Wie funktioniert unser Gedächtnis?
Das Gedächtnis ist das Tagebuch, das wir immer mit uns herumtragen.
Miss Prism in Bunbury or The Importance of Beeing Earnest von Oscar Wilde
Gedächtnismoleküle und die Theorie der Großmutterzelle
Schon lange haben Forscher nach dem Sitz des Gedächtnisses gefahndet. Dabei kamen allerlei merkwürdige Vorstellungen auf. In den 50er und 60er Jahren beispielsweise versuchte man, sogenannte "Gedächtnismoleküle" nachzuweisen. Erinnerung sollte nach dieser Theorie in Form verschiedenster Eiweißstoffe im Gehirn existieren. Einer der Anhänger dieser Richtung, der Neurophysiologe James McConnell, stellt einige recht ausgefallene Experimente an: Er brachte Plattwürmern bei, Licht zu meiden. Taten sie es, so zerkleinerte McConnell sie in einem Mixer und verfütterte sie an Artgenossen, die dann angeblich auch das Licht mieden. Die New York Times titelte daraufhin: "Verspeisen Sie Ihren Professor".
Mc Connells aufsehenerregender Versuch ging später als Irrtum in die Wissenschaftsgeschichte ein. Bis in die 70er Jahre war die Theorie der Großmutterzelle aktuell. Danach sollte eine Erinnerung, zum Beispiel die an die eigene Großmutter, in einer einzigen Nervenzelle gespeichert sein. Eine einfache Überlegung widerlegte schließlich diese Idee: Da im Gehirn laufend Nervenzellen absterben, würde es zu einem dauernden Auslöschen von einzelnen Gedächtnisinhalten kommen. Auch die Erinnerung an die Großmutter würde irgendwann einfach ausgeknipst - was offensichtlich nicht der Realität entspricht. Die Theorie konnte sich nicht halten. Heute geht man eher davon aus, dass Erinnerungen in einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Zellen verschlüsselt sind, doch fand 2005 man auch Nervenzellen, die tatsächlich auf eine bestimmte Person reagierten, wobei in dem Experiment Bilder von Schauspielerinnen gezeigt wurden, sodass das Großmutterneuron auch schon in Jennifer-Aniston-Neuron umgetauft wurde. In einem Experimente an Epilepsiepatienten wurden Probanden Fotos bekannter Stars aber auch neutraler Objekte wie Katzen und Landschaften gezeigt. Einige Gehirnzellen im Hippocampus im mittleren Temporallappen zeigten dabei nur dann Aktivität, wenn ein Foto einer bestimmten Person gezeigt wurde, wobe iie Zellen dabei in der gleichen Weise auf verschiedene Bilder derselben Person reagierten und mit geringerer Intensität, auf den geschriebenen oder von einer Computerstimme gesprochenen Namen dieser Person. Offenbar reagieren diese Neuronen nicht nur auf visuellen Reize, sondern repräsentieren ein ganzes Konzept der jeweiligen Person. Diese Konzeptneuronen zeigen zwar Unterschiede in der Aktivität zwischen Bildern und Namen, aber die Unterschiede zwischen den gezeigten Personen waren deutlich größer.
Chang & Tsao (2017) haben bei Primaten (Makaken) einen Code entschlüsselt, mit dem Nervenzellen die Besonderheiten von Gesichtern abbilden, wobei dieser äußerst einfach sein dürfte. Das Betrachten von Gesichtern wird bei Menschen und Primaten in speziellen Arealen im Schläfenlappen verarbeitet, wobei die darin befindlichen Nervenzellen nichts anderes tun, als Gesichter auszuwerten und reagieren auf keine anderen Objekte. Vermutlich haben sich diese spezialisierten Areale entwickelt, weil das Erkennen von fremd oder vertraut, feindlich oder wohlgesinnt für das Überleben unserer Vorfahren und der Primaten wichtig war. Diese Gesichtszellen von Affen reagieren aber auch auf menschliche Gesichter. Man verwendete 2000 Fotos von Gesichtern, für deren Darstellung 50 Parameter definiert wurden, wobei 25 Parameter die Gesichtsform, zum Beispiel den Augenabstand, beschrieben und 25 Aspekte des Erscheinungsbildes wie die Hautfarbe. Man präsentierte den Tieren die 2000 Gesichter und zeichnete die Aktivität von einzelnen Nervenzellen im Gesichtsareal des Gehirns auf, von denen einige jeweils auf bestimmte Parameter ansprachen. Eine Zelle reagierte etwa auf den Augenabstand, und zwar stärker auf eng stehende als auf weit auseinanderliegende Augen, eine andere reagierte auf die Hautfarbe proportional zur Helligkeit. Mithilfe eines Algorithmus berechneten man aus der Aktivität der Nervenzellen alle Merkmale und kreierte ein Phantombild, das das Original sehr gut repräsentierte.
Konzeptneuronen statt Großmutterzellen?
Bereits seit vielen Jahrzehnten ist bekannt, dass die beiden Schläfenlappen eine wichtige Rolle bei der Gedächtnisbildung spielen, d. h., Menschen, bei denen diese Gehirnregionen defekt sind, können keine neuen Informationen abspeichern. Nun sind nach neuen Forschungen die Konzeptneuronen in den Schläfenlappen für das Arbeitsgedächtnis von entscheidender Bedeutung, d. h., dieser Teil des Erinnerungsvermögens ist nicht nur in der präfrontalen Region des Gehirns angesiedelt, sondern über viele Areale verteilt. Bestimmte Konzeptneuronen feuern immer dann, wenn sie mit dem Bild oder dem Namen einer ganz bestimmten Person oder eines konkreten Objektes konfrontiert werden, wobei solche hoch spezialisierten Konzeptneuronen im Schläfenlappen des Gehirns eine wichtige Funktion für das Arbeitsgedächtnis erfüllen. Konzeptneurone haben ein sehr selektives Antwortverhalten, wobei die Stimulation der Konzeptneuronen nicht nur bei Menschen erfolgt, sondern auch bei Tieren, Landschaften und Objekten. Diese spezialisierten Zellen sind wichtig für die Gedächtnisbildung, denn das Arbeitsgedächtnis hält als ersten Schritt Informationen vorübergehend verfügbar. Man wies nun auch nach, dass die auf ein bestimmtes Motiv spezialisierten Konzeptneuronen so lange aktiv bleiben, bis ein neues Bild gezeigt und eine andere Nervenzelle gereizt wird. Dieser nachfolgende Stimulus hemmte die vorher aktivierte Nervenzelle, wobei die Konzeptneurone 0,4 Sekunden brauchen, um zu reagieren. Ist etwa ein Bilderfluss schneller, werden die Zellen wie bei einer Warteschlange nacheinander aktiviert, ohne dass die Informationen verloren gehen. Kornblith et al. (2017) konnten in Experimenten sogar anhand der Aktivierung der Konzeptneurone während der Arbeitsgedächtnisphase vorhersagen, ob sich die Probanden später richtig an ein bereits gezeigtes Bild erinnern werden.
