Die moralische Entwicklung
Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat
schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor
älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute
stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie
widersprechen ihren Eltern schwadronieren in der Gesellschaft,
verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und
tyrannisieren ihre Lehrer.
Sokrates (470 - 399 v. Chr.)
Die Untersuchung der Entwicklung der Moralvorstellungen des Menschen wird schon seit langem als zentraler Problembereich der Sozialwissenschaften betrachtet, wobei hier ein Schwerpunkt auf die Phasen der Kindheit und Jugend liegt. Allerdings ist es schwierig, den Aspekt der Moralentwicklung von den anderen Bereichen der sozialen Entwicklung und Sozialisation - wie z.B. der Entwicklung der Persönlichkeit und Verhaltensmustern, Aggression, Fleiß oder Leistungsmotivation - immer eindeutig abzugrenzen.
Man versteht unter moralischer Entwicklung vornehmlich jene Teilprozesse der Sozialisation, die zur Internalisierung von grundlegenden sozialen Normen und Regeln führen, wobei erwartet wird, dass ein Individuum auch dann den Regeln gemäß handelt, wenn es die Neigung spürt, sie zu übertreten, und wenn weder eine Überwachung vorhanden noch Sanktionen zu fürchten sind (vgl. Colby & Kohlberg 1986). Neben diesem Widerstand gegen die Versuchung ist auch der Aspekt des Schuldgefühls wichtig, d.h., dass nach der Verletzung kultureller Normen selbstbestrafende oder selbstkritische Empfindungen wie Reue und Angst auftreten. Die Internalisierung eines Standards impliziert schließlich auch, dass das Individuum aufgrund der erworbenen Regeln Urteile über eigenes und fremdes Verhalten fällen kann. Konkretes moralisches Verhalten kann allerdings niemals isoliert betrachtet werden, denn einerseits wird dieses immer auch von Aspekten der Persönlichkeit und andererseits der aktuellen Situation mitbestimmt werden. Untersuchungen zur Ehrlichkeit bei Kindern etwa haben gezeigt, dass Faktoren wie die Intelligenz, die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub oder auch die Aufmerksamkeit meist in Verbindung zu moralischem Verhalten stehen. Moralisches Verhalten muß daher im großen und ganzen als das Resultat derselben situativen Kräfte, Ich-Variablen und Sozialisationsfaktoren verstanden werden, die auch jene Verhaltensweisen determinieren, die nicht unmittelbar moralisch bedeutsam sind.
Es gibt daher drei Kriterien der (reifen) Moral:
- Die Internalisierung von Normen, d.h. das Erleben des Sollens oder der normativen Verpflichtung, ohne äußere Kontrolle, Zwänge, Anreize, einer selbst vertretenen Norm zu entsprechen.
- Ein Gerechtigkeitsempfinden im Sinne des Verständnisses für Regeln der Verteilung und des Austausch von Gütern bzw. von Belohnungen und Bestrafungen in einem sozialen System.
- Die Zurückstellung eigener Bedürfnisse und Interessen gegenüber Anderen auf der Basis einer gegenseitigem Verantwortung, ausgedrückt, im Erleben von Mitgefühl, Schuld oder Ähnlichem bzw. dadurch, dass man einem Anderen hilft oder ihm nicht schadet.
Wesentlich ist, dass ein bestimmtes Verhalten für sich genommen (z.B. zu helfen, eine Belohnung aufzuschieben, lügen) sich nicht per se als moralisch oder unmoralisch klassifizieren läßt. Jemand anderem helfen, kann auch egoistischen Motiven entspringen z.B. sich der Dankbarkeit des Anderen zu versichern oder die eigene Überlegenheit zu demonstrieren; eine Lüge oder Notlüge dient eventuell einem guten Zweck ohne einem Anderen weh zu tun. Erst das Vorliegen oder das Nichtvorliegen der Kriterien der Moral, klassifiziert ein Verhalten als moralisch oder unmoralisch.
