Das Wesen der Unmoral ist die Neigung des Menschen,
für die eigene Person Ausnahmen zu machen.
Jane Addams
Gibt es eine natürliche Moral? *)
Lassen sich mit Hilfe der Selektionstheorie auch ethische und moralische Prinzipien des Menschen erklären? Oder anders gefragt: Kommt unsere Moral aus der Natur?
Es gibt zwei Richtungen, die diese Frage unterschiedlich beantworten:
Klassische Ethologie
Die klassische Ethologie, deren Hauptvertreter Konrad Lorenz ist, gesteht Tieren ein moral-analoges Verhalten zu. Instinktives Verhalten (z.B. die Tötungshemmung) wird mit der verantwortlichen Moral des Menschen verglichen. Nach Lorenz weiß der Mensch auch nicht, ob "der Imperativ, der uns zu bestimmten Handlungen treibt, aus den tiefsten vormenschlichen Schichten unserer Person oder den Überlegungen unserer höchsten Ratio stammt." Diese Instinktmechanismen sind durch die Selektion - als stammesgeschichtliche Anpassung - entstanden. Aus diesen Überlegungen heraus wird gut und gesund mit angepaßt gleichgesetzt, und alles, das unangepasst (nicht der Fortpflanzung der Art dient) ist eine zufällige Mutation, die von der Selektion wieder herausselegiert wird. Es gibt also einen Idealtyp jeder Art, der zur Norm erhoben wird. Dieses Denken wird auch auf den Menschen übertragen. So sind für Lorenz Homosexuelle eine Abweichung der Norm und somit nicht gesund, da ihr Verhalten der Fortpflanzung nicht dienlich ist.
Da der Mensch aber insgesamt einen erschwerten Zugang zu seinen Instinkten hat, muß er dem moralischen Verfall durch künstliche Normen entgegenwirken. Diesen Verfall sieht Lorenz z.B. im Wegfall der Tötungshemmung beim Menschen. Innerartliche Aggression verläuft bei Tieren meist nach festen Regeln wie Unterwerfungsgeste, Beißhemmung - sie tragen ihre Aggressionen also nur symbolisch aus. Alle Artgenossen gehorchen diesen Gesetzen, d.h., es gibt so etwas wie eine innerartliche Egalität. Erst der Mensch hat dieses Prinzip durchbrochen.
Gerechtigkeitssinn - ein Erbe der Evolution?
Sarah Brosnan und Frans de Waal (Emory University) trainierten Kapuzineräffchen darauf, Gutscheine gegen Gurken einzutauschen. Mit einem solchen Tausch sind diese für gewöhnlich zufrieden. Beobachteten sie jedoch, dass ein anderes Tier für den Gutschein Trauben bekam, wurden sie ärgerlich: Entweder wollten sie für die Gurken keinen Gutschein hergeben oder sie nahmen zwar die Gurken und legten sie beiseite. Wenn sie jedoch beobachteten, dass ein anderes Tier etwas bekam, ohne überhaupt einen Bon vorlegen zu müssen, verdüsterte sich die Stimmung der Tiere vollends. Bekanntlich reagieren Menschen in vergleichbaren Situationen ähnlich, wie in psychologische Experimente nachgewiesen wurde, in denen Testpersonen unwirsch gegenüber Menschen reagierten, die andere Personen im Vergleich zu ihnen ungerechtfertigterweise bevorzugten. Oft nehmen unzufriedene Probanden dabei sogar in Kauf, dass sie durch ihren Protest oder ihre Verweigerungshaltung massive Nachteile erfahren. Aus diesen Experimenten kann man vermuten, dass der Sinn für Gerechtigkeit vor dem Erscheinen des ersten Menschen entwickelt gewesen sein dürfte.
Ann-Elisabeth Auhagen, Psychologin an der Freien Universität Berlin, berichtet von ihrer Untersuchung, in der Menschen gezielt altruistisches Verhalten zeigen sollten. Sie bildete zwei Gruppen von je 20 Erwachsenen, die innerhalb von zwei Wochen jeden Tag für sie sonst eher ungewöhnliche Dinge tun sollten. Die eine Gruppe sollte ihren Menschen vor allem Gütiges tun, die andere eher Humoriges. Die ProbandInnen ließen beispielsweise in einer Warteschlange andere vor oder sie riefen Freunde an, bei denen sie sich lange nicht gemeldet hatten, und hörten sich geduldig deren Sorgen an. Sie lobten die Kassierin im Supermarkt oder plauderten lange mit Obdachlosen auf der Straße. Diese im Alltag ungewohnte Zuwendung an die Mitmenschen brachte ein überraschendes Ergebnis: Die angesprochenen Leute freuten sich über die Aufmerksamkeit, und die Teilnehmer an der Studie fühlten sich an diesen Tagen besonders gut.
Bisher wurde in Gehirnstudien vorwiegend untersucht, wie Menschen etwa Angst oder Schmerz wahrnehmen, denn darauf reagiert das Gehirn blitzschnell. Nun konfrontierte man ProbandInnen mit Geschichten, die entweder Bewunderung für die Leistung oder Tugend eines Menschen auslösen sollten oder aber Mitgefühl. Das Auslösen dieser Emotionen dauerte sechs bis acht Sekunden und damit weit länger als jene Gefühle, die beim Hören von Geschichten über Angst oder Schmerz entstanden. Diese Stimmung hielt auch länger an und manche Teilnehmer kündigten nach der Studie an, künftig ein besseres Leben führen zu wollen. Fazit der Forscherin: Manche Arten von Gedanken, vor allem moralische Entscheidungen über die sozialen und psychischen Situationen anderer Menschen, benötigen offensichtlich angemessene Zeit und Überlegung. Diese Zeit ist bei normalen zwischenmenschlichen Kontakten gegeben, aber nicht bei Fernsehberichten oder Filmen mit schnell wechselnden Bildern. Wenn Dinge zu schnell ablaufen, kann man die Gefühle über den seelischen Zustand anderer Leute nicht voll erleben, und das hat Folgen für die Moral. In einer Medienkultur, in der Gewalt und Leid in Fiktion oder Infotainment zur endlosen Show werden, setzt allmählich eine Gleichgültigkeit in Bezug auf menschliches Leid ein.
