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Die Hermeneutik

Das (griechische) Wort Hermeneutik (hermeneúein = aussagen, auslegen, übersetzen) bedeutet - grob umschrieben - zunächst: Kunst der Auslegung und Deutung, Technik des Verstehens und Verstehen-Könnens

Hermeneutik ist die Wissenschaft vom Verstehen.

Die Hermeneutik hat eine lange Tradition. Wilhelm Dilthey wollte diese Verstehen zu einer wissenschaftlich fundierten Technik entwickeln und nannte diese Hermeneutik, wobei er an Schleiermacher anknüpfte, der die Kunst der Hermeneutik bei der Textauslegung entwickelt hatte als eine philosophische Arbeitsweise. "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir."

 

 Der hermeneutische Zirkel

Die Hermeneutik  Der hermeneutische Zirkel

 

Unter Hermeneutik versteht man demnach die Auslegung oder Interpretation der Lebenswirklichkeit in der Zeit (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft). Die Erfassung der Lebenswirklichkeit wird über das Erleben, den Ausdruck und das Verstehen vermittelt (nach Dilthey).

In der philosophischen Tradition besitzt die Hermeneutik (seit dem 19. Jhdt.) drei Funktionen:

  • Fundierung einer spezifisch geisteswissenschaftlichen Methode (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften)
  • Betonung der Geschichtlichkeit des Menschen in seiner Lebenswelt
  • Analyse der Bedingungen von (Lebens-) Äußerungen des Menschen (etwa Kunst) im Ganzen seines (Welt) Horizontes (Weltanschauung!)

Verstehen meint die Erkenntnisform, die auf die Erfassung von Sinn, von Bedeutung (im Gegensatz zur Erklärung = Gründe, Ursachen, kausal) hinzielt.

Beispiel: "Spielen kann zweckfrei, aber sinnvoll sein (daher hermeneutisch betrachtbar)

Unter Sinn versteht man - als Gegensatz zu Zweck - die Inhalte des theoretischen und praktischen Handelns oder Verhaltens. Im Unterschied zum Erklären wird im Verstehen nicht der Inhalt primär aus anderem entstanden (Ursachen, Bedingungen) oder herleitbar begriffen, sondern in gewisser Weise aus sich selbst.

Hermeneutik im weiten Sinn
(erst seit jüngster Zeit)

Hermeneutik im engeren Sinne
(aus der Rhetorik hergeleitet)

repräsentiert eine bestimmte Auffassung einer Philosophie des sinnhaften Seins und Geschehens bzw. mit ihrer theoretischen und praktischen Aneignung durch den Menschen.

meint das Verstehen von überlieferten Texten. Ursprünglich im juristischen und theologischen (bis heute noch) Bereich beheimatet, wandte man die Hermeneutik seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch auf die Sprach- und Geschichtswissenschaft an.

Gleichzeitig setzte eine philosophische Reflexion des Verstehens (Schleiermacher, Dilthey u.a.) ein. Sie wurde insofern zur Methodologie, als sie die Reflexion ihrer selbst als konstitutiv für die Wissenschaften mit einschließt. Die im universalwissenschaftlichen Anspruch der Hermeneutik enthaltenen Schwierigkeiten wirken sich weiterhin aus - besonders im Konflikt mit dem Neuempirismus wurde die Hermeneutik vor die Frage ihrer Legitimation als wissenschaftliches Verfahren gestellt.

Bedeutung
für die Pädagogik

Vertreter
in der Pädagogik

Tradition der "Geisteswissenschaftlichen Pädagogik"

Nach Dilthey umfassen die Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften das "Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben".

Zwar hat die Hermeneutik bzw. die Geisteswissenschaftliche Pädagogik kein einheitliches System hervorgebracht, doch das hermeneutisch-pragmatische Verfahren, das die geschichtlich-edukative Reallage hermeneutisch aufhellt und aufklärt und ebenso die pädagogisch relevanten Fakten empirisch erforscht, hat besonders in den letzten Jahren in der Krise der Pädagogik (Selbstverständnis als Wissenschaft, Konfrontation mit Psychologie, Soziologie und anderen Gesellschaftswissenschaften) neuen Auftrieb erhalten.

Spranger
Kerschensteiner
Nohl
Litt
Weniger
Flitner
Klafki (in den Anfängen)
vgl. dazu "Bildungstheoretische Didaktik")

Im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Bildungstheorien sind einige Themen besonders intensiv diskutiert worden: die Autonomie der Pädagogik, der pädagogische Bezug, die geisteswissenschaftliche Didaktik, die Theorie der Bildsamkeit, das Normenproblem und die Theorie der Bildungsinhalte (Klafki, Weniger). Vor allem Klafki konstituierte Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie, die Hermeneutik, Empirie und Ideologiekritik umfaßt. Grundgedanke der Hermeneutik ist die Unterscheidung zwischen elementarem und höherem Verstehen.

elementares
Verstehen

 

höheres
Verstehen

alltäglich, nicht bewußt
individuell
subjektiv

Sie richtet sich auf einzelne Lebensäußerungen.

 

baut auf elementarem Verstehen auf
allgemeingültige Zusammenhänge
objektiv (nicht mit absolut verwechseln)

Richtet sich auf Ganzheiten von miteinander in Beziehung stehenden Lebensäußerungen.

