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Ursachen von Essstörungen

Nahrungsaufnahme ist nicht nur ein rationaler Vorgang, sondern auch ein emotionaler, d. h., Menschen essen, weil sie überfordert, seelisch belastet oder unglücklich sind, weil das Essen in Gemeinschaft besonders gut schmeckt oder weil es der Hormonhaushalt signalisiert. Das Bedürfnis nach Essen entsteht im Gehirn, wobei vor allem der Hypothalamus über das Verlangen nach Nahrung entscheidet, denn er ist die Steuerzentrale des vegetativen Nervensystems und trifft aus verschiedenen Gründen die Entscheidung, wann es notwendig ist, wieder zu essen. Zwar hat man noch nicht endgültig erforscht, wie das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Verdauungsapparat in Detail abläuft, doch weiß man inzwischen, dass das Essverhalten nicht nur kognitiv sondern auch emotional gesteuert wird.

Wenn Menschen Nahrung aufnehmen, werden diese Informationen über die aufgenommene Nahrung vom Magen-Darm-Trakt an das Gehirn geleitet und regulieren so das Hunger- und Sättigungsgefühl. Auf Grundlage dieser Informationen wird im Gehirn etwa entschieden, ob man weiter isst, wobei zusätzlich auch Informationen über den Blutzuckerspiegel vermittelt werden. Diese Kommunikation verläuft wesentlich über den Vagusnerv, der sich vom Gehirn bis in den Magen-Darm-Trakt zieht. In der Schaltzentrale des Vagusnervs, dem etwa ein Millimeter großen Nodose Ganglion, sitzen die verschiedenen Nervenzellen, von denen einige den Magen und andere den Darm ansteuern. Manche dieser Nervenzellen reagieren auf mechanische Reize der Organe, wie die Ausdehnung des Magens, während andere chemische Signale, also Substanzen aus unserer Nahrung, wahrnehmen. Es ist also bekannt, dass sensorische Neuronen Signale aus dem Darm an das Gehirn weiterleiten, doch die genaue molekulare und funktionelle Organisation der verschiedenen Neuronenpopulationen ist noch weitgehend ungeklärt. Borgmann et al. (2021) haben jüngst am Mausmodell nun verschiedene intersektionale genetische Manipulationen eingesetzt, um die Ernährungs- und glukoregulatorische Funktion verschiedener sensorischer Neuronen zu untersuchen. Sie rekonstruierten die Darminnervationsmuster zahlreicher molekular definierter vagaler und spinaler Afferenzen und identifizieren ihre nachgeschalteten Ziele im Gehirn. Es zeigte sich bei der Untersuchung der Aufgabenteilung der Nervenzellen in der Schaltzentrale des Vagusnervs, dass die Nervenzellen zwar aus derselben Schaltzentrale stammen, aber unterschiedliche Regionen im Körper ansteuern und dann auch gegensätzliche Funktionen bei der Steuerung des Sättigungsgefühls und des Blutzuckerspiegels erfüllen. Einer dieser Zelltypen erkennt also die Ausdehnung des Magens, denn werden diese Nervenzellen aktiviert, essen die Mäuse deutlich weniger, d. h., diese Nervenzellen leiten Appetit-hemmende Signale an das Gehirn weiter und verringern darüber hinaus den Blutzuckerspiegel. Die zweite Gruppe von Nervenzellen steuert vor allem den Darm an, nimmt also chemische Signale aus der Nahrung wahr, hat aber keinen Einfluss auf die Nahrungsaufnahme, sondern die Aktivierung dieser Zellen erhöht den Blutzuckerspiegel. Die beiden Nervenzelltypen in der Schaltzentrale des Vagusnervs erfüllen somit gegensätzliche Aufgaben während der Nahrungsaufnahme. Die Aufnahme von Nahrung mit viel Volumen dehnt den Magen, aktiviert die dort liegenden Nervenzelltypen, sodass diese ab einem gewissen Punkt die weitere Nahrungsaufnahme stoppen und gleichzeitig den Blutzuckerspiegel entsprechend anpassen. Nahrung mit hoher Nährstoffdichte führt daher eher zu einer Aktivierung der Nervenzellen im Darm, und diese erhöhen den Blutzuckerspiegel weiter aktiv, indem körpereigene Glukose ausgeschüttet wird, stoppen aber nicht die weitere Nahrungsaufnahme.