Die Gene sind schuld …
Erklärungen des menschlichen Verhaltens auf Grund der genetischen Ausstattung sind nicht zuletzt durch die zahlreichen Forschungsanstrengungen in dieser Domäne häufiger geworden. Während genetische Attributionen für das Verhalten meist als relevant für die Beurteilung der Verantwortlichkeit der Betroffenen angesehen werden, ist noch unklar, ob nicht auch Urteile über die Verantwortlichkeit selbst Auswirkungen auf genetische Attributionen haben können. In mehreren Studien (Lebowitz et al., 2019) informierten sich die Probanden über Menschen, die sich prosozial oder unsozial verhalten, und bewerteten dabei das Ausmaß, in dem sie glaubten, dass die Genetik eine Rolle bei der Entstehung des konkreten Verhaltens spielt. Dabei wurde asoziales Verhalten konsequent als weniger genetisch beeinflusst eingestuft als prosoziales Verhalten, und zwar unabhängig davon, ob in den Informationen genetische Erklärungen explizit angegeben oder widerlegt worden waren. Benimmt sich also jemand anständig, halten das viele Menschen zu einem wesentlichen Teil als Ergebnis von guten Genen, die für gute Taten verantwortlich sind. Vermutlich resultiert diese Asymmetrie aus dem Wunsch der Mensche, Übeltäter für ihr Handeln verantwortlich zu machen. Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass diejenigen, die den Einfluss genetischer Erklärungen auf die Bewertung beispielsweise asozialen Verhaltens untersuchen oder nutzen wollen, überlegen sollten, ob solche Erklärungen überhaupt akzeptiert werden.
Die Evolution hat das menschliche Sozialverhalten geprägt, wobei Moralentwicklung stark vom Status des Bewusstseins abhängig ist, vor allem im Erkennen von Zusammenhängen, durch das gesteigerte Vorstellungsvermögen, höhere Empathie aber auch gesteigerte Raffinesse. Dabei geht man von fünf Grundverhaltenskomponenten aller Lebewesen aus: Replikationsstreben, Egozentrik, Stärkestreben, Eroberungsstreben und Sicherheitsstreben. Auf diese Antriebe ist das gesamte Lernverhalten einschließlich der Interpretation der Wahrnehmungen gerichtet, wobei dem Gehirn grundsätzlich die Rolle zur effizienteren Umsetzung genetisch verankerter Antriebe dient, einerseits als Verstärker und andererseits als Werkzeug. So sorgt etwa die dauerhafte Nachwuchsfürsorge der Hominiden und die Eltern-Kind-Bindung für protektive Verhaltensweisen und für die Bildung von Familienstrukturen. Schon in vorbewussten Generationen unterstützten sich Gruppenmitglieder gegenseitig bei der Nahrungsbeschaffung, der Verteidigung und auch im Replikationsverhalten.
Diese oft auch zueinander gegensätzlichen Grundantriebe erkennt man strukturell etwa in der Partnerwahl, im Bildungswesen, in der Marktwirtschaft und in allen politischen Strukturen, wobei sich das Sozialverhalten dabei ebenso konstruktiv wie destruktiv zeigen kann und daher oft einer Korrektur bedarf, die in der Evolution zunächst in der Entwicklung von Selbstexploration, emotionaler Perspektivübernahme und Empathie entstand. Als nächster Schritt folgte die rationale Fähigkeit, andere Lebewesen zu verstehen, wobei auf dieser Stufe Scham, Schuldbewusstsein und ein Zeithorizont möglich wurden.
Der aktuelle Mensch schließlich kann reflektieren, Verantwortung übernehmen, zwischen individuellem und kollektivem Wohl unterscheiden. Inwieweit der Mensch aber in der Lage ist, in einem weiteren Evolutionsschritt ein sozial konstruktives Verhalten über seinen engen, überschaubaren Kosmos auszuweiten, etwa unter einer globalen Perspektive sein Sicherheitsstreben durch umweltschonendes Wirtschaften zu realisieren und die ökologische Katastrophe zu verhindern, ist dabei zumindest fraglich.
Soziobiologie
Die Soziobiologie geht an die Fragestellung anders heran. Sie sagt, dass die Selektion eigentlich eigennütziges Verhalten fördern müßte, da sich eigennützig handelnde Individuen gegenüber altruistisch handelnden Individuen durchsetzen müßten. Wie kommt es also zu altruistischem Verhalten im Tierreich:
Die natürliche Selektion bewirkt die Optimierung der Fähigkeiten von Organismen zur erfolgreichen Konkurrenz um begrenzte Ressourcen. Die Individuen gelten als "persönlich fit", die am meisten Nachkommen großziehen.
Das heißt aber nichts anderes, als dass die Individuen möglichst viele ihrer Gene weitergeben wollen. Die Soziobiologie geht also weg vom Individuum und fragt, was für ein Verhalten denn für die Gene am sinnvollsten wäre. Und da zeigt sich, dass - rein vom Genbestand her - es sinnvoll ist, verwandte Individuen zu unterstützen, da diese zumindest teilweise das gleiche Genmaterial besitzen. So kann man beobachten, dass manche Tiere auf eigenen Nachwuchs verzichten, um den Nachwuchs der Geschwister mit großzuziehen. Dieses Verhalten ist aber nur phänotypisch altruistisch, auf genetischer Ebene kann es sehr eigennützig sein, da auf diese Weise das Weiterbestehen der eigenen Gene am besten gesichert werden kann. Dieses Verhalten nennt man kin selection.