Neuerdings scheint ein anderer Ansatz vielversprechender: die Transplantation von Gehirnzellen ;-)
Das Gehirn als Basis des Gedächtnisses
Literatur
Kornblith, Simon, Quian Quiroga, Rodrigo, Koch, Christof, Fried, Itzhak, Mormann, Florian (2017). Persistent Single-Neuron Activity during Working Memory in the Human Medial Temporal Lobe. Current Biology, 27,1026-1032.
http://www.techfak.uni-bielefeld.de GK518/antrag/Cruse.html http://www.ne-na.de/superlernen-die- rattenf-nger-der-neuro-konomie-und- warum-gehirnjogging-unfug-ist-wenn- die-birne-leuchtet-lernen-wir-nicht- besser-ein-profihirn-zeigt-wenig-aktivit-t/ (09-08-22)
Alle geistigen Funktionen beruhen auf chemischen und elektrophysikalischen Vorgängen in verschiedenen, klar voneinander abgrenzbaren Bereichen des Gehirns und sind als Folge der Auseinandersetzung von Tieren und Menschen mit seiner Umwelt evolutionär entstanden. Wenn sich ein Tier in einer Situation zwischen verschiedenen möglichen Verhaltensweisen entscheiden kann, setzt dies voraus, dass das Tier ein Gedächtnis besitzt, in dem das entsprechende Wissen niedergelegt ist. Oft ist dieses "Individualgedächtnis" funktionell kaum vom "Artgedächtnis" zu trennen, also dem Informationsspeicher, dessen Inhalt im Laufe der Evolution erlernt wurde. Wenn man dementsprechend unter Gedächtnis sowohl Art- als auch Individualgedächtnis versteht, so kann man sagen, dass alle verhaltenssteuernde Systeme ein Gedächtnis besitzen bzw. ein solches darstellen. Lernen und Gedächtnis sind dabei an die Kontaktstrukturen (Synapsen) zwischen Nervenzellen im Gehirn gebunden, denn diese ermöglichen einen elektrischen Informationsaustauschs zwischen Nervenzellen, sodass Lernen eine erfahrungsabhängige Veränderung dieser Kommunikation darstellt. Die Speicherung von Informationen im Gedächtnis ist demnach eine jeweils neue und dauerhafte Festlegung, mit welchen der vielen anderen Nervenzellen verstärkt oder vermindert kommunizieren werden kann. Jede Information betrifft immer sehr viele Nervenzellen und Synapsen, die in Nervenzellnetzen zusammengefasst sind. Da synaptische Kommunikation ein allgemeines Prinzip des Gehirns darstellt, können im Prinzip alle Hirnteile - vorwiegend werden jedoch Cortex und Hippocampus dafür genutzt - bis zu einem gewissen Grad lernen. Viele grundlegenden Zusammenhänge der Arbeit des Gehirns haben sich im Tierexperiment klären lassen, weil sie unter Einsatz moderner Methoden der Hirnforschung eine Kontrolle vieler Einflussfaktoren erlauben, sodass eine vorsichtige Übertragung auf den Menschen möglich scheint, da sich im Verlauf der Säugetierevolution Gehirne weder in der anatomischen Organisation, noch in den Prinzipien der Informationsverarbeitung bzw. der molekularen Mechanismen prinzipiell verändert haben. Menschen können auf Grund ihrer Hirngröße offenkundig mehr Informationen speichern und mit dieser Informationsmenge höhere kognitive Leistungen erzielen, aber die Mechanismen, nach denen die Informationsspeicherung abläuft, sind konstant geblieben.
Generell kann man das Gedächtnis in zwei Typen einteilen, indem man das prozedurale vom deklarativen Gedächtnis unterscheidet. Der Inhalt eines prozeduralen Gedächtnisses kann nur im Kontext einer bestimmten Prozedur, eines bestimmten Verhaltens abgerufen werden. Das Sitzen auf einem Fahrrad löst, falls man Radfahren gelernt hat, bestimmte motorische Aktivitäten aus, die bei anderen Verhaltensweisen, etwa beim Klavierspielen, nicht verwendet werden. Das prozedurale Gedächtnis besteht aus vielen im Nervensystem vorliegenden Einheiten, "Agenten", motorischen Programmen, "neuronale Ensembles" bzw. "Schemata", die bei einer in einem bestimmten Kontext gegebenen Reizsituation ein bestimmtes Verhalten auslösen. Das Konzept des prozeduralen Gedächtnisses ist leicht auf Tiere und sogar auf künstliche Systeme angewendbar, während dies beim deklarativen Gedächtnis nicht so einfach möglich ist, denn die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses sind nämlich dadurch charakterisiert, dass sie mit Worten beschrieben, also "erklärt" werden können, d.h., der Besitz von Sprache ist eine implizite Voraussetzung. Üblicherweise werden diese beiden Gedächtnistypen auch dadurch voneinander unterschieden, dass deklaratives Wissen im Unterschied zu prozeduralem Wissen "manipulierbar" sei (McFarland & Bösser 1993), das heißt, dass deklaratives Wissen sozusagen in Gedanken bewegt werden kann. Nun gibt es vermutlich fließende Übergänge zwischen beiden Bereichen. So stellt etwa das reine Vorstellen einer Bewegung, z. B. eines Körperteiles, ohne dass also diese Bewegung tatsächlich durchgeführt wird, Manipulation von Wissen dar, ist aber doch eng an prozedurales Wissen gebunden. Diese Fähigkeit zur Manipulation von Wissen ist vermutlich besonders wichtig in redundanten Situationen, in denen man sich also zwischen verschiedenen möglichen Verhaltensweisen entscheiden muß. Siehe dazu im Detail Inhaltsabhängige Gedächtnisformen.
