Schulalltag, mangelnde Einbindung in die Gleichaltrigengruppe, schwierige Freundschaftsbeziehungen sowie Verunsicherungen durch politische und soziale Zukunftsperspektiven. Die verschiedenen Formen gesundheitsgefährdender Verhaltensweisen gehören in die Kategorie individueller Ausdruckmittel der Lebensbewältigung im Jugendalter. 

Generell kann gesagt werden: Je privilegierter die soziale Position und je stärker das elterliche Unterstützungsverhalten ist, desto positiver ist auch das Ernährungsverhalten. Dies belegt den starken Einfluss des sozialen und familialen Rückhalts für das Ernährungsverhalten der Jugendlichen. So wirkt sich die Anzahl der Abende, die außer Haus verbracht werden, sowie der Umfang des Fernsehkonsums deutlich negativ auf das Ernährungsverhalten aus. Je mehr Zeit vor dem Fernseher und je mehr Abend mit Freunden außer Haus verbracht werden, desto ungünstiger ist das Ernährungsverhalten.

In den Familien sind die gemeinsamen Mahlzeiten - oft der einzige - zentrale Ort der Kommunikation und Identitätsbildung, wie etwa die familiären Traditionen der Festtagsessen zu Weihnachten. Viele soziokulturelle Entwicklungen wurzeln in der Menschheitsgeschichte im gemeinsamen Erobern, Produzieren und Verzehren von Nahrung.

Auch wenn das Differenzierungsvermögen gut entwickelt werden konnte, kennen die meisten Menschen auch als Erwachsene bestimmte Situationen, in denen Essen mit unterschiedlichen Gefühlszuständen eng verbunden ist. Manchen können Spannungen "auf den Magen schlagen", so dass "nichts mehr runtergeht", andere "stopfen sich" gerade dann "den Bauch voll" und setzen "Kummerspeck" an.

Es finden sich charakteristische geschlechtsspezifische Unterschiede des Ernährungsverhaltens. Mädchen und Frauen bekommen noch immer ungleich stärker als Männer bzw. Jungen von ihrer Außenwelt vermittelt, dass ihr persönlicher Wert in hohem Maße mit dem körperlichen Erscheinungsbild im Zusammenhang steht. Konsequenterweise haben Frauen und Mädchen ein sehr großes Interesse an Fragen des Körpers, des Gewichts und der Ernährung. Dies führt in der Regel zu einem bewussteren Ernährungsverhalten, aber auch zu einer größeren Anfälligkeit für extreme Ausprägungen wie Essstörungen verschiedenster Art mit den extremen Folgen von Unterernährung auf der einen und Übergewicht auf der anderen Seite.

Während diese Essstörungen bei den meisten Menschen mit dem Beheben der Probleme wieder vergehen, gibt es inzwischen eine Vielzahl, vor allem Frauen, bei denen sich die Essstörung zur Krankheit verfestigt. Die davon Betroffenen verfügen nicht mehr über die Freiheit, sich angemessen zu ernähren. Neben persönlichen Problemen steht im Vordergrund das kollektive Werturteil, dass Schlankheit für die meisten Menschen der westlichen Industrienationen zur universellen Idealvorstellung des Körpers geworden ist und vor allem bei der Bewertung von Frauen gleichgesetzt wird mit Schönheit und Attraktivität. Diesem Schönheitsideal entsprechen zu wollen, bedeutet für viele Frauen, sich zu dick zu fühlen und auf Diäten zu setzen, die eine schnelle Gewichtsabnahme versprechen. Obwohl Eßprobleme nicht ausschließlich mit Gewichtsproblemen gleichzusetzen sind, kann eine Diät unbewußt den ersten Einstieg in eine Essstörung bedeuten.

Erste Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten liegen vor, wenn eine übertriebene Beschäftigung mit der Nahrung und ständige Gedanken an das Essen bzw. Nichtessen bestehen. Fast jede Essstörung beginnt mit einer Diät.

Orthorexia nervosa

Orthorexia nervosa charakterisiert eine Besessenheit vom gesunden Essen bzw. krankheitswertigem Gesundessen. Dabei handelt es sich um eine Essstörung, bei der die ständige Sorge um Gesundheit zu einer krankhaften Fixierung auf gesundes Essen führt. Wie auch bei der Anorexie oder Bulimie wird der Nahrungsaufnahme ein übertrieben hoher Stellenwert im Alltag eingeräumt. Es kommt zu einem Genussverlust bei der Nahrungsaufnahme, denn Lebensmittel werden ständig in gut und schecht, gesund und ungesund einteilt, wobei man mit der Zeit immer weniger verschiedene Nahrungsmittel zu sich nimmt. Meist findet man diese Esssucht noch im subklinischen Bereich, aber Orthorektiker mit vollem Krankheitsbild sind besessen davon, ihre Umwelt zu missionieren, denn sie können nicht akzeptieren, dass andere Menschen etwas anderes essen wollen.

Quelle:
Kunze, Michael, Kiefer, Ingrid & Kinzl, Johann (2004). Besessen vom Essen. Kneipp Verlag.