Die Soziobiologen kommen also nicht wie Lorenz zu dem Schlus, dass Selektion arterhaltendes Verhalten fördert, sondern dass es auf die Gesamtfitness einer Gruppe ankommt. Das Verhalten ist adaptiv, dass meine Gene und die meiner Verwandten schützt und weitergibt.
Aber auch nicht verwandte Individuen können sich gegenseitig helfen, allerdings nur unter ganz bestimmten Bedingungen, die Robert Trivers zusammengefasst hat: Die Lebensdauer der Individuen muß so groß sein, dass das "altruistische" Individuum erwarten kann, von dem momentanen Nutznießer die gleiche Hilfe zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch nehmen zu können; die beiden Individuen müssen in einer sozialen Gruppe zusammenleben und eine gewisse Vertrautheit haben. Dann kann "reziproker Altruismus", wie diese Form des Altruismus genannt wird, entstehen.
Die Entstehung der Tötungshemmung erklären die Soziobiologen folgendermaßen: Bei den Hirschen gibt es in der Mehrzahlt Kommentkämpfer (d.b. sie drohen nur, sie greifen den Gegner nicht wirklich an). Es gibt aber auch eine Anzahl Beschädigungskämpfer, die sich nicht an die "Regeln" halten und ihren Rivalen ernsthaft verletzen oder sogar töten. Diese haben zunächst einmal einen Vorteil gegenüber den Kommentkämpfern. Da sie aber immer mit vollem Einsatz kämpfen, werden sie auch oft verwundet und müssen viel Kraft aufwenden. Je mehr Beschädigungskämpfer es gibt, desto anstrendender werden die Kämpfe. Und dann hat plötzlich wieder ein Kommentkämpfer den Vorteil, der sich lieber in die Büsche schlägt, bevor es ernst wird, der aber dann frisch und ausgeruht ist und seine Kräfte der Fortpflanzung und Sicherung seiner Herde widmen kann. Es handelt sich hier also um eine häufigkeitsabhängige Selektion. Solange es mehr Kommentkämpfer gibt, haben Beschädigungskämpfer einen leichten Vorteil, dreht sich das Verhältnis um, ist es genau umgekehrt. Deswegen pendelt sich die Anzahl in der Population auf einen bestimmten Wert ein, der über die Zeit stabil ist. Für die Soziobiologie haben diese instinktiven Verhaltensweisen aber nichts mit Moral zu tun, sie sagen, die Natur ist moralisch indifferent.
Moralische Entrüstung besteht in den meisten Fällen zu 2 Prozent aus Moral, 48 Prozent aus Hemmung und 50 Prozent Neid.
Unbekannt
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Menschen?
Auch der Mensch kennt so etwas wie eine doppelte Moral. Was für mich gilt, muß noch lange nicht für Menschen gelten, die nicht meiner Gruppe angehören. So unterscheidet sich z.B. das Völkerrecht vom allgemeinen Recht. Man kann auch eher Hilfsbereitschaft beobachten, wenn es um enge Familie oder Freunde geht. Je fremder mir ein Mensch ist, desto weniger Hilfe kann er von mir erwarten. Das bedeutet aber, dass allgemeinverbindliche Menschenrechte naturfern sind und somit durch menschliche Verantwortlichkeit eingehalten werden müssen, um die biologischen Prinzipien zu überwinden. Um die Herkunft von moralischen Verhaltensweisen zu bestimmen müssen wir uns erstmal klar machen, wodurch sie sich eigentlich auszeichen.
Moralisches Handeln setzt absichtliches Agieren, eine freie Entscheidungsmöglichkeit zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, die Möglichkeit der Abschätzung der eigenen Folgen und die Wahrnehmung einer personalen Identität (in bezug auf sich selbst und auf andere) voraus. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann man von moralischem Handeln ausgehen. Das soziale Umfeld des Menschen setzt allgemeingültige Verhaltensregeln, die bei Verstoß mit Sanktionen belegt werden. Zum Teil internalisiert das Individuum auch Normen, bei deren Nichtbeachtung es Schuldgefühle bekommt.
Moral bedarf also keiner evolutionsbiologischen Erklärung, sie ist vielmehr eine Notwendigkeit für den Menschen, um den biologischen Grenzen zu entkommen und so überleben zu können.
Humanethologie und Psychologie
Kindergesichter (Kindchenschema) sprechen nach neueren Forschungen das Belohnungszentrum im weiblichen Gehirn an und lösen Glücksgefühle aus. Offensichtlich sind das die biologischen Grundlagen menschlichen Fürsorgeverhaltensund eine Erklärung für den Impuls, sich um alles zu kümmern, was einem Neugeborenen ähnelt. Abhängig von der Stärke des Kindchenschemas fand man eine erhöhte Aktivität im Belohnungszentrum (Nucleus accumbens) und Areale, die bei Gesichterverarbeitung und Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. Die Forscher vermuten, dass bei Männern ähnliche Prozesse im Gehirn ablaufen. Die Aktivierung des Belohnungssystems könnte als jener neurophysiologische Mechanismus sein, über den das Kindchenschema Fürsorgeverhalten motiviert, und zwar unabhängig vom Verwandtschaftsgrad zwischen Kind und Betrachter.
