Das lateinische Wort "scientia"
für Wissenschaft
leitet sich aus dem indoeuropäischen "ski" ab,
das "trennen, unterscheiden" bedeutet.
"Ski" ist somit auch die Wurzel so unterschiedlicher Worte
wie "Schisma", "Schizophrenie", "Scheisse" und "shit".
Warum Wissenschaftstheorie?*)
- Ist alles, was Wissen schafft, auch Wissenschaft?
- Welche Erkenntnisbestrebungen verdienen das Prädikat "wissenschaftlich" und wer oder was entscheidet darüber?
- Wie hat sich diese Entscheidungspraxis im Laufe der Geschichte geändert, wie nimmt sie sich im interkulturellen Vergleich aus (etwa zwischen Linz und Wien, zwischen Accra und Berlin oder zwischen Tokio und Klagenfurt)?
- Wie kommen WissenschaftlerInnen zu ihrem Wissen?
- Welche Motive und Interessen, welche historischen, gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, welche stillschweigend oder ausdrücklich getroffenen Annahmen, Voraussetzungen und Ziele spielen dabei eine Rolle?
- Welche Aufgaben hat die Psychologie, die Erziehungs- und Sozialwissenschaft?
- Wer oder was entscheidet im Streit der ExpertInnen?
Wer sich diese und ähnliche Fragen stellt, ist im Begriffe, über wissenschaftliche Erkenntnis sowie deren Zustandekommen und deren Kontextbedingungen nachzudenken bzw. zu "philosophieren". Dabei zeigt sich in aller Regel bald, daß die Palette möglicher Antworten, Denkformen und Zugänge ebenso vielfältig ist wie das Spektrum wissenschaftlicher Themen und Theorien. Die besondere Schwierigkeit der gegenwärtigen Situation besteht nicht zuletzt darin, daß es auch auf der Ebene der Theorien über die Theoriebildung und der Methodenreflexion keine allgemeinverbindlichen Übersichten gibt. Wissenschaftliche Ansprüche, Argumentationsweisen und Methodenbegründungen sind hochgradig plural geworden. Selbst Bezeichnungen wie "Kritische Theorie", "Phänomenologie" oder "Konstruktivismus" sind als Sammelbezeichnungen zu verstehen, hinter denen sich verschiedene Ansätze und Konzeptionen verbergen.
das im ersten Studienabschnitt einmal zu absolvieren ist,
und dann ad acta gelegt werden kann.
Vielmehr geht es darum,
- in exemplarischer Weise wichtige Unterscheidungen, Wissenschaftsverständnisse und diesbezügliche Orientierungs- und Strukturierungshilfen kennenzulernen,
- Schritt für Schritt in das Feld der Wissenschaftsforschung und Methodologie hineinzuwachsen und sich zumindest ansatzweise darin bewegen zu lernen,
- und die eigenen Auffassungen und Sichtweisen in Auseinandersetzung mit den vorhandenen Denkangeboten weiterzuentwickeln.
Ausgehend von unterschiedlichen Positionen und Formen der partiellen Wissensvernetzung werden z.B. Grundfragen der Theoriebildung und Wissenschaftsentwicklung, das "Wie" und "Wozu" der Psychologie, der Erziehungs- und Sozialwissenschaft, Übergänge und Abgrenzungen zu anderen Erkenntnisweisen, Geltungsansprüche und Argumentationsformen behandelt. Auch wenn eine Auswahl im konkreten Fall immer begrenzt sein wird, so sollte in der Studienplanung Wert auf das Angebot unterschiedlicher Zugangsweisen und konträrer Perspektiven gelegt werden. Diese Planungsphilosophie gründet u.a. in der Auffassung, daß es weder den neutralen "Blick von nirgendwo" noch den omnipotenten Blick von überall zugleich, sondern nur verschieden akzeptable, brauchbare, gegenstandsangemessene, sensitive, bewährte, innovative, praxisrelevante Perspektiven gibt, die in relativer Isolation, im Kontrast zueinander oder in Verbindung miteinander kultiviert werden mögen.
Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten.
Bertrand Russell
Ausdrücke und Begriffe (terminologische Ebene)
Am Anfang eines Studiums erscheinen die Begrifflichkeiten und Ausdrucksweisen, die in der akademischen Lehre oder Literatur angetroffen werden, zumeist fremd, seltsam und schwer verständlich oder zugänglich. Oft wird eingewendet, daß auch in der Psychologie oder Erziehungswissenschaft einfache Sachverhalte unnötig kompliziert ausgedrückt werden. Das mag bei manchen AutorInnen der Fall sein. Andererseits ist es aber so, daß wissenschaftliche Bemühungen in der einen oder anderen Weise auf einem Bruch mit dem (scheinbar) unproblematischen "So-und-so-ist-es" des alltagsweltlichen Denkens gründen.
