Das Modell der moralischen Entwicklung nach Lawrence Kohlberg
Aufbauend auf Piagets dreistufigem Modell der moralischen Entwicklung entwarf Lawrence Kohlberg ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens. Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu. Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, dass es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt und dass auf den einzelnen Altersstufen Urteile im Sinne verschiedener Stadien abgegeben werden, je nach Situation und Problemstellung. Es wird daher im folgenden darauf verzichtet, bei den einzelnen Stadien Altersangaben anzugeben.
Grundlagen
Ebenso wie beim logischen Denken, kann moralische Entwicklung nur durch ein aktives Lernen, Erleben und Aneignen der persönlichen Umwelt geschehen. Je differenzierter die Erfahrungen und Eindrücke während dieses Aneignungsprozesses sind, desto durchdachter können moralische Schlußfolgerungen und Urteile sein (Oser & Althof 1994, S. 37).
In seiner Theorie wendet Kohlberg Piagets Grundgedanken der geistigen Entwicklung auf den Bereich der Moral an. So führt er diese folgendermaßen fort: "Da moralisches Denken natürlich auch Denken ist, hängt fortgeschrittenes moralisches Denken von fortgeschrittenem logischen Denken ab" (Colby & Kohlberg 1986, S. 142). Dies bedeutet auch, dass die eigentliche Moralentwicklung erst mit dem Ende der von Piaget postulierten Phase des voroperationalen Denkens beginnt. Bestimmte Schritte in der Denkentwicklung müssen bereits vollzogen sein, damit die moralische Entwicklung beginnen kann. Hierbei betont Kohlberg, dass fortgeschrittenes logisches Denken zwar notwendig erscheint, jedoch nicht zugleich als Garantie für ein höheres moralischen Stadium gelten kann (ebd.). Im Gegensatz zu Piaget hat Kohlberg seinen Stufen keine spezielle Altersangaben zugeschrieben, nicht zuletzt aus zuvor genanntem Grund.
Die gleiche Beziehung wie zwischen kognitiver Entwicklung und Moralentwicklung - notwendige aber nicht hinreichende Bedingung -, besteht auch zwischen einzelnen Stadien der Perspektivübernahme und den moralischen Entwicklungsstufen. Ohne die Fähigkeit der Rollenübernahme, die Fähigkeit sich in andere Menschen, deren Intentionen, hineinzuversetzen, können keine moralischen Urteile auf höheren Ebenen gefällt werden (Colby & Kohlberg 1986, S. 155). Daraus folgt: Je differenzierter die Fähigkeit der Perspektivübernahme ausgeprägt ist, desto durchdachter können moralische Urteile und Handlungen ausfallen.
Lind, Georg, Nielsen, Ariane & Schmidt, Ursula (2000). Moralisches Urteil und Hochschulsozialisation. Arbeitsunterlage 40. Konstanz: Zentrum 1 Bildungsforschung, Sonderforschungsbereich 23.
WWW: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/pdf/Lind-1976-et-al-Moral-und-Hochschule-AU40.pdf (02-09-06)
Die bisherigen Untersuchungen zur sozialen Entwicklung der Persönlichkeit von lerntheoretischer Seite erbrachten deshalb keine klaren Ergebnisse, weil sie keine strukturellen Änderungen in ihre Messungen mit einbezogen. So versuchte man z.B., die moralische Reife mit der Stärke des Widerstandes gegenüber Versuchung (resistance to temptation) oder mit der Stärke von Schuldgefühlen bei Normverletzungen zu messen. Dabei zeigte sich, dass Kinder eines bestimmten Alters genauso wenig Schuldgefühl entwickeln wie viele Erwachsene, die einen, weil sie noch nicht einen spezifisch kognitiv-moralischen Entwicklungstand erreicht hatten, d.h. noch kein Normbewußtsein entwickelt hatten; die anderen, weil sie Normen nicht mehr als etwas unter allen Umständen zu Befolgendes sahen. Solche Reifeunterschiede kann man also nicht einfach quantitativ mit der Messung der Intensität gewisser Reaktionen erfassen, sondern man muß die Strukturen der Reaktionen analysieren.