Der Instinktbegriff ist in der Biologie sehr eng gefasst. Er beinhaltet nur Verhaltensabläufe, die starr sind, immer gleich verlaufen und die genetisch festgelegt sind. Sobald man aber den Instinktbegriff auf den Menschen anwenden will, muss man ihn weiter fassen, sonst trifft er überhaupt nicht zu. Um den Begriff neu zu definieren, muss man ihn erst einmal aufspalten. Der Instinkt beinhaltet nämlich ein relativ variables Appetenzverhalten und eine starr ablaufende Endhandlung. Das Appetenzverhalten findet man bei Trieben wieder, die man auch beim Menschen postulieren kann. Die starre Endhandlung fällt jedoch beim Trieb weg.
In der Ethologie werden phylogenetische (Erbkoordination; AAM usw.) und ontogenetische (Lernen) Anpassung unterschieden. In der Humanethologie muss noch eine dritte Anpassung dazugenommen werde: die kulturelle Anpassung. Der Mensch gibt seine Traditionen von Generation zu Generation weiter, so dass der einstige Instinkt durch Intuition ersetzt wird. Die genetische Auslese wurde durch eine kulturelle ersetzt, bei der sich besser angepasste Kulturen durchsetzen und sich verbreiten können. Die Sprache beschleunigte diese Entwicklung. Da die kulturelle Anpassung differenzierter und rascher als die phylogenetische Anpassung ist, werden immer noch vorhandene Triebe gelockert und bekommen einen größeren soziokulturellen Spielraum.
Das wirft dann aber wieder die Frage auf, welches Verhalten angeboren und welches erlernt ist. Die Ethologen sagen, dass unser gesamtes zwischenmenschliches Verhalten auf angeborenen Instinkten beruht. So postuliert Eibel Eibelsfeld z.B. einen "Mutterinstinkt", der das Verhalten der Mutter determiniert, sie reagiert quasi nur auf dargebotene Auslöser (wie z.B. das "Kindchenschema"). Die Empirie zeigt jedoch, dass das gerade nicht der Fall ist. Viele Mütter wissen überhaupt nicht, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen. Das jeweilige soziale Umfeld gibt ihnen die Regeln, wie sie ihr Kind behandeln sollen. In der westlichen Zivilisation sind diese Regeln so schwammig und vielfältig geworden, dass oft nur noch Ratlosigkeit herrscht. Die soziale Determination bestimmt also das menschliche Miteinander und nicht ein genetisch determinierter Instinkt.
Dies zeigt sich auch an den Kindstötungen, die nach dem biologischen Modell nicht erklärt werden können. Da diese aber vorkommen und von Kultur zu Kultur in einer anderen Form (in China werden z.B. Mädchen getötet, da Jungen als wertvoller betrachtet werden), kann das biologische Modell nicht sinnvoll sein.
Mutterinstinkt hormonell bedingt?
Oxytocin ist an der Regulierung des sozialen Verhaltens einschließlich des elterlichen Verhaltens bei einer Vielzahl von Lebewesen beteiligt, indem Oxytocin soziale Verhaltensweisen auslöst, indem es an Oxytocin-Rezeptoren in verschiedenen Arealen des Gehirns andockt. Bisher gab es jedoch keine eindeutigen Belege für die Annahme, dass sich das Oxytocin-System im Gehirn von Frauen und Männern unterscheidet. Sharma et al. (2019) identifizierten bei Mäusen nun eine Region im Hypothalamus, die sich bei Männchen und Weibchen deutlich voneinander unterscheidet, denn nur weibliche Tiere verfügen dort über Gehirnzellen, die für den Botenstoff Oxytocin sensibel sind. Während Mäuseweibchen über zahlreiche Neuronen mit Oxytocin-Rezeptoren in diesem Areal verfügten, kamen solche Zellen bei den Männchen dort so gut wie gar nicht vor. Diese Zellen besaßen zusätzlich Rezeptoren für das weibliche Geschlechtshormon Östrogen, wobei sich in Abwesenheit des weiblichen Sexualhormons die Neuronen keine Oxytocin-Rezeptoren mehr bildeten. Die Ergebnisse belegen demnach, dass die Expression von Oxytocin-Rezeptoren spezifisch weiblich ist und von Östrogen abhängt. Diese auf Oxytocin reagierenden Neuronen in dieser Region des Hypothalamus spielen also eine wichtige Rolle für die weibliche Physiologie und das weibliche Verhalten, allen voran für den Mutterinstinkt. Man vermutet, dass dieser Zusammenhang nicht nur für Mäuse gilt, sondern für alle Säugetiere, die mütterliche Fürsorge zeigen, einschließlich des Menschen.
Im folgenden gehe ich auf einige Methodenprobleme ein, die durch die Übertragung von Begriffen aus der Ethologie in die Humanpsychologie passieren können. Da kommt es z.B. zur Verwässerung von präzisen Begriffen, wie z.B. dem des Auslösers. Auf einen Auslöser läuft ein Verhalten starr und in immer gleicher Form ab (z.B. beim Stichling, der beim Anblick eines roten Flecks -des Auslösers- mit Angriff reagiert). Eibl-Eibefeldt sprach von sexuellen Auslösern in der Werbung, wo er von sexuellen Reizen hätte sprechen müssen, da der Mensch ja sehr flexibel und mitnichten starr auf Werbung reagieren kann.
Ebenfalls Eibl-Eibelsfeldt meinte, dass das oftmals starre Festhalten an politischen Idealen der Jugend auf ein Prägung in der Jugend zurückgeht. Eine Prägung ist aber ein genau umschriebener Vorgang, der eine sensible Phase hat und in einem gewissen Alter abläuft. Ob es also sinnvoll ist, im Falle von politischen Meinungen von Prägung zu reden, muss in Frage gestellt werden. Ein weiteres Problem ist die Vermischung von Homologie und Analogie.