Fragen und Problemstellungen werden im Lichte theoretischer Perspektiven entwickelt und bearbeitet. Dazu ist die Überwindung alltagsförmiger Verwendungsweisen von Begriffen unerläßlich. Das gilt insbesondere auch für jene Ausdrücke und Begriffe, die sich auf den Wissenschaftsprozeß selbst beziehen. Wenn z.B. angenommen wird, daß Objektivität ein wichtiges Kriterium der Wissenschaftlichkeit darstellt, so stellt sich bei näherer Betrachtung bald die Frage, was denn damit näherhin gemeint sein kann:
- Sind es die Ergebnisse oder Verfahren, die objektiv sind oder sein sollten?
- Sind es persönliche Gefühle, private Meinungen oder Werthaltungen, die aus dem Forschungsprozeß ausgeklammert werden sollen?
- Geht es um den Status der Untersuchungsgegenstände, die als subjektunabhängig aufgefaßt werden?
- Handelt es sich um bestimmte methodische Standards, die unbedingt berücksichtigt werden sollten?
Wer solche Fragen ernsthaft stellt, wird bald auf verschiedene Verständnisse von "Objektivität" und deren Problemgeschichte stoßen. Wir haben es dann mit der einen oder anderen Theorie der Objektivität zu tun, die ihrerseits zu problematisieren ist und zu der es alternative Theorien und Sichtweisen gibt. Ähnlich verhält es sich mit anderen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Begriffen wie Subjektivität, Rationalität, Theorie, Wahrheit, Dialektik, Hermeneutik, Erklären, Verstehen, Paradigma, Geltung, Kritik, Diskurs usw. Diese Begriffe tauchen im wissenschaftlichen Alltag immer wieder auf. Je nach Fragestellung und Problemzusammenhang mag eine einfache Erläuterung oder ein kurzer lexikalischer Hinweis genügen. Mitunter sind aber auch sorgfältigere Begriffsklärungen erforderlich, sei es durch Rekurs auf die Begriffsgeschichte, durch Analyse und genaue Beschreibung von Merkmalen oder durch Darlegung von Verwendungsweisen im Lichte theoretischer Konzeptionen. Dabei ist weder Exaktheit noch Oberflächlichkeit ein Wert an sich. Vielmehr geht es darum, ein Bewußtsein unterschiedlicher Differenzierungsniveaus zu entwickeln und einen situations- und problemadäquaten Umgang mit Begriffen zu erlernen.
Ansätze und Zugänge
Die Zeiten der großen wissenschaftlichen Systematiken mit weitreichenden Ansprüchen der Gültigkeit und allgemeinen Verbindlichkeit sind vorbei. Die Grenzen zum "ganz normalen Alltag", zur Kunst und zur Politik sind durchlässiger geworden. Hand in Hand mit dieser Pluralität wissenschaftlicher Ansprüche und Konzeptionen gehen erfreuliche Erweiterungen der Untersuchungsbereiche, Relativierungen einseitiger Ansprüche, innovative Wissenschaftsentwicklungen und Lockerungen im wissenschaftlichen Denken und Forschen.
Andererseits sind gewisse problematische Tendenzen der geist- und konturlosen Eklektik sowie der Verabsolutierung von Fragmenten oder subjektiven Vorlieben (Pluralismus als Lippenbekenntnis) auch nicht zu übersehen. Das heißt nun nicht, daß gleichsam alles, was je zuvor im Abendland oder auch auf anderen Kontinenten gedacht wurde, in Bausch und Bogen gleichsam zur Entsorgung freigegeben kann oder soll. Es gibt keine Abkürzungswege der Erkenntnis, die die Auseinandersetzung mit den Theorietraditionen entbehrlich machen würde. Ohne solche Auseinandersetzung mit den vormaligen "großen Konzeptionen" lassen sich die heutigen "kleinen" Ansätze und Konzeptionen nicht angemessen verstehen. Deshalb spielen im Studienangebot sowohl ältere Positionen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der kritisch-rationalen oder z.B. der Kritischen Erziehungswissenschaft als auch neuere Entwicklungen (z.B. der Handlungsforschung, der feministischen Forschung oder diskursanalytischer Zugänge) eine Rolle. Darüber hinaus gibt es auch speziellere Angebote, die sich ihrem Selbstverständnis zufolge keinerlei Systematik zuordnen lassen.
Krise der universitären Wissenschaft?
Der universitäre Forschungsbetrieb spezialisiert sich immer stärker, denn um im Wissenschaftssystem erfolgreich zu sein, müssen WissenschaftlerInnen immer speziellere und tiefergehendere Fragestellungen erforschen. Durch den Leistungsdruck, unter dem die Universitäten in einer von Ökonomisierung getriebenen Gesellschaft stehen, gibt es in diesem solchen System kaum noch Raum, sich mit den Grundlagen der eigenen Wissenschaft zu beschäftigen oder über die Grenzen der eigenen Forschung nachzudenken. Vor allem für angehende WissenschaftlerInnen geht es heute in der Aus- und Weiterbildung meist um Forschungsmethoden, Lehrkompetenz oder Soft Skills, letztlich also darum, die NachwuchsforscherInnen zu funktionalisieren, sodass die Notwendigkeit grundsätzlicher wissenschaftlicher Bildung auf der Strecke bleibt, zu der etwa auch gehört, dass man kritische Urteile fällen kann, die theoretischen und metatheoretischen Grundlagen der eigenen Disziplin kennt, aber auch Weitblick in Bezug auf andere Disziplinen entwickeln lernt.