Die kognitive Entwicklungspsychologie grenzt sich gegenüber anderen Theorien dadurch ab, dass sie die ausgesprochen kognitive Komponente in den Abfolgen von Änderungen der Verhaltensorganisation betont. Der kognitive Entwicklungsansatz basiert zum einen auf der "logischen" Annahme, dass die soziale Entwicklung kognitiv begründet sei, da jede Beschreibung der Struktur sozialer Reaktionen notwendigerweise einige kognitive Dimensionen enthält, z.B. enthält die Beschreibung der Organisation der kindlichen sozialen Reaktionen stets eine Beschreibung der Art und Weise, wie es die soziale Umwelt und sich selbst wahrnimmt und begreift. Zum anderen geht der kognitive Entwicklungsansatz von der empirischen Tatsache aus, dass die ausgeprägtesten und klarsten Änderungen in der psychologischen Entwicklung des Kindes kognitiv sind. So stellt z.B. Cattell fest, dass die Korrelationen zwischen Intelligenz und sozialen Einstellungen und Verhalten größer sind als diejenigen zwischen sozialem Verhalten und anderen Persönlichkeitsaspekten.
In den zwanziger Jahren
beschäftigte sich ein Team der Yale
Universität mit der Untersuchung des Zusammenhangs von moralischem Wissen und
moralischem Handeln bei Kindern von sechs
bis vierzehn Jahren. Sie legten ihnen Tests zum
moralischen Wissen vor und beobachteten sie in
Situationen, in denen sie sich ehrlich oder
unehrlich verhalten konnten.
Die meisten Kinder waren in manchen Situationen
ehrlich und in anderen unehrlich. Statt einer
allgemeinen Eigenschaft der Ehrlichkeit oder
Unehrlichkeit zu folgen, schien das Handeln mehr
von der Situation abzuhängen, d.h., wie
verlockend die Belohnung war, und wie
wahrscheinlich es für die Kinder war, dass sie
ertappt wurden. Auch zeigte moralisches oder
unmoralisches Handeln wenig Zusammenhang zu
moralischem Wissen, das im allgemeinen groß
war. Es gab keine Hinweise auf eine weitere
Moralentwicklung mit zunehmendem Alter. Die
Wissenschaftler schlossen daraus, dass Moral keine
stabile, in den Menschen verankerte Eigenschaft
sei, sondern aus Reaktionen bestehe, die mit den
Anforderungen der jeweiligen Situation variierten
(Hartshorne & May 1928). Neuere Untersuchungen
von Mischel & Mischel (1973) bestätigen im
wesentlichen die Ergebnisse.
In Bezug auf das moralische Urteil nimmt die kognitive Entwicklungstheorie an, dass sich während des Entwicklungsverlaufs die kognitive Form ändert. Sie steht dabei im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die unter der kognitiven moralischen Entwicklung stets ein Anwachsen des Wissens im Kinde bezüglich des Inhaltes von konventionellen Standards und Werten seiner Gruppe verstanden haben. Folgendes Beispiel zur Verdeutlichung: Es wird allgemein anerkannt, dass die Auffassungen und Empfindungen von Gerechtigkeit auf den Begriffen Reziprozität und Gleichheit basieren. Reziprozität und Gleichheit sind jedoch ebenso gut kognitive wie moralische Formen. Piaget hat in einer Reihe von Untersuchungen festgestellt, dass sich die logische Reziprozität mit der Ausbildung der konkreten Operationen entwickelt (6 bis 8 Jahre), Kohlberg selbst fand Piagets Ergebnisse in neueren Untersuchungen bestätigt. Dies läßt die Schlußfolgerung zu, dass sich das moralische Urteil in seiner kognitiven Form im Laufe der Entwicklung ändert.
Ein weiteres Beispiel von kognitiven Inhalten im moralischen Urteil ist die Erwägung von Intentionen bei der Beurteilung einer Handlung. Nach Piaget stimmt die Entwicklung der moralischen Intentionalität mit der allgemeinen kognitiven Differentiation von objektiv und subjektiv, körperlich und geistig überein. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass in allen Geschlechtsgruppen und in jeder Subkultur (Schweiz, USA, Belgien, China, Malaysia, Mexiko, Israel, Hopi, Zuni, Sioux, Papago) Alterstrends hinsichtlich anwachsender Intentionalität gefunden wurden.
Die kulturellen und subkulturellen Unterschiede, die bezüglich der Intentionalität gefunden wurden, sind durch das unterschiedliche Maß kognitiver und sozialer Stimulation, die von der jeweiligen Kultur zur Verfügung gestellt wurde, erklärbar. Intentionalität ist ein Beispiel eines transkulturellen Entwicklungstrends, da sie eine "cognitive form"-Grundlage bei der Differentiation der physischen und psychischen Objekte hat. Kohlberg und Piaget vertreten die Auffassung, dass bei der Entwicklung des moralischen Urteils universale, regelmäßige Alterstrends zu verzeichnen sind und dass diese eine kognitive Grundlage haben.