Überblick
- Das Modell der moralischen Entwicklung nach Lawrence Kohlberg
- Die Stufen der moralischen Entwicklung nach Lawrence Kohlberg
- Tabellarische Übersicht: Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung
- Vergleich der Modelle Kohlbergs und Piagets zur Entwicklung des Denkens und der Moral
- Lawrence Kohlberg (1927-1987)
- Moralische Entwicklung: Dilemmata
- Werner Stangl: Kennen Sie Kohlberg? Ein Quiz
- Georgia Batisweiler: Die pädagogische Umsetzung der moralpsychologischen Entwicklungstheorie von Kohlberg
- Georg Lind: Psychology of Morality and Democracy and Educational Applications
- Georgia Batisweiler: Kritikpunkte an Kohlbergs Theorie
- Ralf Gesellensetter: Moralentwicklung. Kritiken, Erweiterungen und Alternativen zur Kohlberg-Theorie
- Literaturüberblick: Moralische Entwicklung
- Studie: Die Moral sitzt im Vorderhirn
- Elisabeth Jecht: Gibt es eine natürliche Moral?
- Die sozial-kognitive Entwicklung
- Delinquenz im Jugendalter
- Präventive und korrektive Maßnahmen zur Jugenddelinquenz
- Unterschiede in der Moral 16-jähriger zwischen Stadt und Land
- Die moralische Entwicklung von Jugendlichen
- Moralische Entwicklung im Geschlechts- und Kulturvergleich
- Moralische Selbstdarstellung
Piaget (Bild rechts) definierte Moral - sich auf Kant sowie Durkheim berufend - als ein System von Regeln, wobei der Kern jeder Sittlichkeit in der Achtung besteht, die das Individuum für diese Regeln empfindet (vgl. Piaget 1983, S. 23). Die Aussagen über die Moralentwicklung stützen sich auf zwei Untersuchungsansätze: die Untersuchung des Regelverständnisses und der Regelbeachtung und die Untersuchung von Urteilen hinsichtlich gut und böse und der Strafwürdigkeit von verschiedenen Handlungen.
Besondereren Wert legte Piaget auf jene Regeln bzw. Regelvorstellungen, die von den Kindern selbst geschaffen werden Nach Jean Piagets Entwicklungstheorie kommt das Kind aus einem amoralischen Stadium in ein Stadium des Respekts gegenüber unverletzlich scheinenden Regeln (moralischer Realismus). Bei der Analyse der kindlichen Moralentwicklung benutzte er Regelspiele (z.B. das Murmelspiel), mit denen er das Praktizieren der Regeln untersuchte, d.h., die Art wie Kinder verschiedenen Alters sich den verpflichtenden Charakter, die Heteronomie (Fremdgesetzlichkeit) oder die Autonomie (Willensfreiheit) der Spielregeln vorstellen.
Das Kind betrachtet Regeln wie andere Dinge (Kindlicher Realismus) und ist unfähig, zwischen subjektiven und objektiven Aspekten der Umwelt bzw. seiner Erfahrung mit ihr zu unterscheiden (Egozentrismus). Während das Vorschulkind und Schulkind von einer autoritätsbestimmten (heteronomen) Moral geleitet wird (moralischer Realismus) entwickelt sich gegen Ende des Grundschulalters eine selbstbestimmte (autonome) Moral, die unabhängig von den erwachsenen Bezugspersonen wirksam ist.
Piagets Moralstufen
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Literatur
Colby, Ann & Kohlberg, Lawrence (1986). Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz. In H. Bertram (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie (S. 130-162). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
[http://www.pa-linz.ac.at/skripten/EckerF/Schwerpunkt/morurteil.gif]
Aufbauend auf Piagets Modell entwickelte Lawrence Kohlberg (Bild) ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens. Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu.
Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, dass es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt und dass auf den einzelnen Altersstufen Urteile im Sinne verschiedener Stadien abgegeben werden, je nach Situation und Problemstellung.
Georg Lind von der Universität Konstanz, der mit Kohlberg zusammengearbeitet hatte (das Bild Kohlbergs aus dem Jahr 1983 stammt von Georg Lind), hat die Methoden in Rahmen eigener Interventionsstudien und Lehrerfortbildungsprogrammen weiter ausgearbeitet.
Moral Judgment Test (MJT)
Der "Moral Judgment Test (MJT)" hat inzwischen eine große Verbreitung gefunden und wurde in zahlreichen Studien eingesetzt. Auf der Homepage zur "Konstanz Method of Dilemma Discussion (KMDD)"
findet sich eine umfassende Zusammenstellung solcher Arbeiten, die die
Wirksamkeit belegen. Enthält viele Materialien und Beschreibungen durch
Durchführung von Dilemma-Diskussionen in unterschiedlichen Fächern aus
dem schulpraktischen Erprobungsprojekt "Demokratie und Erziehung in der
Schule" (1985-1991) in Nordrhein-Westfalen
Lerkiatbundit, S., Utaipan, P., Laohawiriyanon, C., & Teo,
A., 2006. Randomized controlled study of the impact of the Konstanz
method of dilemma discussion on moral judgement. Journal of Allied
Health, 35(2), 101-108. ... more (password required)
"The [MJT] was translated from English into Thai and validated in
247 students in grade nine, grade twelve, and first and second year
pharmacy students. Overall, the scale satisfies four validity criteria:
preference hierarchy, quasi-simplex structure of stage preference,
affective-cognitive parallelism, and positive correlation between
education and moral competence score (C-index). Test-retest reliability
with onemonth interval was 0.90."
Eine sorgfältig angelegte, randomisierte Interventions-Studie mit
Studierenden in Gesundheitsberufen (n=83) in Thailand bestätigt Befunde
ähnlicher Studien mit deutschen Studierenden: Die Konstanzer Methode
der Dilemmadiskussion (Lind, 2003) bewirkte sehr große Gewinne an
moralischer Urteilsfähigkeit. Die "Experimentalgruppe" zeigt nach sechs
Sitzungen einen Gewinn von 14 Prozentpunkten (C-Wert) auf einer Skala
von 0 bis 100, während die Werte der Kontrollgruppe unverändert blieb.
Der Effekt blieb auch sechs Monate später noch voll nachweisbar. Die
Test-Tetest-Korrelation in einer separaten Studie betrug r = 0.90. ..
Lind, G., Hartmann, H.A. & Wakenhut, R., eds., 1985. Moral
Development and the Social Environment. Studies in the Psychology and
Philosophy of Moral Judgment and Education . Chicago: Precedent
Publishing. (Preface by L. Kohlberg; original contributions by T.
Bargel, H. Bertram, R. Döbert, G. Lind, G. Nunner-Winkler, H.A.
Hartmann, Th. Krämer-Badoni, R. Wakenhut and others, and a contribution
by J. Habermas). ISBN 0913750271. (pdf-files contain only reprints of
the articles by G. Lind and H. Heidbrink).
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For more publications by Lind and downloads, see list of publications.
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24.7.1947 in Sèvres (Typoscript) (zit. n. Piaget, 1986).