Für die universitäre Form des Betreibens von Wissenschaft standen bis in die 1970er Jahre die wissenschaftsinternen epistemologischen und methodologischen Gesichtspunkte der Qualitätsbeurteilung im Vordergrund (Prototypen: Objektivität, Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Wahrheit). Immer stärker wurde in dieser Zeit der Gesichtspunkt der Technologiefähigkeit bzw. Praxisrelevanz als Gütekriterium in den Mittelpunkt gerückt, wodurch sich in den 1980er und 1990er Jahren Ernüchterung und Skepsis einstellte: Die Idee des Abbild-/Repräsentations-Charakters wissenschaftlichen Wissens verlor an Anhängerschaft, die epistemologische Orientierung veränderte sich in Richtung auf Relativität und Diskursivität/Diskursabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Die bis dahin in der Scientific Community für relativ unproblematisch gehaltenen Kriterien wurden in der "internen Debatte" der meisten sozialwissenschaftlichen Disziplinen fragwürdig und obsolet. ( ) Dieser Rückzug des Wissens-Gültigkeits-Anspruchs stößt in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit auf Desinteresse oder er wird mit Befremden zur Kenntnis genommen. Zudem manifestiert sich die desolate wissenschaftliche Erkenntnisproduktion in vielerlei gesellschaftlichen Diskurserfahrungen des "Drei wissenschaftliche Experten - vier verschiedene Meinungen" in Fällen praktischer Entscheidungsunsicherheiten. Das "öffentliche Vertrauen" in die Problemlöse- und Selbststeuerungsfähigkeit (Autonomie) von Wissenschaft scheint verbreitet aufgebraucht bzw. verspielt zu sein. Interne bzw. Selbstkontrolle der Wissenschaft wird zunehmend durch externe Fremdkontrolle ersetzt. ( ) Es hat eine (Selbst-) Entzauberung von Wissenschaft bzw. von wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen innerhalb der Scientific Community und in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit stattgefunden. ( ) "Evaluation" von Forschung, wissenschaftlicher Ausbildung etc. hat Konjunktur allüberall und in allen möglichen und unmöglichen Spielarten. Die TeilnehmerInnen am "Wissenschafts-Spiel" werden in diesem Zusammenhang aus ihrem "Elfenbeinturm" innerwissenschaftlicher Legitimation von Projekten und Erkenntnisansprüchen vertrieben und sind zunehmend in gesellschaftliche ("wissenschaftsfremde", z.B. ökonomische, administrative und massenmediale) Diskurse gezwungen, die ihnen bisher eher fremd waren. Dies ist ein vielschichtiger und oft auch widersprüchlicher Prozess: Neben Tendenzen der demokratischen Belüftung des autoritären Wissenschafts-Muffs und -Dünkels eröffnen sich zunehmend ungebremste Zugriffe der Geldgeber, der Politik, der Massenmedien auf wissenschaftliche Prioritätensetzungen, Projektauswahl und Forschungskonzepte (Ökonomisierung der Wissensproduktion).
Gekürzt nach
Breuer, Franz & Reichertz, Jo (2001). Wissenschafts-Kriterien:
Eine Moderation [40 Absätze]. Forum Qualitative
Sozialforschung 2(3).WWW:
http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-01/3-01breuerreichertz-d.pdf
(04-10-10).
Ausgewählte Literatur
Kriz, Jürgen, Lück, Helmut E. &
Heidbrink, Horst (1987). Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Eine
Einführung für Psychologen und Humanwissenschaftler.
Opladen: Leske & Budrich.
Tschamler Herbert (1983). Wissenschaftstheorie. Eine Einführung
für Pädagogen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Atteslander, Peter (1993). Methoden der empirischen Sozialforschung.
Berlin/New York: de Gruyter.
Seiffert, Helmut (1989). Einführung in die Hermeneutik.
Tübingen: Francke, 1992.
Eco, Umberto (19**). Wie man eine wissenschaftliche
Abschlußarbeit schreibt: Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in
den Geistes- und Sozialwissenschaften. Heidelberg: Müller.
Hofmann, Klaus (1983). Einführung in das wissenschaftliche
Arbeiten für Pädagogen. Düsseldorf: Schwan.
Rost, Friedrich (1994). Techniken des erziehungswissenschaftlichen
Arbeitens (S. 592-624). In Lenzen, Dieter (Hg.),
Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt.
WWW: http://www.uibk.ac.at/c/c6/c603/allgemein/4method.html (01-10-07)
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