Biologie und Psychologie billigen daher auch den höheren Tieren ein Bewußtsein zu, das zunächst nichts weiter ist als die Integration verschiedener sensorischer Nervenimpulse zu einer Ganzheit, von der aus das Verhalten zur Bewältigung von Aufgaben effektiver gesteuert werden kann. Das tritt zweifellos auch bei Vögeln und Säugetieren auf. Die Emergenz von Bewusstsein ist also mit ziemlicher Sicherheit ein Produkt der natürlichen Selektion in der Evolution. Experimentelle Untersuchungen zeigen, dass bei Tieren wie bei Menschen eine motorische Muskelreaktion gleichermaßen von der Großhirnrinde ausgeht, die über einen Impuls an das Kleinhirn die Muskelbewegung auslöst. Auch das Selbstbewusstsein des Menschen ist eine weitere emergente Entwicklung, die sich aus einem immer komplexeren Bewusstsein ergibt. Die gegenüber den Primaten besonders herausragenden Leistungen des Menschen bezüglich des räumlichen Sehens und Vorstellungsvermögens, des Lernens und des Gedächtnisses sowie des sprachlichen Ausdrucksvermögens und der Begriffsbildung haben sich im Verlaufe der letzten 4 Millionen Jahre entwickelt und sind an archäologischen Funden nachweisbar. Insbesondere das Gedächtnis als Grundlage aller höheren geistigen Aktivitäten beruht auf einer chemischen Verfestigung bestimmter evolutionär angelegter Hirnstrukturen und Nervenverschaltungen, die durch häufigen Gebrauch bis zu einem Grade stabilisiert werden können, dass die Gedächtnisinhalte für das ganze Leben erhalten bleiben.
Während Struktur und anatomischer Aufbau der beiden Hälften des Gehirns anscheinend keinerlei Unterschiede aufweisen, entwickelt sich nur bei den Hominiden eine ausgeprägte funktionale Asymmetrie. In der linken Hälfte des Gehirns entwickeln sich die sprachlichen, arithmetischen und begrifflichen Funktionen, in der rechten das räumliche Vorstellungsvermögen und das Musikverständnis. Die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hälften sind in den phylogenetisch am spätesten ausgebildeten Regionen der Hirnrinde konzentriert und bilden sich ontogenetisch erst im Kindesalter aus. Deshalb gibt es auch die seitenumgekehrte Asymmetrie und bei Hirnschäden im Kindesalter kann die andere Hirnhälfte die Funktionen der geschädigten Seite übernehmen. Auch die im frühen Kindesalter noch offene und spätere Festlegung ausgeprägter Fähigkeiten und Neigungen verweist auf diese Tatsachen. Durch die funktionale Asymmetrie konnte die Potenz der Hirnrinde des Menschen gegenüber dem Schimpansen auf das 5,4-fache gesteigert werden bei einem Anwachsen des Volumens auf das nur 3,2-fache. Inwiefern das Selbstbewusstsein auf beide Gehirnhälften verteilt ist, konnte noch nicht eindeutig geklärt werden, weil der rechten, untergeordneten Hälfte die sprachliche und begriffliche Ausdrucksfähigkeit fehlen, emotionale Reaktionen wegen der tieferen Verbindungen beider Gehirnhälften über das ungeteilte limbische System bisher aber nicht hinreichend getrennt werden konnten. Man nimmt jedoch an, dass das Selbstbewusstsein in der dominanten linken Hälfte seinen Sitz hat. Allerdings weisen neuere Forschungen darauf hin, dass diese Asymmetrie wohl bisher überschätzt worden ist - siehe dazu Rechte versus linke Gehirnhälfte?
Siehe dazu: Das Netzwerk Gehirn und wie es sich entwickelt
Nichts ist so sehr für die gute alte Zeit verantwortlich
wie das schlechte Gedächtnis.
Anatole France
Aufgaben des Gehirns
Das Gehirn hat primär die Aufgabe, die Funktionen und das Verhalten so zu steuern, dass der Organismus sich an seine Umwelt anpasst und in dieser seine Überlebenschancen erhöht. Hierzu dienen folgende Aktivitäten:
- Fast jeder Körperteil sendet über die peripheren Nerven Signale zum Gehirn, die in den somatosensiblen Rindenfeldern und Kernen empfangen werden.
- Durch Körperaktivität werden chemische Stoffe erzeugt, die das Gehirn über den Blutkreislauf erreichen und die Funktionsweise des Gehirns direkt oder durch Aktivierung bestimmter Gehirnregionen beeinflussen.
- Das Gehirn wirkt über das autonome und das willkürliche Nervensystem auf alle Teile des Körpers ein. Die Signale für das autonome Nervensystem entstehen in den evolutionär älteren Regionen (Amygdala, Gyrus cinguli, Hypothalamus und Gehirnstamm), die für das willkürliche System in den motorischen Rindenfeldern und Kernen unterschiedlichen evolutionären Alters.
- Befehle zur Herstellung von chemischen Substanzen und ihre Ausschüttung in den Blutkreislauf (Hormone, Transmitter und Modulatoren) Empfang von Reizen aus den Sinnesorganen für Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen in den entsprechenden frühen sensorischen Rindenfeldern.
Die verschiedenen Ein- und Ausgabefelder des Gehirns sind nicht direkt, sondern nur über verschiedene andere Gehirnregionen mit unterschiedlichen Funktionen miteinander verbunden. Dabei gibt es kein Zentrum, in dem etwa alle unterschiedlichen Eingaben zusammenlaufen. Jedes Sinnessystems verfügt über eigene lokale Apparate für Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis, mit denen ein globales Aufmerksamkeitszentrum zeitlich nacheinander koordiniert zusammenarbeitet.
Wahrnehmungsbilder werden von den Sinnesorganen topographisch organisiert auf die frühen Rindenfelder projiziert, von wo aus sie komprimiert als dispositionelle Repräsentation in speziellen Konvergenzzonen durch Lernvorgänge ins Gehirn eingespeichert werden. Von dort aus werden sie bei Denkvorgängen auf die gleichen Rindenfelder rückprojiziert und als Erinnerungsbilder wahrgenommen, die jedoch nicht die gleiche Detailtreue der ursprünglichen Wahrnehmungsbilder besitzen, sondern infolge der Komprimierung Informationsverluste zeigen, aber das uns während der Wahrnehmung Wesentliche noch enthalten. Diese Erinnerungsbilder sind flüchtig, müssen aber für den Zeitraum eines Denkvorganges (bis zu einigen Sekunden) aufrechterhalten werden. Gespeichert werden also nicht topografisch organisierte Bilder, sondern nur die Mittel, um diese Bilder später wieder rekonstruieren zu können. Der dabei verwendete Code ist noch unbekannt.
Übrigens beeinträchtigen auch Hörprobleme die geistige Leistungsfähigkeit, insbesondere die Merkfähigkeit von Menschen, denn Gehörgeschädigten fällt es nach neuesten Forschungen wesentlich schwerer, Gehörtes im Gehirn abzuspeichern. Ist nämlich die Wahrnehmung von Sprache gestört, muss das Gehirn mehr arbeiten, um die gesprochenen Wörter und Sätze verstehen zu können, denn das Gehirn vergleicht beim Hören die wahrgenommenen Lautfolgen mit bekannten Wörtern und prüft, welche in einem jeweiligen Zusammenhang überhaupt Sinn ergeben. Diese Anstrengung des Gehirns kostet bei Gehörgeschädigten zusätzliche Energie, die dann bei der Verarbeitung und Abspeicherung der Inhalte fehlt.