Der verweist auf eine detaillierte Erklärung der jeweiligen Stufe!
In diesem Stadium ist das Kind für klare Etikettierungen wie "gut und böse", "richtig oder falsch" empfänglich. Es legt diese entweder im Sinne der materiellen oder hedonistischen Konsequenzen der Tat (Bestrafung, Belohnung, Austausch von Vergünstigungen) aus oder im Sinne der physischen Macht derjenigen, die die Regeln und Etikettierungen aufstellen.
Präkonventionielles Stadium
Die materiellen Konsequenzen einer Handlung entscheiden darüber, ob eine Tat als gut oder schlecht angesehen wird, unabhängig von der menschlichen Bedeutung oder dem Wert dieser Konsequenzen. Das Kind orientiert sich ausschließlich an der Strafvermeidung und der Unterwerfung unter die Macht und nicht an der Achtung vor der zugrundeliegenden moralischen Ordnung, die durch die Bestrafung und Autorität aufrechterhalten wird.
Heteronome Moralität
Richtiges Handeln ist das, wodurch die eigenen Bedürfnisse und -gelegentlich - die Bedürfnisse anderer befriedigt werden. Die menschlichen Beziehungen werden wie die Beziehungen auf einem Marktplatz gesehen. Gerecht ist, was ein gleichwertiger Austausch, ein Handel oder ein Übereinkommen ist.
Individualismus, Zielbewußtsein und Austausch
In diesem Stadium wird die Unterstützung der Erwartungen der Familie, Gruppe oder Gesellschaft des einzenen als wertvoll an sich verstanden, unabhängig von den unmitterbaren oder offensichtlichen Konsequenzen. Auf diesem Niveau erlebt sich das Individuum als zugehöriges Mitglied einer Gemeinschaft.
Konventionelles Stadium
Gutes Verhalten ist ein Verhalten, das anderen gefällt, ihnen hilft und von ihnen gelobt wird. Man beobachtet Konformität mit stereotypen Vorstellungen davon, was "natürliches" oder Mehrheitsverhalten ist. Die Meinung anderer wird zum Maßstab des moralisch Richtigen.
Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonale Konformität
Das Kind orientiert sich an der Autorität, an festen Regeln und an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Richtiges Verhalten besteht darin, seine Pflicht zu tun und die gegebene soziale Ordnung um ihrer selbst willen zu erhalten.
Soziales System und Gewissen
In diesem Stadium besteht ein deutliches Bemühen, moralische Werte und Prinzipien zu finden, die ihre Gültigkeit und Bedeutung unabhängig von der Autorität von Gruppen oder Menschen haben, die diese Prinzipien vertreten, aber auch unabhängig von der Identifizierung des einzelnen mit diesen Gruppen.
Postkonventionelles, autonomes oder von Prinzipien geleitetes Stadium
Richtiges Handeln wird in erster Linie im Sinne allgemeiner, individueller Rechte und der von der gesamten Gesellschaft kritisch geprüften und gebilligten Normen definiert.
Das Stadium des sozialen Kontraktes bzw. der gesellschaftlichen Nützlichkeit
Individuen der höchsten Stufe folgen universalen selbsterwählten ethischen Prinzipien, wovon sich alle gesellschaftlichen Ordnungen ableiten lassen. Das ,,Wesen der Moral" an sich, universale Prinzipien der Gerechtigkeit, Kants Kategorischer Imperativ, wird als oberstes Ziel erkannt.
Das Stadium der universalen ethischen Prinzipien
Kohlbergs Forschungsansatz und methodologischer Rahmen
Eine Grundvoraussetzung von Kohlbergs Ansatz ist die Annahme, dass sich Kinder ihre eigene Meinung über Werte bilden und diese gedanklich strukturieren können. Aufgrund der Orientierung an der Arbeit von Piaget beschreibt Kohlberg als einen Aspekt seines Forschungsinteresses "the empirical isolation of sequential stages in the development of moral thought" (Kohlberg 1963, S. 11).