Regeln der Hermeneutik

Die Hermeneutik liefert keine Instrumente zur objektiven Erkenntnis, doch sie bietet "Regeln", die beim höheren Verstehen beachtet werden sollen.

Zur Erfassung von Sachverhalten müssen folgende drei Fragen geklärt werden:

  • Welche Bedeutung verband der Urheber mit dem zu Verstehenden?
  • In welchem Bedeutungszusammenhang steht das zu Verstehende?
  • Welche Zielsetzung war damit beabsichtigt?

Siehe dazu auch: Arbeitsschritte bei der Interpretation von Texten

Beim Verstehen ist zwischen psychologischem und Sinn- Verstehen zu differenzieren, etwas soll seiner Bedeutung nach erfaßt werden. Es soll nicht nach den Ursachen und Gründen gefragt werden.
 
Verstehen erfordert etwas Gemeinsames, der Sinn soll aus dem zu Verstehenden herausgeholt werden und nicht in das zu Verstehende hineingetragen werden. Aufgrund der Kultur und Zeitabhängigkeit des objektiven Geistes, ist es notwendig den kulturellen und geschichtlichen Zusammenhang zu berücksichtigen.
 
Für hermeneutisches Verstehen muß die Forderung nach Objektivität erfüllt sein. Hier stellt man sich die Frage wie andere etwas verstehen, welche Argumente vorgebracht werden und inwieweit Offenheit für Gegenargumente besteht. Willkürliche Subjektivität läßt sich dadurch vermeiden, das man sich seines Vorwissens bewußt wird, und versucht sein Verständnis sachlich zu begründen.
 
Höheres Verstehen erfolgt in einer Spiral- oder Zirkelbewegung. Es gilt herauszufinden, welchen Sinn ein Einzelelement vom Gesamtsinn und welchen Sinn das Allgemeine aus dem Besonderen erhält.
 
Der Abstand zwischen dem Interpreten und dem Verstehenden wurde als hermeneutische Differenz bezeichnet. Es ist zu klären wo diese Differenz liegt und ob es unbedingt notwendig ist diese Differenz zu beseitigen, da sie später vom Ganzen her aufgelöst wird (hermeneutischer Zirkel).
 
Hermeneutik ist keine technische Methode, es gibt lediglich einige Anhaltspunkte, von denen einige angeführt wurden, die einem Interpreten helfen sollen Sachverhalte zu verstehen. Doch diese genannten Regeln reichen allein nicht für das Verstehen aus.

Der Ausdruck "hermeneutische Differenz" oder auch "Distanz" macht auf ein Grundproblem aller sprachlichen Kommunikation wie auch der reflektierten Interpretation aufmerksam: Das was verstanden bzw. gedeutet werden soll, ist zunächst fremd, abständig, distanziert, und muß erst im Verstehens- bzw. Deutungsakt "angeeignet" werden.

Dabei sind graduelle Unterschiede sehr erheblich: In der eingelebten Alltagskommunikation wird die hermeneutische Differenz nicht oder nur punktuell, im Falle einer Störung bewußt. Deshalb ist, wie schon der Philosoph Schleiermacher bemerkte, bei "Wettergesprächen" in der Regel keine Hermeneutik nötig (die Differenz gleich Null). Am anderen Extrem ist keine Hermeneutik möglich, wo die Differenz unendlich wird: etwa bei einer Äußerung in einer mir völlig unbekannten Sprache. Hermeneutik findet demnach, einer berühmten Formulierung von Hans-Georg Gadamer folgend, "zwischen Fremdheit und Vertrautheit" statt: "In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik." (S.279)

Abgesehen von der prinzipiellen linguistischen Differenz (Verstehen und Auslegung setzten die Zugehörigkeit zur Sprachgemeinschaft der jeweiligen Äußerung bzw. die spezifische Sprachkompetenz voraus) ist bei der Betrachtung pädagogischer Tatbestände die historische Differenz zu berücksichtigen. Jeder einmal fixierte Text altert unaufhaltsam - die historische Differenz zwischen ihm und dem (gegenwärtigen) Interpreten wächst also. Verständnisschwierigkeiten entstehen in sprachlicher Hinsicht (z.B. veraltete Wörter und Ausdrucksformen, Bedeutungsveränderungen) wie in sachlicher (z.B. erklärungsbedürftige Fakten, Namen, Zusammenhänge). Die etwa in der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik wichtige poetologisch/rhetorische Differenz zum üblichen Sprachgebrauch ist bei pädagogischen Texten weniger relevant. Vielfach spielen diese Differenz-Komponenten ineinander.

Wilhelm Dilthey glaubte noch, in einem Akt der Einfühlung die hermeneutische Differenz überspringen und unmittelbares Verstehen gewinnen zu könnnen. Seit Gadamer hat sich jedoch eine Auffassung durchgesetzt, die den "Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens" nutzbar zu machen und "immer auch [...] die geschichtliche Situation des Interpreten" zu reflektieren (S. 280f.). Die Einsicht in diese historische Gebundenheit nicht nur des zu verstehenden Textes, sondern auch des jeweiligen Verstehens selbst öffnet - Gadamer zufolge - die Dimension der Wirkungsgeschichte.

Hermeneutische Differenz

 

Gadamer, Hans-Georg (1972). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen.

Quellen: http://www.wu-wien.ac.at/
usr/h96b/h9608493/arbeit2.html (01-05-11)
http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/
Vorlesungen/hermeneutik/hermdif.htm (02-08-10)



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