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Essattacken, Binge-Eating-Disorder

Der Begriff der "Binge-Eating-Disorder" wurde erstmals 1959 geprägt. Als eigenständige Diagnose gibt es ihn in den USA erst seit 1994. Das Wort "Binge" wird in der englischen Sprache im Zusammenhang mit exzessiven Trinken gebraucht, so dass "Binge-Eating" auch "Essen wie ein Besäufnis" bedeuten kann. Dies sagt bereits viel über die Natur der Störung aus und deutet ihre Nähe zu den Suchterkrankungen an.

"Binge-Eating-Disorder" (BED) lässt sich am einfachsten mit dem Wort "Essattacke" übersetzen, wobei die Betroffenen innerhalb von kurzer Zeit ungewöhnlich große Mengen an Nahrungsmitteln konsumieren. Eine solche Attacke ist dadurch definiert, dass innerhalb von Minuten bis zu zwei Stunden ungewöhnlich große Mengen an Nahrungsmitteln konsumiert werden, wobei meist Nahrungsmittel verschlungen werden, die viele Kohlenhydrate und Fette enthalten, jedoch wenig Vitamine und Mineralstoffe, sodass daher langfristig Mangelerscheinungen auftreten. Betroffene können nicht kontrollieren, wie viel sie essen oder wann sie mit dem Essen aufhören müssen. Dieses Syndrom betrifft etwa 2 % der Bevölkerung. Viele der Betroffenen sind übergewichtig, aber nicht alle. Obwohl das Störungsbild bereits 1959 erstmals beschrieben wurde, ist die Binge-Eating-Störung bisher nicht mit eigenen diagnostischen Leitlinien in der ICD-10 vertreten und wird ohne nähere Beschreibung unter F 50.9: "Nicht näher bezeichnete Essstörungen" oder unter F 50.4 "Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen" eingeordnet.

Eine neuere Studie von Anne Schienle (2008, Universität Graz) zeigte, dass das Belohnungssystem im Gehirn von Patientinnen mit Heißhungerattacken besonders empfindlich auf Nahrung reagiert, während Bulimikerinnen mehr Erregung als andere "Essgruppen" erleben.

Dazu betrachteten BED-Patientinnen und Bulimikerinnen mit vergleichbarem Schweregrad der Essattacken sowie gesunde Kontrollprobandinnen Bilder mit hochkalorischer Nahrung. Es zeigte sich, dass Frauen mit BED eine verstärkte Aktivierung im orbitofrontalen Cortex (einer zentralen Struktur des Belohnungssystems) während Nahrungsexposition sowie ein erhöhte selbstberichtete Belohnungssensitivität aufwiesen. Bulimikerinnen hingegen gaben an, mehr Erregung als alle anderen Gruppen erlebt zu haben. Außerdem wiesen sie eine verstärkte Aktivierung der Insula und des anterioren cingulären Kortex auf, was als zentrales Korrelat körperlicher Erregung bei der Betrachtung von angenehmen, aber ‚verbotenen’ Nahrungsmitteln gedeutet werden kann. Möglicherweise lassen sich aus den Befunden unterschiedliche Behandlungsrationale für Essattacken im Rahmen der BED und der Bulimie ableiten und die fMRT-Daten zur Verbesserung eines Störungsmodells der BED ableiten.

Binge Eating ist bereits im Kindes- und Jugendalter ein Problem, auch hier besonders bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen. Übergewichtige Kinder und Jugendliche leiden mehr als ihre normalgewichtigen Altersgenossen unter Hänseleien, wobei dieser Stress Auswirkungen auf Essverhalten, Körperbild und Selbstwert zeitigt.