Als solche dispositionellen Repräsentationen wird unser gesamtes Wissen abgelegt. Das angeborene Wissen ist dabei im Hypothalamus, im Hirnstamm und im limbischen System eingespeichert, während das durch Lernen erworbene Wissen in höheren Rindenfeldern und subkortikalen Kernen abgelegt wird. Bei Denkvorgängen aktivieren wir diese dispositionellen Repräsentationen zu Vorstellungsbildern, operieren mit ihnen und legen sie verändert wieder ab. Diese visuellen, akustischen oder symbolischen Bilder oder Bewegungen müssen dabei nicht unbedingt ins Bewusstsein treten, dispositionelle Repräsentationen von ihnen können aber nur in den Assoziationsfeldern gespeichert werden, wenn sie vorher topografisch in den frühen sensorischen oder motorischen Rindenfeldern dargestellt wurden.
Erinnerungen sind überall
Erinnerungen sind also immer durch Netzwerke vieler Nervenzellen festgehalten. Ein weiteres Funktionsprinzip des Gedächtnisses: Arbeitsteilung.
Die Frage ist, woher das Gehirn weiß, dass die verschiedenen Informationen zu ein und demselben Objekt gehören. Einen Dirigenten, der mit seinem Taktstock alles im Griff hat, gibt es nämlich nicht im Gehirn. Die Vermutung der Forscher: Entscheidend ist der Takt, in dem die Nervenzellen feuern. Alle Nervenzellen, die mit der Erinnerung an den Bleistift beschäftigt sind, feuern beispielsweise fünfzigmal in der Sekunde. Andere Zellen, die sich an ein Blatt Papier erinnern, entladen sich nur dreißigmal. So wäre sichergestellt, dass weit auseinanderliegende Informationsdetails zu einem Gesamtbild zusammengefasst werden können.
Bekanntlich ist das menschliche Gedächtnis einerseits sehr präzise, d. h., es kann ähnliche Ereignisse trennen, andererseits ist es integrativ, d. h., es kann sich an Gemeinsamkeiten zwischen ähnlichen Ereignissen erinnern. Jüngste Befunde (Koster et al., 2018) stellen nun die damit verbundene Hypothese in Frage, dass der Hippocampus auf das episodische Gedächtnis spezialisiert ist, indem man zeigen konnte, dass er auch die Integration von Informationen über ältere Erfahrungen hinweg unterstützt, sodass das das menschliche Gedächtnis gleichzeitig detailgetreu und integrativ sein kann. Der neue Ansatz geht nun davon aus, dass diese beiden gegensätzlichen Funktionen durch Schleifen erreicht werden. Ultrahochauflösende fMRI-Daten unterstützen diese Annahme, da sie zeigen, dass gewonnenen Informationen als neuer Input auf dem oberflächlichen entorhinalen Cortex präsentiert werden, wobei diese funktionelle Konnektivität zwischen der tiefen und oberflächlichen entorhinalen Schicht gesteuert wird. Darüber hinaus korrelierte die Größe dieser Konnektivität mit der inferenzmäßigen Leistung, was ihre Bedeutung für das Verhalten unterstreicht. Offenbar speichert das Gedächtnis ähnliche Ereignisse zwar erst getrennt ab, speist aber diese getrennten Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zurück, damit diese in einem zweiten Schritt miteinander verknüpft werden. Diese Ergebnisse bieten eine neue Perspektive auf die Informationsverarbeitung innerhalb des Hippocampus und unterstützen einen einheitlichen Rahmen, in dem der Hippocampus die Struktur höherer Ordnung über Erfahrungen hinweg erfasst, indem er einen dynamischen Gedächtnisspeicher aus getrennten episodischen Codes für individuelle Erfahrungen schafft.
Auch wenn im Gehirn alles ständig in Bewegung ist, kann man dennoch klare Gedanken fassen, was durch das permanente Löschen bestimmter Gedächtnisinhalte erfolgt. Nur dadurch kann man prinzipielle, d. h., kategorische Erinnerungen aufbauen, denn wenn man etwa an seine Mutter denkt, an die erste Liebe oder auch an seine erste Wohnung, dann bildet man prinzipielle Erinnerungen in Form von Kategorien. Man speichert nicht die zahlreichen Variationen im Gesicht der Mutter ab, auch nicht das Licht, das jeden Tag anders in das Wohnzimmer fällt, oder den Stuhl, der nie genau am gleichen Platz steht, all das wird nicht in der Erinnerung bleiben, sondern eine prinzipielle Erinnerung an diese Sachverhalte wird permanent neu geschrieben. Ohne solche Kategorien zu bilden, würden Menschen in einer Flut von Déjà-vus stehen, würden ständig den Stuhl im Wohnzimmer sehen und sich jedes Mal sagen, dass man diesen Stuhl doch schon einmal gesehen hat.
Speicherabhängige Gedächtnisformen
Es gibt verschiedene Gedächtnissysteme. Am bekanntesten ist die Einteilung in Kurz- und Langzeitgedächtnis. Weniger bekannt sind die sensorischen Gedächtnissysteme, die es uns ermöglichen, die Umwelt wahrzunehmen. Wenn man in einem dunklen Zimmer eine glühende Zigarette hin- und herbewegt, dann wird man feststellen, dass diese eine Leuchtspur hinterlässt, mit der man lesbare Wörter in die Luft schreiben kann. 1740 machte sich der in Preßburg geborene Mathematiker, Physiker und Arzt, Johann Andreas von Segner (Professor der Mathematik und Physik an die Universität Halle) diesen Effekt zunutze, um zu messen, wie lange die Spur eines mit dem Auge aufgenommenen Eindrucks im Gedächtnis bleibt.
Das ikonische Gedächtnis
Dieses optische Gedächtnissystem wird "Ikonisches Gedächtnis" genannt. Seine Dauer kann noch einfacher demonstriert werden:
Spreizen Sie die Finger einer Hand und bewegen Sie sie vor Ihren Augen hin und her. Tun Sie das zuerst ganz langsam: Sie werden feststellen, dass der Hintergrund sich stückweise bewegt, weil die Wahrnehmung immer wieder durch die Finger unterbrochen wird. Jetzt wiederholen Sie den Vorgang sehr schnell. Nun bleibt der Hintergrund stabil und ist höchstens etwas verwischt. Bei der schnellen Bewegung wird die Szene nur ganz kurz unterbrochen, so dass die Information, die Ihr Auge aufnimmt, sich erneuern kann, bevor sie verblasst
Inhaltsabhängige Gedächtnisformen
Bei den bisher erwähnten Gedächtnissystemen war die Frage wichtig, wie lange die Gedächtnisinhalte gespeichert werden. Seit einigen Jahren tritt aber immer mehr in den Vordergrund, was gespeichert wird. Nicht mehr die Zeit, sondern der Inhalt ist der Faktor, mit dem die Wissenschaftler verschiedene Gedächtnissysteme unterscheiden. dass Inhalte möglicherweise verschieden abgespeichert werden, darauf kamen die Forscher bei der Untersuchung von Menschen, die ihre Erinnerungen teilweise verloren hatten. Diese sogenannten Amnesien werden durch Unfälle oder psychische Belastungen verursacht. Amnestiker haben ganz spezielle Ausfälle: Die meisten können sich nicht mehr an ihre eigene Lebensgeschichte erinnern, sie wissen buchstäblich nicht mehr, wer sie sind. Andere sind plötzlich unfähig, Neues zu lernen.