Kohlbergs Untersuchung (1958) basiert auf einer Stichprobe von 72 Jungen zweier Schulen aus dem Großraum von Chicago. Die Schulen wurden dabei anhand ihrer geographischen sozio-ökonomischen Lage ausgewählt, die Jungen anschließend mit Hilfe der Schulakte anhand des Sozial- und Bildungsniveaus der Eltern gezogen.
Die Probanden wurden in Kleingruppen in zweistündigen Interviews zu hypothetischen moralischen Konflikten befragt. Zuvor durfte jeder Junge drei Mitschüler benennen, denen er sich nahe fühlte. Je nachdem ob eine Teilmenge dieser Auswahl der jeweiligen interviewten Kleingruppe angehörte oder nicht, galt der Junge als integriert oder isoliert. So ergab sich für die Untersuchung insgesamt ein 2x2x3 faktorielles Design.
Die Instrumente bestanden aus neun Situationen, in denen die Kleingruppen mit (hypothetischen) moralischen Dilemmata konfrontiert wurden, bei denen jeder Proband zwischen zwei kulturell legitimen oder illegitimen Alternativen wählen konnte. Anschließend hielt der Interviewer je nach Antwort einen Fragenkatalog zur Vertiefung bzw. Spezifizierung der Antwort bereit. Da es dabei keine kulturell richtige Lösung geben kann, zwischen denen jeder Junge wählen konnte, sah Kohlberg darin die Möglichkeit, die Struktur des moralischen Denkens zu eruieren.
Aus den Reaktionen der Jungen dieser Untersuchung definiert Kohlberg sechs Entwicklungsstufen der Wertorientierung, die sich auf drei moralisch unterschiedliche Ebenen aufteilen lassen (Kohlberg 1963, S. 13-14):
- Level I. Pre-Moral Level
- Type 1. Punishment and obedience orientation.
- Type 2. Naive instrumental hedonism
- Level II. Morality of Conventional Role-Conformity
- Type 3. Good-boy morality of maintaining good relations, approval of
- others.
- Type 4. Authority maintaining morality.
- Level III. Morality of Self-Accepted Moral Principles
- Type 5. Morality of contract and of democratically accepted law.
- Type 6. Morality of individual principles of conscience.
In späteren Arbeiten (vgl. Kohlberg & Turiel 1978) kam die Stufe 0 "Egocentric judgement" hinzu.
In der Betrachtung der relativen Anteile der Jungen, die sich in Abhängigkeit von der untersuchten Altersgruppe den definierten Stufen zuordnen lassen, stellt man fest, dass für die Gruppe der sechzehnjährigen Jungen die umgekehrte Stufenreihenfolge gilt wie für die Zehnjährigen (mit Ausnahme von Stufe 6). Kohlberg sieht darin einen empirischen Beleg seiner vermuteten Stufentheorie, dass die Abfolge der Stufen invariant ist, d.h. jedes Kind muss die Stufen in der festgelegten Abfolge durchlaufen, es kann weder eine Stufe überspringen, noch eine andere Reihenfolge wählen. Die Invarianz bezieht sich dabei nicht auf das Alter.
Zur Validierung seiner Ansätze führt er die gleiche Untersuchung mit denselben Methoden und Instrumenten an 24 Sechzehnjährigen, 24 Sechsjährigen und 50 Dreizehnjährigen in der Nähe von Boston durch. Bei einer Interventionsstudie zur Förderung der moralischen Entwicklung setzte Turiel (1966) die von Kohlberg entwickelten Instrumente bei 44 Schülern der siebten Klasse einer öffentlichen Schule in New Haven in einem Vortest zwei Wochen vor der Intervention und in einem Nachtest eine Woche nach der Intervention ein. Wenn Kohlberg und Turiel in den folgenden Jahren von "Querschnitt- und Longitudinaluntersuchungen" sprechen, wenn sie "eine große Anzahl von Kindern zwischen 10 und 17 Jahren" (Turiel 1980, S. 120) interviewten, so beziehen sie sich in der Darstellung des Stufenmodells auf diese drei Untersuchungen.