   Anders als bei der Magersucht oder der Bulimie sind da auch viele Männer betroffen (35% der Patienten). Eine Erkrankung liegt dann vor, wenn wenigstens an zwei Tagen in der Woche Essattacken auftreten und zwar über einen Zeitraum von sechs Monaten. Die Heißhungerattacken sind in der weiteren Forlge mit Ekelgefühl gegen sich selbst, Niedergeschlagenheit, Scham und Schuldgefühlen verbunden. Scheitert der Versuch, weitere Essattacken zu unterdrücken, ziehen sich die Betroffenen häufig zurück und leben ihre Essattacken im Verborgenen aus. Sie können daher ihre Sucht häufig vor Familie und Freunde gut verstecken. Als weitere Symptome gelten besonders schnelles Essen, das Essen ohne Hunger, auf grund von Gefühlen der Schuld, Scham oder Peinlichkeit wird also allein gegessen. Die Essattacken werden immer häufiger als belastend empfunden. Im Gegensatz zur Bulimie, bei der ebenfalls Essattacken auftreten wird nicht durch drastische Maßnahmen zu verhindern versucht, die aufgenommene Nahrungsmenge wieder auszuscheiden. Dieses Syndrom steht auch im Gegensatz zum Essverhalten des typischen Übergewichtigen, das geprägt ist von einem ständigen Überessen. Mehr noch als alkoholkranke Menschen verstehen es Binge-eater geschickt, die Erkrankung selbst vor nahne Freunde oder Familienangehörigen zu verbergen. Im anglo-amerikanischen Raum gibt es die "Overeaters Anonymous", die davon ausgehen, dass Nahrung genauso Abhängigkeit erzeugen kann wie Alkohol oder andere Drogen, und mit einem ähnlichen 12-Punkte-Programm wie die Alkoholiker-Gruppen arbeiten.


Aus einem Interview mit einer Betroffenen: Eigentlich will Anna (33) gesund zu Abend essen. Sie hat alles eingekauft, was sie für den mexikanischen Eintopf braucht. Um die spezielle Bohnenpaste und das Fladenbrot zu besorgen, hat sie auf dem Nachhauseweg von der Arbeit extra einen ordentlichen Umweg gemacht. Sie wohnt allein, kocht nur für sich und hat an dem Tag nicht besonders viel Hunger. Den Rest wird sie einfrieren, so der Plan. Ein paar Stunden später sitzt sie auf dem Sofa, vor ihr mehrere Take-away-Kartons vom China-Imbiss um die Ecke und leere Verpackungen von diversen Snacks. „Ich trau es mich fast nicht sagen", sagt sie, wenn man sie fragt, was sie alles gegessen hat. Die Scham überkommt sie auch heute noch, gut drei Jahre nach ihrem ersten Fressanfall.

Wissenschaftliche Ergebnisse zeigen, dass die kognitive Verhaltenstherapie das Binge Eating Syndrom wirksam behandeln kann, wobei neuere Befunde auch das heilende Potential von Selbsthilfeprogrammen belegen. Die verhaltenstherapeutische Behandlung ähnelt den Behandlungsstrategien, die für die Bulimie entwickelt worden sind. Das Ziel ist dabei, das Essverhalten zu normalisieren und den Essrhythmus zu regulieren. Oft wird dazu ein Tagebuch über die gegessene Nahrungsmenge geführt. Das hilft, um Stimmungen, Gefühle und Gewohnheiten herauszufinden, die zu Essattacken führen. Verhaltenstherapeutische Strategien können dann helfen, eine vermehrte Selbstkontrolle zu gewinnen. Außerdem werden Bewältigungsstrategien für Stressfaktoren, die zu Essattacken führen, erarbeitet. Gelegentlich wird dies Vorgehen mit psychodynamischen Therapieansätzen kombiniert. Hier wird vor allem untersucht, welche Konflikte und Belastungen sich hinter der Störung verstecken und welchen Stellenwert diese in der eigenen Lebensgeschichte haben. Solche Therapieverfahren berücksichtigen die negative Selbsteinschätzung des eigenen Körpers und Aussehens, die viele Betroffene haben. Es wird versucht, ihnen zu helfen, das bestehende Gewicht zu akzeptieren und sich gut im eigenen Körper zu fühlen. Eine Gewichtsabnahme soll sich dann durch das normalisierte Essverhalten von selbst einstellen.


Quellen
http://www.m-ww.de/krankheiten/psychische_krankheiten/binge_eating_stoerung.html (04-03-20)
http://www.institut-avm.at/tagung/referent4.html (08-08-31)

Der Standard vom 31. Oktober 2023


Siehe zu Essstörungen auch

Siehe auch das Spezialthema Esstörungen bei Jugendlichen mit folgenden Arbeitsblättern:

 



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