Das episodische Gedächtnis
Fälle wie dieser veranlassten die Wissenschaftler, das Gedächtnis zu unterteilen: Einerseits gibt es das autobiographische oder wissenschaftlich ausgedrückt das episodische Gedächtnis; dort ist das gespeichert, was zu unserer ganz persönlichen Lebensgeschichte gehört. Allgemeiner: Jede Erinnerung, zu der wir die dazugehörige Zeit und den Ort angeben können.
Menschen gelingt es bekanntlich problemlos, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, das vor Jahren oder sogar Jahrzehnten passiert ist. Inzwischen belegen Experimente, dass nicht nur Menschen über diese Fähigkeit verfügen, denn Schimpansen und Orang-Utans konnten sich an Versuche erinnern, die schon drei Jahre zurücklagen. In einem Experiment führten sie einen Test insgesamt viermal mit immer gleichem Ablauf durch: Durch ein Gitter sahen die Affen zuerst, wie ihnen ein Forscher eine Aufgabe präsentierte und anschließend zwei Werkzeuge - ein taugliches und ein falsches - in zwei Schachteln deponierte. 15 Minuten später ließen sie die Affen in den Raum, diese konnten sich das richtige Werkzeug nehmen und damit die Aufgabe lösen. Nach drei Jahre präsentierte man den Tiere wieder diese Aufgabe, nur diesmal sahen die Affen nicht, wie die Werkzeuge versteckt wurden. Sobald die Tiere in den Raum gelassen wurden, gingen die Schimpansen und Orang-Utans innerhalb von Sekunden zu einer der beiden Boxen und holten sich das Werkzeug. Tiere einer Vergleichsgruppe, die die Experimente drei Jahre zuvor nicht erlebt hatten, sahen nicht in den Boxen nach, sondern erkundeten einfach den Raum (siehe Martin-Ordas et al., (2013).
Für die Wissenschaft ist die Frage interessant, wo sich die verschiedenen Gedächtnissysteme im Gehirn befinden. Nach einer neuen Theorie des Kanadiers Endel Tulving, der sogenannten HERA-Theorie (Hemispheric Encoding and Retrieval Asymmetry), existiert beim episodischen Gedächtnis eine Art Arbeitsteilung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte: Danach werden nach Zeit und Raum benennbare Erinnerungen in der linken Hälfte des Großhirns eingeprägt. Das Abrufen der Erinnerungen geschieht dagegen in der rechten Hälfte. Solche Erkenntnisse gewinnen die Forscher mit moderner Technik: Mittels der Positronen-Emissions-Tomographie können sie dem Gehirn quasi bei der Arbeit zuschauen, ohne es zu verletzen. Dabei wird der Versuchsperson ein radioaktives Kontrastmittel gespritzt, das sich im Gehirn ansammelt - und zwar überall dort, wo es gerade besonders aktiv ist. Die radioaktiven Signale registriert ein spezielles Empfangsgerät und wandelt sie in Bilder um.
Durch die Untersuchung von Amnestikern (Amnesie ist eine Erkrankung, die Erinnerungslosigkeit und Gedächtnisschwund mit sich bringt) können die Wissenschaftler überprüfen, ob die HERA-Theorie stimmt: Da sie bei diesen von der Familie Details über ihr Vorleben erfahren können, konfrontieren sie diese während einer PET-Untersuchung mit diesen Erinnerungen. Wie erwartet zeigen sich keine Signale auf der rechten Seite, da diese Erinnerungen nicht mehr zugänglich waren. Anders bei nicht-geschädigten Versuchspersonen: Befragt man sie nach intensiven Erlebnissen aus ihrer Kindheit und ruft diese Erinnerungen in einer PET-Untersuchung zurück, dann zeigen sich deutliche Signale auf der rechten Seite des Großhirns. Persönliche Erinnerungen werden anscheinend in der rechten Gehirnhälfte gespeichert.
Propper et al. (2013) untersuchte bei Rechtshändern, ob sich Fäusteballen auf die Gedächtnisleistung auswirkt. Dazu unterteilte man die ProbandInnen in einem Lernexperiment (72 Wörter lernen und wiedergeben können) in fünf Gruppen: Eine Gruppe ballte unmittelbar vor dem Auswendiglernen der Wortliste 90 Sekunden lang die rechte Faust und tat das gleiche nochmals direkt vor der Wiedergabe der Wörter. Eine zweite Gruppe machte dasselbe mit der linken Faust, während die beiden verblieben Gruppen die Hände zwischen Lernen und Wiedergabe wechselten. Eine Kontrollgruppe ließ die Hände vor dem Lernen entspannt. Die Gruppe, die beim Lernen die rechte und beim Erinnern die linke Faust ballte, konnte eindeutig mehr Wörter aufschreiben als diejenigen, die die Fäuste in einer der anderen Abfolge ballten. Bei allen anderen Versuchsgruppen war die Konzentration leicht gestört, da diese Probanden etwas schlechter abschnitten als diejenigen, die die Fäuste überhaupt nicht geballt hatten. Wer zunächst rechts, dann links ballte, brachte dagegen sogar ein wenig bessere Leistungen als Testpersonen der Kontrollgruppe. Man vermutet, dass die Bewegungen der Hände jeweils bestimmte Gehirnregionen des Stirnlappens aktivieren, die auch an der Gedächtnisbildung beteiligt sind. Das Ergebnis untermauert die HERA-Theorie, nach der das Ballen der rechten Hand zur Faust bestimmte Regionen in der linken Gehirnhälfte aktiviert, die mit dem Abspeichern von Informationen zusammenhängen. Vice versa aktiviert das Ballen der linken Hand Areale in der rechten Gehirnhälfte, die mit dem Wiederaufrufen von Gedächtnisinformationen zu tun haben.