Der Hypothalamus hält sich normalerweise grundsätzlich an bestimmte Messwerte, denn die Rezeptoren in Leber und Magen übermitteln permanent den Stand des Blutzuckers an das Gehirn. Sinkt der Blutzuckerspiegel ab, gibt das Gehirn den Befehl zur Nahrungsaufnahme, wobei auch die Menge des Hormons Leptin eine Rolle spielt, das in Fettzellen produziert wird, denn je mehr sich davon im Blut befindet, desto weniger treten Hungergefühle auf. Bei Übergewichtigen ist dieser Mechanismus oft außer Kraft gesetzt, d. h., sie haben ein Bedürfnis nach Essen, obwohl sie ohnehin große Mengen Leptin im Blut aufweisen. Das Belohnungssystem in ihrem Gehirn reagiert auch nur noch auf starke Reize, ähnlich wie das bei Suchtkranken der Fall ist, d. h., sie müssen größere Mengen zu sich nehmen als Normalgewichtige, um sich satt bzw. wieder wohl zu fühlen. Die Gehirne der Betroffenen haben in vielen Fällen zusätzlich auch das Planen verlernt und handeln bei der Nahrungsaufnahme impulsiv. Das liegt teilweise daran, dass es in einer schwierigen Situation für Menschen oft einfacher ist, etwas zu essen als das aufgetretene Problem zu lösen oder sich den unangenehmen Gefühlen zu stellen. Bekanntlich ist das Päckchen Gummibären beim Lernen umso schneller leer, je schwieriger ein Lernstoff ist ;-)

Eine der Ursachen von Übergewicht liegt vermutlich auch in der frühen Kindheit, denn schon weinende Säuglinge werden mit Nahrung getröstet, sodass das Gehirn Essen mit Zuwendung, Trost und Beruhigung verknüpft und bei der Nahrungsaufnahme das Belohnungszentrum aktiviert wird. Hinzu kommt der psychologische Effekt, dass Menschen unbewusst gegen alle Einschränkungen wie Nahrungspläne, die bei Diäten üblich sind, rebellieren, denn je mehr das Essverhalten in engen Bahnen verlaufen muss, desto eher neigen sie irgendwann dazu, über die Stränge zu schlagen. Die Gründe für Essstörungen sind daher äußerst vielfältig und können individuell sehr verschieden sein. Allen Arten von Süchten liegen bekanntlich multifaktorielle Ursachen zu Grunde; zwar gibt es in vielen Fällen einen bestimmten Auslöser - die Hintergründe dees gestörten Verhaltens sind jedoch immer vielschichtig.

Das hedonische System sorgt dafür, dass Menschen auch aus Lust, Frust oder reinem Genuss essen, wobei hierfür unter anderem Dopamin verantwortlich ist, indem es Einfluss auf das Belohnungssystem im Gehirn nimmt. Wenn Menschen aus Lust oder Frust gegessen haben, fühlen sie sich danach besser als davor, denn sie haben sich mit dem Essen belohnt. Für viele Menschen sind Essen und Emotionen seit der Kindheit eng miteinander verknüpft, denn viele Verhaltensweisen rund um die Ernährung sind so stark verinnerlicht, dass sie durch bloße Eigenmotivation nur schwer zu verändern sind. Daher sollten wirksame Ansätze zur Behandlung etwa bei Über- oder auch Untergewicht auch hier ansetzen, denn emotionales Essen kann zum gesundheitlichen Risiko werden, vor allem dann, wenn Menschen zu Übergewicht neigen und sich dieses dadurch noch weiter verstärkt. Es ist daher wichtig, die Zusammenhänge von Emotionen und Essen besser zu verstehen, vor allem im Zusammenhang mit der Vorbeugung, aber auch bei der Behandlung von Übergewicht. Wenn Menschen lernen, die Signale ihres Körpers besser zu interpretieren, ist es eher möglich, mit anderen Entspannungsmethoden auf Stress zu reagieren, als die Anspannung mit Essen zu kompensieren.