Kohlberg führte die Chicagoer Studie ebenfalls an Jungen aus städtischer Mittelschicht in Taiwan und Mexiko, sowie in zwei entlegenen Dörfern in der Türkei bzw. Yucatan durch. Er selbst nennt diese Art der Untersuchung einen "survey" (Kohlberg 1969, S. 364). Aufgrund dieser in verschiedenen Kulturen durchgeführten Erhebungen schließen Kohlberg und Turiel (1978) auf die universelle, d.h kulturunabhängige Gültigkeit des Stufenkonzepts. Bestehende Unterschiede in der Entwicklung in den einzelnen Nationen werden dabei einer zeitlich langsameren Entwicklung der Probanden in den unterschiedlichen Kulturen zugeschrieben, insbesondere in den entlegenen Dörfern der Türkei oder Yucatans, in denen die Stufen 5 und 6 fast vollständig fehlen und auch bei den Sechzehnjährigen prämoralische Vorstellungen der Ebene I dominieren.
In Kohlbergs Studien werden zahlreiche längsschnittliche Interpretationen aus seiner querschnittlichen Anlage deutlich: Ausgehend von den Reaktionen der Jungen seiner Untersuchung, wird theoriegeleitet ein Stufenmodell empirisch entwickelt, welches nicht nur eine einfache Verortung der Reaktionen der Probanden in ein moralisches Modell erlaubt, sondern für das neben der Annahme der Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens auch noch die Invarianz der individuellen Entwicklung postuliert wird. Beide Schlussfolgerungen lassen sich aus einer Tradition entwicklungstheoretischer Ansätze erklären, auf die sich Kohlberg (1958, 1963) wiederholt beruft, aus seinem Untersuchungsdesign lassen sie sich jedoch nur als Interpretationen der Datenbasis ableiten. Deutlich wird diese längsschnittliche Interpretation dabei vor allem in den Vergleichen über die Entwicklung der Anteile der Probanden über die Altergruppen in den verschiedenen Kulturen, durch die Kohlberg diese Invarianz argumentativ empirisch untermauert: In seiner Darstellung wird zwar der Verlauf der relativen Anteile in jeder Altersgruppe verfolgt, die Verbindung dieser Verläufe deutet jedoch schon auf einen vermuteten ursächlichen Zusammenhang hin, den Kohlberg dahinter sieht. In seiner Interpretation argumentiert Kohlberg sogar nicht innerhalb der Verläufe, sondern er schließt auf dahinter liegende Übergänge im individuellen moralischen Entwicklungsverlauf. Die Gruppe der Sechzehnjährigen hatte seiner Ansicht nach im Alter von zehn Jahren eine Verteilung der von ihm untersuchten Zehnjährigen, und sie haben sich über die Verteilung der untersuchten Dreizehnjährigen zur dargestellten Verteilung entwickelt. Ein weiterer Beleg dieser Darlegung mag man in Kohlbergs zeitlicher Interpretation der jeweiligen kulturellen Entwicklungsverläufe sehen, in denen er lediglich einen kulturabhängigen Effekt der individuellen Entwicklungsgeschwindigkeit sieht. Diese Argumentationskette entspringt somit der längsschnittlichen Betrachtung der Daten, indem Kohlberg ohne das Individuum über die Alterskohorten verfolgen zu können, seine individuelle Entwicklung aus den Daten ableitet. Bei ihm beschränkt sich die Interpretation dabei sogar nicht nur auf die Entwicklung eines durchschnittlichen Individuums, sondern er verfolgt den Anspruch der moralischen Entwicklung jedes Individuums gemäß seiner Stufentheorie zu erklären. Als ein typisches Merkmal von Querschnittsstudien schließt Kohlberg bei der Deduzierung des Stufenmodells aus den empirischen Daten von der Gesamtheiten auf das Individuum; die argumentative längsschnittliche Interpretation über den individuellen Entwicklungsverlauf ist eher hypothetisch und theoriegeleitet als empirisch ermittelt.
In späteren Arbeiten treten längsschnittliche Einzelfallstudien hinzu, in denen ein Jungen namens Tommy im Alter von 10, 13 und 16 Jahren mit dem Erhebungsinstrument befragt und seine Entwicklung entsprechend des Stufenmodells von der Stufe 1 bis zur Stufe 3 dokumentiert wird; ebenso verhält es sich mit einem Jungen namens Richard, der in einem vierjährigen Abstand von 16 bis 24 Jahren interviewt wird (Kohlberg & Turiel 1978, S. 41-43). Hier drin ist jedoch eher eine fallstudienbasierte Validierung des vorhandenen Modells zu sehen, möglicherweise aus der Notwendigkeit geboren die längsschnittlichen Interpretationen punktuell zu unterstützen. Das Stufenmodell an sich und seine Eigenschaften werden nicht detailliert in Frage gestellt.