"Die geistige [intellektuelle und moralische] Erziehung is ein
einheitliches Ganzes. Wenn der Verstand des Schülers im Bereich des
Wissens der Autorität des Lehrers unterworfen wird, kann sich auf der
anderen Seite das moralische Bewußtsein dieses Schülers nicht befreien,
um eigene Verhaltensregeln für aktuelle Probleme zu entwickeln." (1986;
S. 122)
"Der Bildung des Menschen wird Gewalt angetan, wenn Jugendliche
Unterricht in Staatsbürgerkunde und internationaler Zusammenarbeit
erhalten und dieser Unterricht jene Zeit in Anspruch nimmt, in der die
Jugendlichen diese Staatsbürgerkunde und internationale Zusammenarbeit
im Rahmen des spontan organisierten sozialen Lebens selbständig
entdecken können. Wann immer das Reden tatsächliches Handeln ersetzt,
wird die Entwicklung des Bewußtseins behindert." (1986; S. 123)
Plitzko-Gries, Gaby, 2001. Die Effekte von Berufstätigkeit auf
die moralische Urteilskompetenz: Bildung versus Sozialisation. Berlin
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Eine Studie zum Einfluss der (Lern-)Umwelt auf die moralische
Urteilsfähigkeit bei Frauen mit und ohne berufliche Karriere in
Brasilien und Deutschland. Es wuden Kohlbergs Moral Judgment Interview
und Linds Moralischer Urteilstest eingesetzt.
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Press.
Schillinger, Marcia, 2006. Learning environments and moral development:
How university education fosters moral judgment competence in Brazil and
two German-speaking countries. Aachen: Shaker-Verlag. ... more
Eine breit angelegte Studie der moralischen Urteilsfähigkeit
(MUT) von Studienanfängern und oberen Semestern (Medizin, Psychologie
und Betriebswirtschaft) in Deutschland, Schweriz und Brasilien. Die
Studie zeigt, dass Veränderungen der moralischen Urteilsfähigkeit
deutlich mit der Lernumwelt der Studierenden zusammenhängt, die mit dem
ORIGIN/u erhoben wurde.
Scholz, Manfred, 1996. Experimentelle Überprüfung der Auswirkung
von Dilemma-Diskussionen auf die moralische Urteilsfähigkeit von
Gymnasiasten. Unveröff. Diplomarbeit, FG Psychologie, Universität
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Schorp, Maria, 2003. Duch Moralerziehung zur Demokratie. uni-info, 9/3.... more
Treichel, D., 2003. Moralische Entwicklung. Interview mit Prof.
Dr. Georg Lind, Universität Konstanz. DVD, ca. 2 Stdn; Bestellung:
tomcom GmbH, Heuridweg 14, 88131 Lindau. Ausleihe: Uni-Bibliothek
Konstanz; Signatur 6/ psy247/l46b.
Wakenhut, Roland, 1979. Effects of military service on political
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Walker, L.J., 1983. Sources of cognitive conflict for stage transition
in moral development. Developmental Psychology, 19, 103-110.
Eine wichtige experimentelle Studie über die Frage, was es genau
ist, das die Methode der Dilemmadiskussion so effektiv macht. Es zeigt
sich, dass die Konfrontation des Heranwachsenden mit Kontra-Argumenten
ebenso stimulierende auf die Entwicklung der moralischen
Urteilsfähigkeit ist wie die sogenannte "plus-1-Konvention", nach der
Schüler immer mit Argumenten genau eine Stufe über dessen Urteilsstufe
konfrontiert werden sollte. Damit wurde nachgewiesen, dass wir im
Unterricht nicht auf die schwierig umzusetzende (und selten benutzte)
plus-1-Konvention angewiesen sind.
Wasel, Wolfgang, 1994. Simulation moralischer Urteilsfähigkeit.
Moralentwicklung: eine kognitiv-strukturelle Veränderung oder ein
affektives Phänomen? (Simulation of moral judgment competence. Moral
development: a cognitive-structural or an affective phenomenon?]
Konstanz Unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachbereich Psychologie.
Wischka, Bernd, 1982. Moralisches Bewußtsein und Empathie bei
Strafgefangenen. (Moral consciousness and empathy of prisoners.)
Unpublished Master thesis, University of Marburg, Germany. Department of
Psychology.
Eine umfangreiche Studie der moralischen Urteilsfähigkeit von
jungen Strafgefangenen mit unterschiedlichen Straftate. Die Erhebung
erfolgte mit dem Moralisches Urteil-Test.
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