Biologische Faktoren

Das genetische Potential eines Organismus wird im Augenblick seiner Empfängnis festgelegt, doch das Ausmaß, in dem sich dieses Potential entfaltet, hängt von seiner Interaktion mit der Umgebung ab. Manche Genotypen gedeihen in einer bestimmten Umgebung und in einer anderen nicht, oder eine spezielle Umgebung kann gewisse Anlagen verstärken und andere hemmen Die Untersuchungen, die zum Thema Genetik und Essstörungen gemacht wurden, sind bis jetzt sehr widersprüchlich ausgefallen. Manche Studien zeigen, dass von eineiigen Zwillingen in der Regel nur einer erkrankt und schließen daher eine genetische Disposition mehr oder weniger aus. Andere Forschungsergebnisse besagen das Gegenteil. Eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse gibt es noch nicht, , aber man kann jedoch jetzt schon davon ausgehen, dass Essstörungen keine rein erblichen Krankheiten sind, wobei die Möglichkeit von "begünstigenden" Faktoren nicht ausgeschlossen werden kann. So ist zum Beispiel auch der Neurotransmitter Serotonin, dem u.a. bei der Regulierung von Gefühlszuständen und der Nahrungsaufnahme eine bedeutende Funktion zukommt, Gegenstand vieler Untersuchungen.

In einem Versuch (Malik et al., 2008) präsentierte man Probanden Bilder von verschiedenen Lebensmitteln, bei denen sie angeben sollten, wie gerne sie diese essen und wie viele Kalorien sie wohl enthalten. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmer ziemlich schlecht darin waren, den Brennwert korrekt einzuschätzen, boten aber trotzdem in einer anschließenden simulierten Auktion dieser Lebensmittel gezielt mehr Geld für das kalorienreichere Essen. Ging es um die persönlichen Vorlieben, regten sich bei den Teilnehmern vermehrt Gehirnareale, die für die Verarbeitung von Sinneseindrücken zuständig sind, doch beim bloßen Anblick des Essens wurde etwa der ventromediale präfrontale Kortex aktiv, der unter anderem den Wert von Stimuli mitbeurteilt und so abwägt, ob man das Nahrungsmittel verzehren sollte. Wenn also offensichtlich verschiedene Speisen zur Auswahl stehen, entscheiden sich die meisten Menschen unbewusst vom Gehirn gesteuert treffsicher für das Essen mit den meisten Kalorien.

de Vries et al. (2020) haben in einer Untersuchung gezeigt, dass es Unterschiede im räumlichen Gedächtnis für Lebensmittel unterschiedlichen Energiegehalts gibt. Probanden sollten sich in einem Labyrinth den Ort von kalorienreichen Lebensmitteln wie Pommes frites oder Chips und kalorienarmen Alternativen wie Obst und Gemüse merken und dann die Lebensmittel wiederfinden. Dabei stellte man fest, dass das Gehirn sich anscheinend besser an die Orte von Lebensmitteln mit einem hohen Kaloriengehalt erinnern kann, wobei diese Neigung unabhängig von geschmacklichen Vorlieben der Probanden oder ihrer Vertrautheit mit bestimmten Lebensmitteln war. Diese Voreingenommenheit könnte ein Erbe der Evolution sein, auch wenn man dieser Voreingenommenheit nicht ausgeliefert sein muss