- Homologie ist dann gegeben, wenn sich strukturelle Züge von Organismen ähneln, die gleichzeitig auf eine gemeinsame Abstammung zurückgehen.
- Eine Analogie besteht dann, wenn ebenfalls
strukturelle Ähnlichkeiten bestehen, die aber nicht
auf gemeinsame Abstammung, sondern auf die Anpassung an
eine gleiche Umwelt zurückgehen.
Die Flossen eines Delphins und eines Wales sind strukturell ähnlich. Da Delphin und Wal von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, handelt es sich hierbei um eine Homologie. Die Flosse eines Fisches dagegen ist zu einer Walflosse nur analog, da die strukturelle Ähnlichkeit nicht auf Verwandtschaft, sondern auf die Anpassung an die gleiche Umwelt zurückgeht.
Ethologen postulieren gerne bei dem Vergleich von tierischem und menschlichen Verhalten Homologien, obwohl es sich in Wirklichkeit um Analogien handelt oder ziehen unzulässige Analogien. Dies soll an zwei Beispielen gezeigt werden:
Lorenz hat das "Sich-Verlieben" von Menschen analog zu instinktivem Verhalten von Tieren gesetzt, da das "Sich-Verlieben" nicht dem Verstand zugänglich ist und immer wieder die gleichen Fehler dabei gemacht werden. Allerdings übersah er dabei, dass es beim "Sich-Verlieben" in hohem Maße auf personenspezifische "Auslöser" ankommt, während ein Instinktverhalten durch arteigene Auslöser in Gang gesetzt wird. Die postulierte strukturelle Ähnlichkeit liegt hier also nicht vor.Das zweite Beispiel kommt auch von Lorenz. Dieser verglich die menschliche Aggression mit der von Buntbarschen. Diese müssen in einem bestimmten Zeitraum aggressiv handeln. Haben sie dazu keine Gelegenheit (weil z.B. kein gegnerisches Männchen vorhanden ist) richten sie ihre Aggression gegen das Weibchen oder die eigenen Kinder. Die menschliche Aggression soll nach dem gleichen Muster funktionieren, also immer wieder ansteigen, um dann irgendwie nach außen abgelassen zu werden. Diese Erklärung setzt menschliche Aggression und die von Buntbarschen homolog. Lorenz belegte diese These an einem Fallbeispiel und generalisierte dann auf alle Menschen.
Diese Verwässerung von Begriffen und Konzepten ist weder der Ethologie noch der Humanpsychologie dienlich. Die Humanethologie sollte sich auf die Erforschung von echten Homologien spezialisieren, wie z.B. das Ausdrucksverhalten von Primaten. Die Analogieforschung bringt nichts, da nur ein zufälliger und kein systematischer Bezug vorhanden ist.
Welches Verhalten angeboren ist, kann nur eine absolut erfahrungslose Aufzucht zeigen, da sonst immer wieder das Lernen die angeborenen Verhaltensweisen überformt. Es ist aber auch gar nicht so entscheidend, ob es rein angeborenes Verhalten überhaupt gibt, wichtig ist vor allem, die Wechselwirkungen zwischen Außen- und Innenfaktoren zu erkennen. Durch einsichtiges Handeln ist der Mensch in der Lage sein Verhalten sinnvoll zu steuern, das Angeborene wird von dem Kulturellen immer weiter überformt und sogar aufgehoben. Der Selektionsdruck ruht nun auf der Optimierung der Fähigkeiten, auf unsere Umwelt effektiv zu reagieren und rational einzuwirken. Wir gestalten unser Zusammenleben durch einsichtig gesetzte Regeln und nicht mehr durch Instinkte, wie z.B. die Tötungshemmung. Von diesen Instinktmechanismen ist nicht mehr als eine "unspezifische Aktivierung" geblieben, die wir durch Einsicht steuern können. Diese Aktivierung kann auf viele verschieden Objekte übertragen werden (etwa so, wie Freud das für seine Triebenergie postuliert). Das heißt, dass der Mensch zwar eine konstitutionelle Aggressionsbereitschaft hat, diese aber nicht - wie das Lorenz postuliert - notwendig zu Tage treten muss, sondern durch kulturelle Einflüsse entweder aus oder eingeschaltet werden kann. Das wird unter anderem durch die Existenz von sehr aggressiven (Massai), aber auch sehr friedlichen (Eskimos) Kulturen belegt.
Beobachtung erhöht die Selbstlosigkeit
Menschen reagieren sehr sensibel auf jede Form von Beobachtung, wobei selbst ein stilisiertes Augenpaar zu moralischem Verhalten motivieren kann. Melissa Bateson und ihre Kollegen Daniel Nettle und Gilbert Roberts (Universität Newcastle haben experimentell bewiesen, dass Beobachtung durch andere ein wichtiger Anreiz für kooperatives Handeln darstellt - selbst wenn es sich nur um Bilder von Augen handelt. Sie überprüften heimlich über Monate hinweg, wie viel Geld ihre Universitätskollegen in eine gemeinsame Kaffeekasse einzahlten. Auf Augenhöhe über der Kasse klebte sie Plakate, auf denen abwechselnd Blumen, Tiere oder ein Augenpaar abgebildet waren. In den Wochen mit den Augen-Bildern zahlten die Mitarbeiter im Durchschnitt 2,76 mal mehr für ihre Getränke. In einem anderen Versuch hatten die Teilnehmer die Wahl, eine anvertraute Geldsumme mit ihren Mitspielern zu teilen oder sie für sich zu behalten. Blieb ihre Entscheidung anonym, teilten sie fast nichts, wussten sie sich jedoch von ihren Mitspielern beobachtet, teilten sie bis zu 50 Prozent der Gesamtsumme.