Das unbewusste episodische Gedächtnis
Bisher ging man davon aus, dass nur bewusst Erlebtes im episodischen Gedächtnis und über den Hippocampus gespeichert wird und auch das Verhalten beeinflusst, denn bisher galt der Hippokampus als die Gehirnstruktur, die beim Menschen nur das bewusste Lernen vermittelt. Die bisherigen Gedächtnistheorien postulierten, dass das Von-Moment-zu-Moment-Lernen neuer Zusammenhänge oder Bezüge nur mit Bewusstsein möglich ist. Es bestand schon immer die Vermutung, dass Menschen einen großen Teil des Erlebten nie zu Bewusstsein bekommen und ganze Szenen unbewusst erfassen und abspeichern. Nach neuesten Forschungsergebnissen verfügt der Mensch tatsächlich auch über ein unbewusstes episodisches Gedächtnis, denn er speichert auch jene Episoden des Alltags in seinem Gehirn, die er nur unbewusst wahrgenommen hat, was natürlich sein bewusstes Lernen stärker beeinflusst, als bisher angenommen. Experimente der Neuropsychologin Katharina Henke Westerholt (Universität Zürich) zeigten, dass unbewusst aufgenommene Informationen das anschließende bewusste Lernen gleicher Inhalte beeinflussen. Es wurde den Probanden ganz kurz ein Gesicht präsentiert, bei dem ein Beruf, zum Beispiel Arzt, notiert war. Die Präsentation war zu kurz, als dass die Bilder bewusst hätten gesehen werden können. Dennoch haben die Probanden sowohl das Gesicht als auch den notierten Beruf unbewusst wahrgenommen, miteinander verknüpft und im Gedächtnis abgespeichert. Anschließend zeigte man gut erkennbare Präsentationen gleicher oder ähnlicher Gesichts-Berufs-Kombinationen für das bewusste Lernen und spätere Erinnern. Dabei fand man, dass die unbewusst wahrgenommenen Gesicht-Beruf-Verknüpfungen das nachfolgende bewusste Lernen und Erinnern von Gesicht-Beruf-Kombinationen beeinflusste. Der Hippokampus war in diesen Experimenten sowohl beim bewussten als auch beim unbewussten Lernen von neuen Bezügen aktiviert.Beim alltäglichen Erleben wird von Menschen ganz automatisch, ohne Anstrengung, von Moment zu Moment gespeichert, sodass wir später die erlebten Episoden erinnern und jemandem erzählen können, obwohl man sich beim Erleben nicht vorgenommen habt, das Erlebte auch einzuprägen. Dieses Erinnern von erlebten Episoden ist nur deswegen möglich, weil wir rasch Bezüge, und nicht nur Einzelinformationen, von Moment zu Moment über den Hippokampus abspeichern können. Zum Beispiel erinnern wir, wer was wem zu welcher Zeit und an welchem Ort im Raum gegeben hat, d.h., wir erinnern zeitliche, räumliche und Bedeutungsbezüge. Ohne diese situationalen Bezüge würden wir nur Einzelteile erinnern, keine vollständigen Szenen. Gerade das Gedächtnis für erlebte Episoden ist im Alltag so wichtig.
Schneider et al. (2021) konnten nun auch experimentell nachweisen, dass nicht nur bewusste, sondern auch unbewusste alltägliche Erlebnisse von unserem Gedächtnis abgespeichert werden, wobei die unbewussten Erlebnisse im Unterschied zu den bewussten vom Gehirn nicht wieder gelöscht werden. Zudem entdeckte man, dass nur das bewusst gelernte, aber nicht unbewusst gelernte Episodenwissen einem Vergessensprozess unterliegt. In den Experimenten wurden den Teilnehmenden ein, drei oder neun komplexe und für das Bewusstsein unsichtbare Filme hintereinander präsentiert und später das Erinnerungsvermögen getestet. Die filmisch dargestellten, komplexen Szenen wurden nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst registriert und im episodischen Gedächtnis langzeitgespeichert. Jedes einzelne Filmbild wurde für nur 17 Millisekunden eingeblitzt, vor und nach einem 17 ms-Filmbild wurden Schwarz-weiss-Pixel-Bilder etwa 200 ms lang dargeboten, die das Gehirn am Weiterverarbeiten der eingeblitzten Filmbilder hinderten, sodass die filmischen Handlungen lediglich unbewusst registriert werden konnten. Dass die Filme dennoch im Detail langzeitgespeichert wurden, erkannte man an den Reaktionszeiten der Rate-Antworten, die die ProbandInnen in der Testsituation zu den Filmen abgaben. Offenbar können Menschen viele komplexe Sachverhalte unbewusst in ihrem episodischen Gedächtnis langzeitspeichern, was beim bewussten Lernen im episodischen Gedächtnis noch nie beobachtet worden ist, denn was man bewusst gelernt hat, vergisst man zumindest teilweise wieder. Als Erklärung für dieses Phänomen vermutet man, dass im Vergleich zur bewussten Erinnerung weniger Nervenzellen für die Speicherung einer unbewussten Erinnerung herangezogen werden. Beim unbewussten Lernen speichert eine Nervenzelle bloss eine einzige Erinnerung ab und nicht mehrere Erinnerungen wie beim bewussten Lernen, sodass es vermutlich zu weniger Überschneidungen von Gedächtnisspuren beim unbewussten Lernen kommt und daher zu geringerem Vergessen. Von großer Bedeutung könnte dieses Forschungsergebnis für Menschen sein, die an Amnesie- oder Demenzerkrankungen leiden und ein dysfunktionales episodisches Gedächtnis und daher Gedächtnisdefizite anweisen. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie noch immer unbewusst lernen und erinnern können, und sie ermutigen sollte, auf ihr Bauchgefühl zu hören, weil so Informationen aus dem unbewussten episodischen Gedächtnis abgerufen werden und auf das Verhalten einwirken können.
Faule Schüler könnten sich die Erkenntnisse in Multiple-Choice-Prüfungen zum Vorteil machen. Etwa wenn es darum geht, die Hauptstädte der Welt auswendig zu lernen. Dafür könnten sie einen Film schauen, der zwischendurch immer wieder für 17 Millisekunden die Weltkarte einblitzt. Ihr Unterbewusstsein würde sich die Karte besser merken als ihr Bewusstsein, und sie würden aus dem Bauch heraus häufig die richtige Antwort wählen. Das menschliche Hirn hat so gewissermassen eine zusätzliche Festplatte.
Literatur
Henke Westerholt, Katharina (2005). Implicit Associative Learning Engages the Hippocampus and Interacts with Explicit Associative Learning, Neuron, Vol. 46, 505-520.
Schneider, Else, Züst, Marc Alain, Wuethrich, Sergej, Schmidig,
Flavio, Klöppel, Stefan, Wiest, Roland, Ruch, Simon & Henke,
Katharina (2021). Larger capacity for unconscious versus conscious
episodic memory. Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2021.06.012.