Soziokulturell - gesellschaftliche Faktoren

Problematisierungsweisen von menschlichem Verhalten sind nach Foucault (2012) zentrale Prozesse der Subjektivierung, wobei ein Subjekt zu einem Begriff von sich selbst weniger über die Sprache davon kommt, was normal ist, als davon was nicht normal ist. Problematisierungen sind demnach als Teil der Maschinerie zur Hervorbringung von Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen zu verstehen. Da die Problematisierung als Wirkungsweise von Macht gerade auf die Selbststeuerung der Individuen zielt, sind die Orte der Machtausübung paradoxerweise häufig jene, an denen es keine Pflicht und kein Verbot gibt. Das trifft auch auf den Bereich der Ernährung zu, wie auch auf viele weitere Formen von Eigenkörperregierungen, was auch die Fülle an öffentlichen Problematisierungsmechanismen in diesem Bereich erklärt. So gibt es eine große Anzahl an moralisch konnotierten Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Essen und Trinken, was nicht zuletzt zu einer Etablierung und Popularität von Fitnessstudios führte und diese somit als Zeugnis der wachsenden Bedeutung eines idealisierten Normalkörpers und einer diesen kultivierenden Lebensweise gesehen werden können. Somit sind auch die Imperative zur körperformenden Sportausübung, wie sie in Magazinen und in der Werbung für Fitnessstudios angepriesen werden, ein Teil der Ernährungsethik, die den menschlichen Körper als Zeichen für den Erfolg einer Selbstregierung symbolisiert.

Bei den Ursachen von Essstörungen spielen sicherlich der "Schlankheitswahn" und der schon erwähnte Diätkreislauf eine Rolle, sie können jedoch nicht allein für das Krankheitsbild der Essstörungen verantwortlich gemacht werden. Besonders bei Frauen kommt neben den Ansprüchen nach einem schlanken Körper auch noch mit eine Vielzahl von anderen Anforderungen hinzu: Erfolg und Durchsetzungsfähigkeit lassen sich nur schwer mit den als typisch weiblich zugeordneten Eigenschaften wie Sensibilität, Einfühlungsvermögen, Warmherzigkeit und Nachgiebigkeit vereinbaren. Die Verbindung von Kindern und Karriere steht in starkem Konflikt zu den alten Rollenverteilungen und -vorstellungen. Je weniger eine Frau ihre eigenen Bedürfnisse kennt und je schlechter ihr Selbstbewusstsein ausgebildet ist, desto mehr versucht sie, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Um den Vorstellungen der Familie, der Mannes, der Kinder und der Gesellschaft zu entsprechen und die dazugehörigen Konflikte auszuhalten, gibt es oft nur einen Weg - den Weg in die Essstörung.

Familiäre Faktoren

Von großer Bedeutung, ob Menschen Essstörungen bekommen oder nicht, ist die jeweilige psychische Entwicklung innerhalb der Herkunftsfamilie. Abgesehen von den Essgewohnheiten einer Familie (z.B. häufige Diäten der Mutter) können auch andere Faktoren die Entstehung von Essstörungen begünstigen. Die betroffenen Familien wirken nach außen hin oft perfekt; Konflikte und Emotionen werden jedoch lediglich totgeschwiegen. Dieses zur Schau gestellte Zusammengehörigkeitsgefühl verhindert jede Art von gesunder Individualität: Kinder können sich innerhalb der Familie nicht entfalten und selbständig werden. Auf diesem Weg kann kein gesundes Selbstbewusstsein aufgebaut werden. Die Abgrenzung zur Familie gelingt meist nur schwer - hier haben viele Essstörungen ihren Anfang. Die Betroffenen lehnen sich damit gegen Erwartungen auf und versuchen, sich von den Eltern zu lösen. Gleichzeitig signalisieren sie jedoch das Bedürfnis, umsorgt zu werden. Das Ausdrücken eigener Bedürfnisse kann durch eine Essstörung geschehen - so gelingt im Konflikt zwischen Anpassung und Autonomie eine Abgrenzung, ohne die Regeln zu brechen oder die Erwartungen der Familie zu enttäuschen.

Säuglinge und Kleinkinder können ihre Bedürfnisse oft noch nicht eindeutig artikulieren. Eltern können manchmal schwer erkennen, was ihr Kind möchte und adäquat darauf reagieren. Manchmal hat es Hunger und bekommt nichts, dann ist es satt und zufrieden und muss trotzdem essen. Wird Nahrung als großer "Schnuller" ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Gründe für das Unbehagen des Kindes oder als Belohnung für "braves" Verhalten verabreicht oder als Bestrafung für unerwünschtes und missbilligtes Verhalten verweigert, wächst das Kind verwirrt heran und wird unfähig, verschiedene Bedürfnisse voneinander zu unterscheiden. Es fühlt sich hilflos in der Steuerung seiner biologischen Triebe und emotionalen Impulse, sodass hier die Grundsteine für eine Essstörung oder aber für ein gesundes Essverhalten gelegt werden.