Bisher war es ein Rätsel, warum sich der Mensch gegenüber Fremden oft hilfsbereit verhält, denn er gewinnt dadurch keinen unmittelbaren Überlebensvorteil. Sozialwissenschaftler gehen aber davon aus, dass sich Menschen als Mitglieder einer imaginären Tauschgemeinschaft empfinden, die darauf angewiesen ist, dass jeder sein Scherflein zum Allgemeinwohl beträgt.
Damit
diese Gemeinschaft funktionieren kann, wird egoistisches Verhalten
geahndet, während selbstlose Handlungen belohnt werden. Der Mensch hat
vermutlich deshalb im Laufe seiner Evolution gelernt, dass es wichtig ist, den
Eindruck von Uneigennützigkeit zu vermitteln. Der
Mensch hat offensichtlich ein ausgeklügeltes Täuschungssystem entwickelt,
um den Schein der Moral aufrechtzuerhalten.
Der Verfall der Sitten
Dass die Menschen immer schlechtere Umgangsformen aufweisen, ist eine
verbreitete Klage – die schon immer und überall geäußert wurde, wobei
vor allem anekdotische Berichte darauf hindeuten, dass die Mehrzahl der
Menschen glaubt, dass die Moral immer mehr abnimmt. Die Wahrnehmung des
moralischen Niedergangs wird dabei von Menschen verschiedener
politischer Ideologien, Rassen, Geschlechter, Altersgruppen und
Bildungsniveaus geteilt. In einer Reihe von Studien, bei denen sowohl
Archiv- als auch Originaldaten verwenden wurden, konnten Mastroianni
& Gilbert (2023) zeigen, dass die Menschen in mindestens sechzig
Ländern der Welt glauben, dass die Moral abnimmt, wobei sie dies seit
mindestens siebzig Jahren vermuten, und diesen Rückgang sowohl auf die
abnehmende Moral des Einzelnen im Alter als auch auf die abnehmende
Moral der nachfolgenden Generationen zurückführen. Man analysierte dabei
Umfragen, in denen Menschen gebeten wurden, über den aktuellen Stand
ihrer eigenen Moral und den ihrer Zeitgenossen zu berichten, wobei
Umfragen verwendet wurden, die mindestens zweimal mit einem
Mindestabstand von zehn Jahren durchgeführt worden waren, damit die
Antworten im Zeitverlauf verglichen werden konnten. Dazu gehörten Fragen
wie etwa "Wie würden Sie den allgemeinen Zustand der moralischen Werte
in diesem Land heute bewerten?
Wenn die Moral im Laufe der Zeit tatsächlich gesunken wäre, könnte man
erwarten, dass die Teilnehmer ihre Altersgenossen negativer beurteilen
als diejenigen, die die gleiche Umfrage früher durchgeführt hatten. Die
Daten zeigten jedoch, dass sich die Einschätzung der Moral ihrer
Altersgenossen im Laufe der Zeit nicht verändert hat, was wohl bedeutet,
dass die Wahrnehmung des moralischen Verfalls falsch ist bzw. dass es
zumindest sehr schwierig ist, Beweise für diesen moralischen Verfall zu
finden. Kurz: die Wahrnehmung des moralischen Niedergangs eine ist
Illusion. Es handelt sich dabei wohl um einen Mechanismus, der auf zwei
bekannten psychologischen Phänomenen beruht (verzerrte
Informationsaufnahme und verzerrte Informationserinnerung), die eine
solche Illusion des moralischen Verfalls hervorrufen kann. Insgesamt
zeigten die Studien also, dass die Wahrnehmung des moralischen Verfalls
zwar weit verbreitet, sehr dauerhaft, aber unbegründet und wohl leicht
zu erzeugen ist, wobei dieser Irrtum auch Auswirkungen auf die Forschung
über die Fehlallokation knapper Ressourcen, die unzureichende Nutzung
sozialer Unterstützung und den sozialen Einfluss hat.
Wann ist Gewalt moralisch gerechtfertigt?
Es gibt daher auch Situationen, in denen Menschen die Anwendung von Gewalt als moralisch für gerechfertigt halten. Menschen werden bekanntlich durch gemeinsame soziale Werte motiviert, die, wenn sie mit entsprechender moralischer Überzeugung vertreten werden, als zwingender Auftrag dienen können, ideologisch motivierte Gewalt auszuüben. Obwohl also die meisten Menschen jede Form von Gewalt ablehnen, gibt es dennoch Situationen, in denen diese befürwortet wird. Innerhalb einer Gruppe kann z. B. die gemeinsame Ablehnung anderer für einen starken Zusammenhalt sorgen, denn gemeinsame Feindschaft verbindet. Workman et al. (2020) haben nun in einer Studie diese dunkle Seite der Moral untersucht, indem sie spezifische kognitive und neuronale Mechanismen identifizieren konnten, die mit Überzeugungen über die Angemessenheit von gesellschaftspolitischer Gewalt verbunden sind, und haben festgestellt, inwieweit das Engagement dieser Mechanismen durch moralische Überzeugungen vorhersagbar ist. Man zeigte dazu Probanden Bilder, die politische Gewalt in Form von körperlichen Angriffen darstellen und maßen dabei ihre Gehirnaktivität. War auf den Bilder zu sehen, dass sich die Gewalt gegen eine Person gerichtet hat, deren politischer Haltung sie ablehnten, wurde das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Aufgrund ihrer moralische Überzeugung konnten sie daher den Einsatz von Gewalt in diesen Fällen demnach gut nachvollziehen. Das bedeutet, ob Menschen Gewalt gut finden, hängt von ihrem eigenen Standpunkt ab und von der Frage, gegen wen sich die Gewalt richtet. Offenbar erhöhen geteilte moralische Überzeugungen zu gesellschaftspolitischen Themen ihren subjektiven Wert und überlagern die natürliche Abneigung gegen Gewalt. Allerdings lässt sich durch diese Studienergebnisse nicht darauf schließen, dass die Probanden selbst gewalttätig werden würden, sondern ihre Reaktion weist eher auf die duldende Rolle eines Beobachters von Gewalt hin.