Das semantische Gedächtnis
Andererseits gibt es das Gedächtnis für Gelerntes: In Fällen wie dem oben beschriebenen weiß der Betroffene zum Beispiel, dass der Kilimandscharo in Tansania und Kenia liegt; das hat er gelernt. dass er selbst schon den Berg bestiegen hat, davon weiß er allerdings nichts mehr, da sein episodisches Gedächtnis ausgefallen ist. Wissenschaftler nennen den Speicher für Gelerntes das.
Anmerkung: Bei Diabetikern (Diabetes Typ 2) zeigt sich früh nach Ausbruch der Krankheit eine Verlangsamung der Gehirnleistung, allerdings wirkt sich die Zuckerkrankheit nur auf einige Areale im Gehirn negativ aus, wobei vor allem die Geschwindigkeit des logischen Denkens und der Bearbeitung komplexer Zusammenhänge wie Planung, Organisation und Aufmerksamkeit für Details merkbar schlechter ist als bei Gesunden. Das episodische Gedächtnis und das semantische Gedächtnis bleiben intakt. Auch die Flüssigkeit des Sprechens, die Reaktionszeit und die Wahrnehmungsgeschwindigkeit sind durch Diabetes nicht beeinträchtigt.
Das prozedurale Gedächtnis
Außerdem gibt es noch das sogenannte prozedurale Gedächtnis. Hier sind zum Beispiel Bewegungsabläufe gespeichert wie das Fahrradfahren oder Schwimmen - Gedächtnisinhalte, die weitgehend unbewusst sind und so gut wie nie durch Unfälle zerstört werden. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass das menschliche Gehirn Regeln oder Prinzipien von prognostizierbaren Abläufen abspeichert, wobei sowohl die Wahrnehmung als auch die Handlung auf internen Modellen basieren, die aus früheren Erfahrungen abgeleitet werden. Solche Vorhersagen zeitlich-räumlicher Abfolgen sind für Menschen sehr wichtig, etwa im Straßenverkehr oder bei Mannschaftssportarten, wo es wichtig ist, die Bewegungen von Menschen und Objekten zu antizipieren, denn nur so kann man auch bei hohen Geschwindigkeiten auf Unvorhergesehenes angemessen reagieren. Die Bildung interner Modelle, die Regeln in den äußeren Geschehnissen finden und entsprechend abbilden, erleichtert es Menschen, unerwartete Ereignisse zu registrieren und aus ihnen zu lernen. Die modernen Umwelten unterliegen einem stetigen Wandel, und um sich schnell zurechtzufinden, benötigt man effiziente interne Modelle, die komplexe Regelmäßigkeiten abbilden und gleichzeitig die Flut der auf uns einwirkenden Reize sinnvoll vereinfachen. Allerdings weiß man wenig darüber, wie solche Vorhersagen aus zuvor erworbenem Wissen generiert und über längere Perioden vorgehalten werden. Lutz et al. (2018) haben nun untersucht, ob Schlaf zur Bildung, Festigung und der Abstraktion solch interner Modelle einfacher Abläufe beiträgt. Dazu ließen sie zwei Probandengruppen an einem Bildschirm festgelegte Sequenzen von visuellen Mustern lernen und prüften nach entweder einer Schlafphase oder einer Wachphase, wie die Probanden auf Abweichungen in den gelernten Abläufen reagierten. Dabei zeigte sich, dass die Gruppe mit einer Schlafphase nach dem Lernen die Abläufe stärker verinnerlicht hatte und sicherer beherrschte, auch wenn die Sequenzen in schnellerer Abfolge präsentiert wurden. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass Schlaf die Bildung interner Prognosemodelle unterstützt.
Ein viertes Gedächtnissystem?
Zuguterletzt gibt es noch ein viertes Gedächtnissystem, das völlig unbewusst arbeitet. Auch diesem kamen die Wissenschaftler durch Menschen auf die Spur, deren Erinnerungsfähigkeit gestört war. So zum Beispiel der berühmteste Fall der Neuropsychologie: Ein Patient namens H. M. litt in den fünfziger Jahren unter starken epileptischen Anfällen. In einer Operation entfernte man ihm Teile beider Schläfenlappen. Nach der Operation zeigte sich, dass der Patient die Fähigkeit verloren hatte, neue Eindrücke zu speichern. H. M. begrüßte Bekannte, als sähe er sie zum ersten mal; eine halbe Stunde nach dem Mittagessen wusste er nicht mehr, ob er etwas zu sich genommen hatte, geschweige denn was; über Todesfälle in der Familie war er jeden Tag aufs Neue geschockt. Bei Gedächtnistests zeigte sich jedoch, dass auch Patienten wie H. M. noch bestimmte Arten von Information bleibend aufnehmen können.
Cortex-Schnitt
[http://linux1.pae.asn-graz.ac.at/linux2/tutor-bu/images/CORTEX1.JPG]
Erstmals erfolgreich frische Gehirnzellen transplantiert
http://www.wissenschaft.de/
sixcms/detail.php?id=88962 (01-04-21)
Das Forscherteam unter der Leitung von Kiminobu Sugaya von der University of Illinois at Chicagohat im Labor entwickelte menschliche neuronale Stammzellen älteren Ratten eingepflanzt. Um zu sehen, ob dieser Eingriff tatsächlich zu einer verbesserten Gedächtnisleistung führt, haben die Wissenschaftler eine Gruppe von 32 Ratten darauf trainiert, in einem Wasser-Irrgarten zu einer versteckten Plattform zu schwimmen. In der Versuchsgruppe befanden sich sowohl die älteren, mit frischen Stammzellen versorgten Ratten als auch unbehandelte ältere und jüngere Ratten.
Vier Monate später überprüften die Wissenschaftler, wie gut die 32 Ratten die Aufgabe, die Plattform zu finden, noch beherrschten. Es zeigte sich, dass jene älteren Ratten, denen die Stammzellen eingepflanzt worden waren, die Aufgabe genauso gut meisterten wie die jungen Ratten. Eine der behandelten Ratten stach sogar die jüngeren aus. Die unbehandelten älteren Ratten, die die Kontrollgruppe darstellten, blieben in ihrer Leistungsfähigkeit deutlich zurück.
Eine Untersuchung der Gehirne der behandelten Ratten nach ihrem Tod ergab, dass sich die neuronalen Stammzellen im Gehirn der Ratten nicht nur ausdifferenziert und sich der neuen Umgebung angepasst hatten, sondern dass auch die eigenen Nervenfasern der Ratten im Bereich des räumlichen Gedächtnisses stark gewachsen waren.
Sugaya nimmt an, dass die transplantierten Stammzellen die alten oder beschädigten neuronalen Zellen entweder ersetzt oder erweitert haben. Außerdem könnte es sein, dass die Stammzellen eine schützende Substanz abgesondert haben, die die Funktion der Gehirnschaltkreise der Ratten verbessert haben.