Magersüchtige Mädchen entwickeln z.B. ihre Essstörung häufig in der Pubertät als Abgrenzungskampf gegen ihre Eltern, und wollen unter keinen Umständen so werden wie die eigene Mutter. In erster Linie wird der eigene Körper abgelehnt. In der sogenannten "anorektischen" Familie gibt es in der Regel keine offenen Konflikte, die Probleme werden "unter den Teppich gekehrt". Nach außen herrscht harmonische Eintracht. Zwischen den Familienmitgliedern gibt es wenig Distanz und Eigenständigkeit. Das Magern betrachten die Mädchen und jungen Frauen als einzige Möglichkeit, wenigstens über den eigenen Körper Autonomie zu besitzen.

Esssüchtige Frauen mussten schon sehr früh Verantwortung übernehmen und eigenständig sein. Häufig wurde ihnen zu früh die Sorge um ihre jüngeren Geschwister übertragen. Obwohl bei den betroffenen Frauen eine große Bedürftigkeit besteht, endlich selbst einmal etwas zu bekommen, gelingt ihnen dies in der Regel nicht auf dem direkten Weg, sondern über den Umweg des "Gebens". Die bulimische Frau, die in der Regel, ähnlich der anorektischen Frau, eine sehr verwobene Mutter-Tochter-Beziehung hat, ist häufig sehr bemüht, nach außen alle an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Sie kann als "Superfrau" gesehen werden, die eine brave Tochter für die Eltern ist, eine attraktive Frau für den Partner und leistungsorientiert für den Arbeitgeber ist. Mit großer Anstrengung versucht sie nach außen diesen unterschiedlichen Rollenanforderungen gerecht zu werden, und entstehende Konflikte werden mit dem Körper ausgetragen. Ess-Brech-Anfälle sind, wenn auch sprachlos, als Protest gegen die massiven, oft nicht zu vereinbarenden Anforderungen zu verstehen. Das Erbrechen erleben viele Frauen als symbolische Reinigung von Fremdansprüchen.

Häufig finden sich in der Biographie der Patientinnen Ereignisse, die auf mehr oder weniger schweren sexuellen Mißbrauch hinweisen, wobei die Täter meist aus dem Bekanntenkreis oder der Familie kommen. Kinder, die kein gesundes Selbstwertgefühl aufbauen konnten, versuchen um jeden Preis, die Erwartungen der Familie zu erfüllen und auf diesem Weg Anerkennung und Liebe zu bekommen. Sie wagen nicht, Grenzen zu ziehen und zu widersprechen und werden damit zu idealen Opfern.

Individuelle, persönlichkeitsspezifische Faktoren

Als Grundkonflikt bei Essstörungen wird die Suche nach der eigenen Identität angesehen. Häufig ist sie begleitet von langjährigen inneren Kämpfen zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung. Anfangs innerhalb der Familie, später in Beziehungen zu Partnern und im öffentlich-gesellschaftlichen Leben. Esssüchtige haben meist ein äußerst instabiles Selbstwertgefühl und versuchen, sich Liebe und Anerkennung durch Leistung oder Anpassung zu verdienen. Frauen mit Essstörungen sind oft perfektionistisch veranlagt, denn sie haben das Gefühl, sich anderen ständig beweisen zu müssen und nichts, was sie tun, ist gut genug. Ziele, die erreicht wurden, werden entweder konsequent verleugnet und ignoriert oder durch neue, höhere ersetzt. Die Ansprüche, die die Betroffenen sich selbst gegenüber haben, sind in der Regel völlig übertrieben und können daher gar nicht erreicht werden. Der eigene Körper wird konsequent abgelehnt und alle Versuche, sich mit ihm auseinanderzusetzen und anzufreunden, werden genauso abgeblockt wie positive Kommentare von anderen Menschen. Viele Betroffene erwecken das Eindruck, sich gar nicht helfen lassen zu wollen. Die Sucht ist das einzige, worauf sie sich verlassen können, denn nur hier erleben sie hin und wieder ein Gefühl von Macht und Kontrolle über ihr Leben. Die Essstörung ermöglicht ihnen, unangenehme Gefühle nicht spüren und nicht ausdrücken zu müssen. Frauen, die von Essstörungen betroffen sind, haben grundsätzlich Probleme mit Nähe und Distanz; sie haben nicht gelernt, ihre Grenzen richtig wahrzunehmen. Bei Übergewichtigen offenbart es sich in ihrem Körperfett als unscharfer Ich-Grenze, bei Bulimikerinnen in der extremen Durchlässigkeit ihrer Grenzen - sie lassen zuviel hinein und müssen es dann gewaltsam wieder hinausbefördern - und bei Magersüchtigen in einem Zuviel an Grenzziehung - sie lassen zuwenig in sich hinein. Esssüchtige sagen immer "ja", Bulimikerinnen immer "ja, aber" und Magersüchtige immer "nein".