Die Betroffenen

In Deutschland leiden 5 Prozent aller Frauen zwischen dem 14. und 35. Lebensjahr an einer Magersucht oder Bulimie. Die Bulimie tritt zwei- bis viermal häufiger auf als die Anorexie. An einer Magersucht erkranken am häufigsten weibliche Jugendliche, an einer Ess-Brechsucht junge Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. 15 Prozent der Gesamtbevölkerung sind behandlungsbedürftig adipös. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen; eine Häufung der Erkrankung gibt es zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr.

Allerdings leiden immer mehr Männer an Anorexie und Bulimie, derzeit sind 5 bis 10 % aller Erkrankten Männer. Trotz der Vielzahl von essgestörten Frauen und zunehmend Männern bleiben die meisten unbehandelt. 90 % der Betroffenen sind Frauen im Alter zwischen dem Beginn der Pubertät und dem 45. Lebensjahr. Sie leiden entweder an Eß-Brechsucht (Bulimia nervosa), Magersucht (Anorexia nervosa), Essattacken (Binge-Eating-Disorder) oder an Esssucht oder latenter Esssucht.

Nach Angaben des Ernährungspsychologischen Instituts der Universität Göttingen ist jede zweite deutsche Frau eßgestört. Es "gibt (...) kaum eine Frau, die auf ganz natürliche Weise mit dem Essen umgehen kann, die keine Waage, keine Diäten kennt, und ißt, worauf sie Appetit hat." Bereits 1984 erklärte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, dass die Essstörungssymptomatik verstärkt und erschreckend bei jungen Mädchen um sich greife, mindestens 50 % der bis 18jährigen habe mindestens schon eine Diät gemacht. Kennzeichnend für eine Essstörung ist die Tatsache, dass der Alltag der Betroffenen zwanghaft um das Thema Essen kreist. Aber nur wenige gestehen sich ein, dass mit ihrem Eßverhalten etwas nicht stimmt.

Gemeinsame Aspekte

Die Übergänge der Essstörungs-Erscheinungsformen sind fließend Grundsätzlich sind die Erscheinungsformen der Essstörungen nicht eindeutig voneinander abgrenzbar, die Übergänge können fließend sein. So können sowohl Esssüchtige als auch Magersüchtige nach dem Essen erbrechen. Magersucht kann sich zur Esssucht oder Eß-Brechsucht wandeln und umgekehrt.

Kennzeichnend für eine Essstörung ist die Tatsache, dass der Alltag der Betroffenen zwanghaft um das Thema Essen kreist. Während Magersüchtige mit größtem Energieaufwand versuchen, das Essen auf ein Minimum zu reduzieren, fühlen Esssüchtige sich ohne Einfluß ihrem Eßzwang ausgeliefert, und Eß-Brechsüchtige versuchen dem Dickwerden zu entfliehen, indem sie ihr Essen wieder erbrechen. Essen ist mit Angst, Scham, Depressionen und Wut verbunden. Ansonsten werden Gefühle jedoch verleugnet und die Sucht wird vor sich selbst und vor anderen verborgen. Hunger und Sattheit können nicht mehr differenziert wahrgenommen werden. Ein zentrales Element aller Essstörungen ist der ständige Kampf um Kontrolle, sodass aus Angst vor totaler Zügellosigkeit und Überwältigung Hunger und alle Arten von Gefühlen unterdrückt und verdrängt werden. Der eigene Körper wird ständig überwacht, damit die Betroffenen das Gefühl haben, wenn schon nicht das Erscheinungsbild doch wenigstens die physischen und psychischen Bedürfnisse im Griff haben zu können. Viele von Essstörungen Betroffene ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück und haben große Schwierigkeiten, in einen tieferen Beziehungskontakt mit anderen Menschen zu treten. Hinzu kommt, dass die Betroffenen gerade in diesem Bereich besonders viel Kraft aufwenden müssen, um mit dem Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und Verständnis und der Angst vor zu engen Kontakten zurechtkommen zu können. Generell werden Bedürfnisse nur indirekt über die Sucht geäußert, da betroffene Menschen mit Situationen, die mit Stress, Angst und Anspannung verbunden sind, nur schwer aushalten. Sie lösen diese Situationen ausschließlich mit übermäßiger Nahrungsaufnahme oder -verweigerung, denn alternative Strategien wurden nie richtig erlernt.

Neben der Beschäftigung mit dem Thema "Essen" nimmt das Thema "Heimlichkeit" einen wichtigen Platz ein. Eßgestörte Frauen essen in der Regel ganz oder teilweise in Abgeschiedenheit von anderen Personen. Den meisten Frauen fällt es schon schwer, vor sich selbst einzugestehen, dass mit dem eigenen Eßverhalten etwas nicht stimmt. Noch schwieriger ist es, darüber mit anderen Menschen zu reden. Häufig nehmen sie erst nach mehreren Jahren einen Anlauf, sich für ihre Krankheit professionelle Unterstützung zu suchen.

Alle von Essstörungen Betroffenen haben wenig Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Sie erleben ihren Körper als nicht zu ihnen gehörend und sind in der Regel wenig konfliktfähig. Statt Ärger und Konflikte nach außen zu tragen, werden sie selbstschädigend und aggressiv im und am eigenen Körper ausgetragen.