Frühere Versuche, neuronale Zellen zu transplantieren, sind immer wieder gescheitert. Sugaya ist überzeugt, dass die neuronalen Zellen abgestoßen wurden, weil es sich um fötale Zellen gehandelt habe und nicht um Stammzellen, die im Labor entwickelt worden seien. Die Labor-Zellen seien im Gegensatz zu den fötalen Zellen nicht ausdifferenziert gewesen und hätten sich daher in die Gehirnschaltkreise des Tieres integrieren können.
Die Ergebnisse der Chicagoer Forschungsgruppe könnten den Grundstein für eine neue Behandlung von Alzheimer und Parkinson legen.
Siehe auch Das Bauchhirn
Gedächtnis funktioniert am besten für Bilder in natürlichen Farben
Details zu diesen Experimenten und anschauliche Bilder unter http://www.mpg.de/
pri02/pri0239.htm
Doch trotz der Vielzahl dieser Befunde über das farbliche Unterscheidungsvermögen des Menschen oder die Farbkonstanz unter verschiedenen Beleuchtungen waren Ergebnisse selten, die eine entsprechende Rolle von Farbe bei der visuellen Kognition nahe legten: Farbe schien für die Objekterkennung als solche nicht wichtig zu sein. In einer Serie von fünf Experimenten haben Felix Wichmann und Karl Gegenfurtner gezeigt, dass Farbe einen nachweisbaren Einfluß auf das menschliche Gedächtnis für natürliche Szenen hat.
Es scheint, als ob sich das menschliche Gedächtnis durch Evolution und Entwicklung an die Farben der natürlichen Umwelt angepaßt hat. Bilder, die zu sehr von der natürlichen Norm abweichen, werden offenbar auch nicht so gut gespeichert. Dabei ist der Farbvorteil natürlicher Bilder nicht einfach dadurch zu erklären, dass farbige Bilder informationstheoretisch mehr Information, also mehr "bits" besitzen, denn Falschfarben-Bilder enthalten genauso viele "bits" wie natürlich gefärbte Bilder.
Der Genchip
Fast 99 Prozent identisches Erbgut bei Mensch und Schimpanse. Was bedeutet dieser kleine Unterschied tatsächlich? In der Sprache der Evolution heißt dies nur, dass erst eine relativ kurze Zeitspanne verstrichen ist, seit sich die beiden Primaten von einem gemeinsamen Vorfahren abgespaltet haben. Das ist vor ungefähr fünfeinhalb Millionen Jahren geschehen. Seit damals scheint viel passiert zu sein. Zum ersten Mal haben Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie versucht, den kleinen Unterschied von einem Prozent systematisch zu analysieren.
Die Leipziger Molekularbiologen haben nicht die Gene selbst erforscht, sondern wie sie in unterschiedlichen Körpergeweben benutzt werden. Sie untersuchten, welches Gen zu welchem Zeitpunkt angeschaltet wird und Proteine erzeugt. Denn Gene sind Bauanleitungen für Proteine, die fast alle Vorgänge im Körper bestimmen. Die Forscher verglichen Blut, Leber- und Gehirngewebe von Schimpansen und Menschen und als Referenz auch von Orang Utan und Makaken.
1,3 Prozent unterschiedliche Gene führen zu fast vierzig Millionen möglichen Abweichungen der Genfunktionen. Und die wenigen davon zu finden, die tatsächlich etwas bewirken, war die große Herausforderung. Möglich wurde diese Forschung erst durch eine technische Innovation, die für das menschliche Genomprojekt entwickelt wurde: Den Genchip. Diese Trägeroberfläche aus Nylon ist mit 18.000 menschlichen Genen markiert. Der Gebrauch der Gene zeigt vor allem im Gehirn Unterschiede - fünfmal mehr, als die Forscher erwarteten. Was diese Unterschiede von Mensch und Affe bewirken, können die Besucher von Pongoland in der Praxis studieren.
Die Besucher von Pongoland können den Verhaltensforschern vom Max Planck-Institut direkt bei ihrer Arbeit zuschauen. So wird zum Beispiel die Merkfähigkeit von Orang Utans getestet. Die Tiere müssen sich merken, wo ein Leckerbissen versteckt ist und werden dann damit belohnt.Der Orang Utan ist sehr klug. Doch nur der Mensch hat im Laufe seiner Entwicklung geistige Fähigkeiten wie Sprache, Kultur und planmäßiges Handeln entwickelt. Der Mensch nutzt seine Gene im Gehirn anders als der Affe. Die Leipziger Forscher fanden fünfmal mehr Unterschiede, als die Evolution vermuten ließ. Das menschliche Gehirn hat sich demnach schneller weiterentwickelt als das des Schimpansen.
Literatur
Chang, Le & Tsao, Doris Y. (2017). The Code for Facial Identity in the Primate Brain. Cell, 169, 1013-1028.
McFarland, D. & Bösser, Th. (1993). Intelligent behavior in animals and robots. Cambridge, MA: MIT Press.
Martin-Ordas, Gema, Berntsen, Dorthe & Call, Josep (2013). Current biology.
Lutz, N. D., Wolf, I., Hübner, S., Born, J. & Rauss, K. (2018). Sleep strengthens predictive sequence coding. The Journal of Neuroscience, 38, 8989-9000.
Köhler, Bertram (2001). Nachdenken über Evolution.
WWW: http://home.t-online.de/home/Bertram.Koehler/Denken.htm
WWW: http://home.t-online.de/home/Bertram.Koehler/gehirn.htm
Raphael Koster, Martin J. Chadwick, Yi Chen, David Berron, Andrea Banino, Emrah Düzel, Demis Hassabis & Dharshan Kumaran (2018). Big-Loop Recurrence within the Hippocampal System Supports Integration of Information across Episodes, Neuron, 99, 1342–1354.
Pohl, Wolf (2001). Antonio R. Damasio: "Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins". Eine Rezension. Aufklärung und Kritik 1/2001 (S. 168 ff.).
Propper, Ruth E. et al. (2013). Getting a Grip on Memory:
Unilateral Hand Clenching Alters Episodic Recall. PLoS ONE,
DOI:10.1371/journal.pone.0062474.
WWW: http://members.aol.com/GKP2/pohl3.htm (01-07-10)
http://www.westfaelische-rundschau.de (02-02-02)
http://www.unipublic.unizh.ch/magazin/gesellschaft/2005/1694.html (05-12-05)
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Andreas_von_Segner (22-11-21)
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/diabetes/news/ diabetes-hirnleistung-laesst-schon-frueh-nach_aid_359735.html (09-01-06) http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/ LERNTECHNIKORD/Gedaechtnis.html
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