Auf den Fidschi-Inseln verfünffachte sich die Zahl der bulimiekranken Frauen, nachdem 1995 der Fernseher eingeführt wurde und vorwiegend schlanke Mädchen zu sehen waren.


In der Pubertät lösen die Veränderungen der weiblicheren Körperproportionen bei Mädchen manchmal negative Gefühle und Unzufriedenheit aus. Obwohl statistisch betrachtet nur 10 Prozent der weiblichen Jugendlichen unter klinischen Essstörungen leiden, versucht mindestens jede Zweite, ihr Gewicht durch Diäten oder exzessive sportliche Betätigungen zu reduzieren (Davies & Furnham 1986), um so eher dem kulturell präferierten Körperideal für Frauen zu entsprechen. Besonders dann, wenn Freunde und Bekannte Schlankheit eine große Bedeutung beimessen oder die Mädchen wegen ihres Gewichts gehänselt werden, kommt es während der Pubertät zu exzessiven Sorgen über das eigene Körpergewicht (Taylor et al. 1998). Mit dem eigenen Körper unzufrieden zu sein, stellt wiederum einen Risikofaktor für die Ausbildung eines negativen Selbstbilds sowie internalisierter Probleme wie depressivem Affekt, dessen Prävalenz besonders bei Mädchen in der Pubertät ansteigt, dar (Cairns, McWhiter, Duffy & Barry 1990).

Warnzeichen für Essstörungen

Essstörungen bleiben lange im Verborgenen, meist gibt es nur allgemeine Hinweise. Mädchen, die an einer Anorexia nervosa leiden, versuchen am Anfang, familiäre Mahlzeiten zu meiden und benutzen dafür Ausreden wie: "Ich habe schon gegessen", oder "Ich habe gar keinen Hunger." Dabei widmen sie sich häufig mit Ausdauer dem Wohlergehen der Familie, kochen aufwendige Gerichte für andere. Auch innerlich sind die Betroffenen ständig mit dem Essen beschäftigt, alle Lebensmittel werden in gute (nicht dick machende) und schlechte (dick machende) eingeteilt. Kalorien und Fettpunkte werden genauestens kontrolliert. Unter dem Vorwand, sich gesund zu ernähren, wird lange Zeit eine stark einseitige Ernährung durchgeführt. Viele Früchte und Gemüse werden konsumiert, manchmal ausschließlich Babybrei.

Das Essverhalten erfährt mit zunehmender Erkrankung eine immer stärkere Kontrolle. Dabei wird es auch zur Kontrolle von anderen eingesetzt. Häufig bestimmen Mädchen mit Essstörungen das Familienklima. Es besteht eine krankhafte Furcht, dick zu werden, was bei längerem Krankheitsverlauf zum völligen Vermeiden größerer Mahlzeiten oder sozialer Situationen, in denen gegessen wird, führt. Nach einer Nahrungsaufnahme versuchen die Mädchen, die Kalorien wieder abzutrainieren oder aus dem Körper zu entfernen. Übermäßiges Sporttreiben ist ein sichtbares Warnzeichen.