Wie entsteht Gerechtigkeit im Gehirn?
Studien haben gezeigt, dass sich Menschen etwa im Bezug auf die passende Strafe für ein Vergehen oder Verbrechen vor allem von ihren Gefühlen leiten lassen, also davon, wie schlimm ihnen der durch die Tat entstandene Schaden vorkommt. Einen großen Einfluss bei der Bemessung einer Strafe hat allerdings die Absicht des Täters, denn schadet jemand einer Person unbeabsichtigt oder war das Ganze nur ein tragischer Unfall, dann neigen Menschen dazu, auch die schlimmsten Taten zu verzeihen. Treadway et al. (2014) konfrontierten ihre Probanden im Magnetresonanztomographen mit verschiedenen Kurzgeschichten, in denen ein Protagonist namens John einem anderen schadete, wobei es unterschiedlich schlimm zuging: In einigen Szenarien war von Sachbeschädigung oder Körperverletzung die Rede, in anderen waren dagegen Tod oder Verstümmelung die Folge. In manchen Geschichten handelte John mit Absicht, d. h., er stieß seinen Freund beim Bergsteigen bewusst den Hang hinunter, in anderen trug er nur aus Versehen zum Unglück bei. Eine Gruppe der Versuchsteilnehmer bekam nüchterne und sachliche Beschreibungen der Taten ausgehändigt, die andere Gruppe las hingegen eher bildhafte und emotionale Texte. Danch mussten die Probanden bewerten, wie hart John für sein Handeln bestraft werden sollte. Versuchspersonen, die die emotionaleren Geschichten gelesen hatten, plädierten insgesamt für härtere Strafen, wobei bei diesen Teilnehmern die Amygdala besonders aktiv war, also das Gehirnareal, das Informationen emotional einfärbt. Außerdem sendete die Amygdala auch mehr Signale an den dorsolateralen präfrontalen Cortex, der bei Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle spielt, wodurch die Urteile der Probanden durch die gefühlsbetonteren Beschreibungen offensichtlich verzerrt wurden. Diese Effekte zeigten sich jedoch nur dann, wenn John in der Geschichte mit voller Absicht gehandelt hatte, denn war das Unglück ein Versehen, fiel das Strafmaß bei beiden Gruppen gleich mild aus. Im Gehirn wurde vor allem der dorsale anteriore cinguläre Cortex aktiv, der die Signale der Amygdala reguliert, sodass diese keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen konnte und die Urteile moderat ausfielen. Offensichtlich blockt der anteriore cinguläre Cortex emotionale Signale ab, wenn dem Täter bei einer Straftat der Vorsatz fehlt und damit dafür sorgt, dass man Menschen auch bei schweren Vergehen keine zu harten Strafe auferlegt.
Moral und Recht
Es ist wissenschaftlich schon seit langem widerlegt, das juristisches
Recht aus den jeweiligen Religionen abzuleiten ist, denn archaische
Gesellschaften kennen auch zahlreiche nichtreligiöse Verbote und
unterscheiden auch zwischen starren religiösen und anpassungsfähigen
rechtlichen Normen. Man ging bisher auch eher davon aus, dass Gesetze in
einer Art kultureller Evolution aus einem konkreten sozialen Umfeld
ausgehen. Sznycer & Patrick (2020) sind aber nun der Ansicht, dass
die Ursprünge des Strafrechts zu einem wesentlichen Teil in der
universellen menschlichen Natur begründet sein könnten. Viele juristisch
formulierte Gesetze könnten demnach auf neurokognitive Mechanismen und
den Selektionsdruck der menschlichen Vorfahren zurückgeführt werden,
denn dadurch hätten sich beim Homo sapiens bestimmte Gehirnstrukturen
entwickelt, die die Intuitionen über Recht und Unrecht festlegen. Die
beiden Autoren zeigten in einer Studie in den USA und in Indien, dass
die rechtlichen und moralischen Intuitionen von heutigen Menschen im
Wesentlichen mit den ältesten Gesetzen aus Mesopotamien und China
übereinstimmen. Wenn in Babylon ein Mann einem anderen ein Auge ausbiss,
wurde diese Missetat geahndet, wie aus dem Codex E¹nunna, einem der
ältesten Gesetzestexte, vor dreitausend Jahren hervorgeht. Darin wird
etwa auch der Fall behandelt und bestraft, wenn jemand eine Sklavin aus
fremdem Besitz vergewaltigt hat. Im China sieht der Tang-Kodex (653 v.
Chr.) Strafen dafür vor, wenn jemand seinen älteren Bruder schlägt, die
nächtliche Ausgangssperre missachtet oder seine Sklaven tötet, obwohl
diese nichts verbrochen haben. Sznycer & Patrick (2020) ließen dazu
Laien aus den USA und Indien Straftatbestände aus diesen uralten
Gesetzen danach einschätzen, wie hoch Haft- oder Geldstrafen sein
sollten bzw. wie moralisch falsch eine Handlung jeweils ist. Dabei waren
die ProbandInnen sich in ihren juristischen und moralischen Bewertungen
ziemlich einig, wobei die Reihung der Schwere der im Versuch
vorgelegten Vergehen durchgängig positiv mit den tatsächlichen
Strafausmaßen in den alten Gesetzbüchern korrelierte. Es zeigte sich
auch, dass in den Urteilen die Absicht schwerer wog als die
Fahrlässigkeit, oder dass ein geplanter Mord schwerer als Totschlag im
Affekt geahndet wurde.