Latente Esssucht

Diese Bezeichnung steht für ein andauerndes, streng kontrolliertes Essverhalten (lebenslange Diät). Für latent esssüchtige gehört die Beschäftigung mit dem Essen und der Figur zum Alltag. Sie sind davon überzeugt, dass sie ihr "normales" Gewicht nur durch ein stenges Kontrollsystem halten können. Das "eine Mal zuviel essen" wird mit Fasten oder Diät ausgeglichen. Auch latent esssüchtige Frauen haben häufig ein verzerrtes Selbstbild und eine Fremdheit dem eigenen Körper gegenüber. Der Übergang zur Magersucht oder Bulimie kann fließend sein. Die Verhaltensweisen von latent esssüchtigen Frauen werden innerhalb unserer Gesellschaft als fast alltäglich und normal akzeptiert. Das gesellschaftlich anerkannte Idealbild der schlanken Frau wirkt sich fatal für immer mehr Menschen, die diesem Ideal nicht entsprechen, aus. Sie leiden, auch ohne esssüchtig zu sein, unter Minderwertigkeitsgefühlen, Hemmungen, Kontaktschwierigkeiten und einem gestörten Körpergefühl. Gerade bei mäßigem Übergewicht entstehen körperliche Folgeschäden oft erst durch das seelische und soziale Leiden, ausgelöst durch das Schlankheitsideal. Siehe dazu auch die Orthorexia nervosa.

Kurioses Detail

Amerikanische Neuropsychologen fanden schließlich heraus, dass bei einigen Menschen der Genuß von Schokolade zur Sucht führen kann. Bei Versuchspersonen, die sich schnell mit Schokolade vollstopfen, fanden die Forscher vermehrte Gehirnaktivität in den Bereichen, die mit Sucht in Verbindung gebracht werden. Bei den Probanden, die nur genußvoll Schokolade verzehrten, zeigte die Gehirnregion keine Aktivität.

Quelle:
Oberösterreichische Nachrichten, 7. Jänner 2002

Zur Geschichte von Essstörungen

Die soziokulturelle Bedeutung abweichenden Essverhaltens hat sich im Laufe der Geschichte mehrmals gewandelt. Das Fasten war im Mittelalter Bestandteil einer asketischen Lebensweise, die religiös-mystische Erlebnisse ermöglichen soll. Berühmte Beispiele sind die Fastenheiligen des Spätmittelalters (z. B. Prinzessin Margarethe von Ungarn) und die Hungerkünstler und säkularen Fastenwunder des 16. bis 19. Jahrhunderts. Nahrungsverweigerung wurde auch immer wieder zur Durchsetzung von politischen Motiven verwendet. Ein Beispiel sind die Hungerstreiks von Mahatma Gandhi im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens. Abweichendes Essverhalten wurde erstmals 1694 durch den Londoner Arzt Richard Morton als Krankheitsbild beschrieben. Er bezeichnete diese Störung als "nervous consumption". Essstörungen und Übergewicht treten heute fast ausschließlich in westlich orientierten Ländern auf, wo das sichere und reichliche Vorhandensein von Nahrungsmitteln gewährleistet bzw. ein Überfluss an Nahrung vorhanden ist. Was und wieviel gegessen wird, hängt wesentlich von Zweck und Ziel des Essens ab. Es wird gegessen bzw. gefastet, um die Gesundheit zu stärken, die Stimmung zu heben oder den eigenen Körper zu gestalten.

Quelle

http://www.meduniwien.ac.at/essstoerungen/ergebn1.html (06-01-05)

Weitere Quellen und Literatur

Teile des Textes entstammen Schriften des "GVS Gesamtverbandes für Suchtkrankenhilfe", Kassel.

Brumberg, J.J. (1994). Todeshunger. Die Geschichte der Anorexia nervosa vom Mittelalter bis heute. Frankfurt: Campus Verlag.

Cuntz, U. & Hillert, A. (1998). Essstörungen. Ursachen, Symptome, Therapien. München: Beck.

Foucault, Michel (2012). Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Laessle, R. G. et al. (2001). Familiäre Einflussfaktoren für den Essstil übergewichtiger Kinder. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 2.

Imgart, Hartmut (2002). Essstörungen.
WWW: http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/essstoerungen1.html (04-10-22)

Janssen, P.L., Senf, W. & Meermann, R. (Hrsg.). (1997). Klinik der Essstörungen. Magersucht und Bulimie. Stuttgart. Fischer.

Reich, G. & Cierpka, M. (Hrsg.). (1997). Psychotherapie der Essstörungen. Stuttgart: Thieme.

Vandereycken, W., van Deth & Meermann, R. (1990). Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Essstörungen. Zülpich: Biermann.

http://wwwm.htwk-leipzig.de/~schweika/Drogenprojekt/Gruppe3/Ordner1/Kauf3.html (00-04-27)

http://sozialarbeitspsychologie.de/bed.htm (02-01-19)

http://www.ginespage.de/referat.html (03 01 11)



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