Im Sozialbereich ziehen sich die Mädchen häufig aus bestehenden Freundschaften zurück, haben keine Lust mehr, mit anderen etwas zu unternehmen. Nicht selten kommt es zu einem Rückzug ins Elternhaus, wobei sozial erwünschte Kontakte wie der Gang zur Kirche oder zur Schule lange aufrechterhalten werden. Im körperlichen Bereich wird die Abmagerung der Mädchen verdeckt durch Schlabberkleidung oder Tragen dicker Pullover und Mäntel; es fällt eine schlechte Durchblutung der Hände auf.

Bulimische Mädchen sind dagegen normalgewichtig, man sieht ihnen die Bulimie nicht an. Bei chronischem exzessiven Erbrechen schwellen die Ohrspeicheldrüsen wie bei Mumps an, und es entsteht ein "Hamstergesicht". Diese Patientinnen sind oft sozial unangepasster als solche mit einer Anorexia nervosa. Schule schwänzen, aber auch Ladendiebstähle kommen öfter vor. Sie leiden an starken Stimmungsschwankungen und depressiven Verstimmungszuständen. Absichtlich zugefügte Schnittwunden, meist an den Unterarmen, können mit dieser Erkrankung verbunden sein.


Literatur

Borgmann, Diba, Ciglieri, Elisa, Biglari, Nasim, Brandt, Claus, Cremer, Anna Lena, Backes, Heiko, Tittgemeyer, Marc, Wunderlich, F. Thomas, Brüning, Jens C. & Fenselau, Henning (2021). Gut-brain communication by distinct sensory neurons differently controls feeding and glucose metabolism. Cell Metabolism, doi:10.1016/j.cmet.2021.05.002.

Foucault, Michel (2012). Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Imgart, Hartmut (2002). Essstörungen.
WWW:http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/essstoerungen1.html (04-10-22)

Malik, S., McGlone, F. & Dagher, A. (2008). Ghrelin Modulates the Hedonic Value of Visual Food Stimuli: A fMRI Study in Humans. Cell Metabolism, 7, 400-409.

Silbereisen, Rainer K. & Weichold, Karina (2000). Pubertät und psychosoziale Anpassung. In M. Hasselhorn & R. K. Silbereisen (Hrsg.), Enzyklopädie Psychologie, Serie V
(Entwicklung), II Grundlegende Veränderungen während des Jugendalters.

de Vries, Rachelle, de Vet, Emely, de Graaf, Kees & Boesveldt, Sanne (2020). Foraging minds in modern environments: High-calorie and savory-taste biases in human food spatial memory. Appetite, 152, doi:10.1016/j.appet.2020.104718.


Siehe auch das Spezialthema Essstörungen bei Jugendlichen mit folgenden Arbeitsblättern:


Das Prader-Willi-Syndrom - eine genetisch bedingte Essstörung

Das Prader-Willi-Syndrom führt zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr zu einer starken Esssucht, die zwangsläufig zu Übergewichtigkeit führt. Diese genetisch bedingte Krankheit tritt durchschnittlich bei jedem sechzehntausendsten Neugeborenen auf. Die davon betroffenen Kinder wachsen verlangsamt heran und sind meist in Grobmotorik und Intelligenz unterdurchschnittlich entwickelt. Im Erwachsenenalter beträgt die durchschnittliche Größe von Patienten mit Prader-Willi-Syndrom 146 cm (Frauen) und 152 (Männer). Folgeerkrankungen sind häufig.

Die genetischen Defekte, die dem Prader-Willi-Syndrom zu Grunde liegen, sind weitgehend bekannt, wobei die Symptome durch eine Fehlfunktion des Zwischenhirns verursacht werden. Bei vielen Patienten können Wachstum und Körperproportionen mit Hilfe von mit Wachstumshormonen normalisiert werden.

Quelle

http://www.pezz.ch/ (07-03-28)

Linktipp zu Wachstumsstörungen in der Kindheit und Jugend: PEZZ - Pädiatrisch-Endokrinologisches Zentrum Zürich

 



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