Entwicklungspsychologische Aspekte
Kein Kind beginnt seine moralische Entwicklung
bei Null, denn jedes hat eine Reihe von angeborenen Reaktionen als
Voraussetzung für ethisches Verhalten. Dazu gehört etwa Empathie, also
die Fähigkeit, sich in die Freude oder den Schmerz eines anderen
Menschen einzufühlen. Neugeborene weinen daher auch, wenn sie jemanden
weinen hören, und sie freuen sich sichtlich, wenn sie fröhliche Laute
und Lachen hören. Bereits im zweiten Lebensjahr trösten Kinder spontan
traurige Spielkameraden oder die eigenen Eltern. Die emotionale
Bereitschaft zum Trösten ist also offenbar angeboren, aber jedes Kind
muss erst durch soziale Erfahrungen lernen, wie ein angemessener Trost
aussieht. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Menschen sogar moralische
Entscheidungen treffen können, ohne sich dessen bewusst zu sein, was
dafür spricht, dass die Moral tief im Gehirn verwurzelt ist. Der Schlüssel zu moralischem Verhalten liegt im Gehirn im präfrontalen
Cortex, der offenbar für das Gewissen zuständig ist und die menschliche
moralische Instanz darstellt. Der präfrontale Cortex ist somit eine Art
Gegenstück zum limbischen System, das Gefühle wie Wut, Angst, Verlangen,
Flucht oder Verteidigung verwaltet, wobei diese Empfindungen zu
aggressivem Verhalten führen können, d. h., dieses Areal kontrolliert,
bewertet und zügelt diese Gefühle. Gelingt dies nicht, neigt ein Mensch
dazu, sich ungehemmt und aggressiv zu verhalten. Untersuchungen haben
gezeigt, dass Gewalttäter ihre präfrontalen Hemmungsmechanismen bei
Bedarf einfach abschalten können, wobei die Neigung zur Aggression durch
Erziehung, kulturelle und soziale Bedingungen verringert werde kannn.
Der Sinn
für das Richtige oder Falsche wächst jedoch nicht von selbst, sondern
muss jedoch gefördert und durch Erziehung in die richtigen Bahnen
gelenkt werden. Übrigens besitzen sogar Primaten, die dem Menschen sehr
ähnlich sind, einen Sinn für Gerchtigkeit und Empathie, die zentrale
Aspekte der menschlichen Moral drstellen. Der Unterschied ist aber, dass
ein Affe nicht in Kategorien von Gut und Böse denkt. Auch unterscheiden
den Menschen von Tieren die Entscheidungsfreiheit, denn man kann einen
Menschen töten, aber man entscheidet sich aus vielen Gründen dagegen.
Nur sehr wenige Menschens entscheiden sich bewusst dafür, einen Menschen
zu verletzen. Wichtig ist daher, dass das, was Menschen als richtig
oder falsch empfinden, nicht allein von den Genen bestimmt wird, sondern
maßgeblich auch von den Regeln der Gemeinschaft.
Schon Kleinkinder erwarten das Eingreifen von Führungspersonen bei Ungerechtigkeit
Man vermutet, dass sich die Erwartungen an führungsbezogene Machtasymmetrien im Laufe der Menschheitsgeschichte allmählich entwickelt haben, wobei einige dieser Erwartungen die Verantwortung der Führungskräfte gegenüber ihren Anhängern betreffen. Insbesondere wird von den Führungskräften erwartet, dass sie bei gruppeninterne Übertretungen eingreifen und gegen die Übeltäter vorgehen. Stavans & Baillargeon (2019) haben in mehreren Experimenten untersucht, ob schon 17 Monate alte Kleinkinder solche Erwartungen an Führungskräfte teilen. Die Kinder saßen etwa auf dem Schoß eines Elternteils und bekamen ein Puppenschauspiel zu sehen, in dem drei Bären in verschiedenfarbigen Overalls agierten, wobei der rote Bär Anweisungen gab, die die beiden anderen diese zu befolgen hatten. Um für die Kinder als „Leader-Bär“ zu gelten, reichte es übrigens auch schon aus, deutlich größer zu sein als die beiden anderen Bären. Als eine Fairnessüberschreitung auftrat, erwarteten die Kinder, dass der Anführer eingreifen und diese Überschreitung korrigieren würde. Offenbar sind solche abstrakten Erwartungen an die Verantwortung von Führungskräften bereits im zweiten Lebensjahr vorhanden. Kinder schreiben offenbar den Anführern sozialer Gruppen schon sehr früh bestimmte Eigenschaften zu, etwa auch ungerechtes Verhalten zu bekämpfen. Diese Ergebnisse unterstützen also die These, dass eine abstrakte Erwartung von Autorität ein grundlegender Teil der menschlichen Moral ist, wobei diese offenbar mit der Evolution des Menschen entstanden ist. Um zu überleben und Herausforderungen zu meistern, die Einzelne übersteigen, mussten die Vorfahren in Gruppen gemeinsame Handlungen zu koordinieren, wobei sich eine Anführerschaft entwickelt hat, die auch für das Einhalten von Gruppenregeln zuständig ist. Die Anlage dazu gibt es offenbar bis heute, wobei diese universal und nicht kulturabhängig ist.
Siehe auch: Kann man Moral denn mit Magnetresonanz messen?
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