Die Phänomenologie
oder
der Phänomenalismus
von griech. phainomenon, Erscheinung, Erscheinendes
Gemeinsam ist phänomenalistischen Auffassungen die Voraussetzung, eine wenigstens begriffliche Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich sei sinnvoll. Erscheinungen (Sinnesdaten, Sinneseindrücke) bilden dem Phänomenalismus zufolge den primären (oder sogar einzigen) Gegenstand der Wahrnehmung und das Fundament der Erfahrungserkenntnis. Die Frage, ob ein Ding an sich (etwa als materieller Gegenstand) wirklich existiert, kann dann noch in unterschiedlicher Weise beantwortet werden:
- Es gibt neben den Erscheinungen auch Dinge an sich; allerdings können wir diese allenfalls mittelbar erkennen (indem wir von den Erscheinungen auf sie zurückschließen);
- die Frage, ob es neben den Erscheinungen wirklich Dinge an sich gibt, ist unentscheidbar;
- es gibt überhaupt nur Erscheinungen.
Ein Phänomenalismus wird durch eine gewisse Beschreibung von Sinnestäuschungen nahegelegt. Wir glauben oft etwas wahrzunehmen, was es jedoch so nicht oder überhaupt nicht gibt. Einen in Wasser getauchten geraden Stab sehen wir geknickt, obwohl es einen geknickten Stab in diesem Fall nicht gibt. Von dieser Beschreibung ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, dass wir - wenn wir uns beim Sehen täuschen - nicht (materielle) Gegenstände sehen, sondern dass uns nur Sinnesdaten gegeben sind. Da zudem täuschende und zuverlässige Sinneserfahrungen für uns qualitativ ununterscheidbar zu sein scheinen, liegt es nahe, allgemein davon auszugehen, dass wir unmittelbar nur Sinnesdaten wahrnehmen, von denen wir allenfalls (problematische) Rückschlüsse auf die Existenz und die Eigenschaften materieller Gegenstände machen können. Es scheint sicherer und einfacher, nicht nur bei täuschenden, sondern bei allen Wahrnehmungen davon auszugehen, dass uns unmittelbar bloß Erscheinungen zugänglich sind. (Manche Phänomenalisten gingen weiter und erklärten die Annahme materieller Dinge für überflüssig.)
Auf den Gedanken, Erscheinungen oder Sinnesdaten bildeten das Fundament des empirischen Wissens, kann man durch die folgende Betrachtung kommen: Aussagen über Phänomenales haftet eine besondere Sicherheit an. Während Behauptungen über materielle Gegenstände niemals vollkommen sicher sein können, kann man mir doch nicht streitig machen, dass mir etwas so oder so erscheint. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung liegt es nahe, das Gebäude des Erfahrungswissens auf der sicheren Grundlage solcher minimalen Gewißheiten zu errichten. Da sich der Phänomenalismus durch verhältnismäßig naheliegende Betrachtungen empfiehlt, verwundert es nicht, dass er sich in der Geschichte der Philos. weiter Verbreitung erfreut.
Im 19. und 20. Jh. wurde ein Ðkonstruktionalistischer Phänomenalismusð entwickelt. B. Russell war bestrebt, die gesamte geistige und körperliche Wirklichkeit aus Sinnesdaten logisch zu konstruieren. Mit größerer Präzision konstruierten R. Carnap und N. Goodman phänomenalistische Systeme. Bei ihnen steht jedoch noch deutlicher als bei Russell das Konstruktionsinteresse im Vordergrund; die Wahl einer phänomenalistischen Basis ist demgegenüber zweitrangig und wird in ihrer Relativität kenntlich gemacht.
LiteraturJ. L. Austin: Sinn und Sinneserfahrung, 1975.
H. Barth: Philos. der Erscheinung, 2 Bde., 1947/59.
R. Carnap: Der logische Aufbau der Welt, 1928.
N. Goodman: The Structure of Appearance, 1951.
H. Kleinpeter: Der Phänomenalismus, 1913.
B. Russell: Unser Wissen von der Außenwelt, 1926 (Orig. 1914).
Die zahlreichen Spielarten des Phänomenalismus sind mit einer Reihe von Einwänden konfrontiert worden. Man hat in Zweifel gezogen, ob die vorausgesetzte Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich wirklich klar ist, und gefragt, ob der Phänomenalismus nicht Erscheinungen in unzulässiger Weise vergegenständlicht. Ferner ist bestritten worden, dass der Phänomenalismus eine zureichende Analyse der Wahrnehmung, insbesondere der Trugwahrnehmung liefert. Schließlich ist die Auffassung der Erscheinungen als privater Gegenstände im Geist fragwürdig, da unter dieser Annahme unerklärlich wird, wie man über Empfindungen sprechen kann.
Nach Stephan Schleim spricht sich in den Kognitionswissenschaften gerade herum, dass Kognition - als Oberbegriff für Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Entscheiden usw. gemäß dem 4E-Ansatz erforscht werden muss: 4E steht für verkörpert (embodied), eingebettet (embedded; manchmal auch: situiert), in Interaktion mit der Welt (enacted) und erweitert (extended). Gemeint ist damit, dass Menschen nun einmal keine reinen Gehirne sind, die in einer Nährlösung schwimmen, sondern sie haben einen ganzen Körper, in einer bestimmten Situation für eine bestimmte Interaktion, wobei mit dem erweiterten Geist (extended mind) gemeint ist, dass auch Werkzeuge Teil des kognitiven Systems sind.
Aus historischer Sicht kann man sich über 4E übrigens wundern, denn schließlich reflektiert dies schlicht jene Grundannahmen, die schon vor hundert Jahren für die Phänomenologen selbstverständlich waren. Mit Formulierungen wie “In-der-Welt-Sein” oder dem “Leib” als erfahrender Körper gegenüber dem Körper als materielles Ding haben sie dies bereits ausgedrückt. Um das “neue” 4E für innovativ zu halten, musste man erst einmal vergessen, was Phänomenologen schon lange wussten. Phänomenologen wie Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty hielten die Phänomene, also das, was Menschen erscheint, für grundlegend. Vermutlich hat es gar keinen Sinn, ein Phänomen wie Bewusstsein erforschen zu wollen, wenn man seine entscheidenden Eigenschaften von vorneherein ausschließt, d. h., in diesem Sinne geht auch der 4E-Ansatz nicht weit genug. Zwar braucht man eine holistischere Vorgehensweise, um Kognition zu verstehen, und zwar eine, die Verkörperung, Verhalten und Umwelt miteinschließt.
Literatur
Schleim, S. (2022). Warum die Hirnforschung die Psychologie braucht.
WWW: https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/warum-die-hirnforschung-die-psychologie-braucht/ (22-02-10)