Moshe Blatt hat gemeinsam mit Lawrence Kohlberg später zur Förderung der allgemeinen moralischen Entwicklung von Menschen die Methode der Dilemmadiskussion vorgeschlagen und damit Erfolg gehabt, was in zahllosen Interventionsstudien bestätigt werden konnte (Lind 2002). Gleichwohl hat diese Methode eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die für ihren Einsatz in Schulen sowie für ihre Vermittlung in der Lehrerbildung sehr wichtig sind: Warum wirkt diese Methode? Was genau sind die Wirkungsfaktoren? Lässt sich die Wirkung noch verbessern? Lässt sie sich nur mit dem Kohlbergschen Moral Judgment Interview nachweisen, das Fragen der Ökonomie und Objektivität aufwirft?
Auf der Grundlage vieler Studien und Erprobungsprojekte hat Georg Lind eine Revision der Blatt-Kohlberg-Methode, die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion entwickelt, die vielseitig anwendbar, noch effektiver, objektiv evaluierbar und gut lehrbar ist. Ihre beiden zentralen Prinzipien - Unterstützung und Herausforderung sowie demokratische Moral - haben erste empirische Evidenz gefunden, sodass sie auch im Unterricht gut angewendet werden können.
Kleine, Michael (2002). Längsschnittliche Interpretation querschnittlicher Befunde.
WWW: http://www-campus.uni-regensburg.de/
material/ls/KLEINE.PDF (03-03-08)
Literatur:
Kohlberg L. & Turiel E. (1978) Moralische Entwicklung
und Moralerziehung. In G. Portele (Hrsg.), Sozialisation und
Moral: neue Ansätze zur moralischen Entwicklung und
Erziehung. Weinheim: Beltz.
Kohlberg, L. (1958). The development of modes of moral
thinkink and choice in the years 10 to 16. Chicago:
Ablichtung der Dissertation.
Kohlberg, L. (1963). The development of children's
orientations toward a moral order &endash; I. Sequenze in
the development of moral thought. Vita humana, 6, 11-33.
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Kohlberg, L. (1969). Stage and sequence: the
cognitive-developmental approach to socialization. In D. A.
Goslin (Hrsg.), Handbook of socialization &endash; theory
and research. Chicago: McNally.
Kohlberg, L. (1980). Eine Neuinterpretation der
Zusammenhänge zwischen der Moralentwicklung in der
Kindheit und im Erwachsenenalter. In R. Döbert, J.
Habermas & G. Nummer-Winkler (Hrsg.), Entwicklung des
Ichs (S. 225- 269). Königstein: Athenäum.
Lind, G. (2002). Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen
moralpsychologischen Forschung. Berlin: Logos-Verlag.
Lind, G. (2003). Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und
Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München:
Oldenbourg-Verlag.
Turiel, E. (1966). An experimantal test of the
sequentiallity of developmental stages in the child's moral
judgments. Journal of Personality and social Psychology, 3
(6), 611-618.
Turiel, E. (1980). Entwicklungsprozesse des moralischen
Bewußtseins des Kindes. In R. Döbert, J. Habermas
& G. Nummer-Winkler (Hrsg.), Entwicklung des Ichs (S.
113-149). Königstein: Athenäum.
Siehe dazu auch die methodenkritische Analyse von Georgia Batisweiler: Kritikpunkte an Kohlbergs Theorie
Geschlechtsspezifische Moral?
Eine Debatte um die geschlechtsspezifische Moral ist von Carol Gilligan (1982) initiiert worden, ob und wie sich ein Zusammenhang zwischen Moraltheorie und Geschlechterdifferenz fassen lässt. Ansatzpunkt Gilligans ist die Vernachlässigung von Frauen in der Moralentwicklungstheorie Kohlbergs, der zufolge Frauen nicht die höchste Stufe der Moralentwicklung erreichen. Gilligans Verdienst ist es hier, auf die der Entwicklungspsychologie zugrundeliegenden, als "männlich" angenommenen Prinzipien hinzuweisen, die die weibliche Entwicklung als hierarchisch niedriger anzusiedelnde Abweichung begreifen.
Nach Gilligan gibt es zwei Formen der Moralentwicklung:
Weibliche Moral
Demzufolge handeln Frauen nach einer Fürsorglichkeitsmoral, in denen moralische Grundsätze wie Partikularismus, Kontextsensibilität, Mitmenschlichkeit und Gefühle enthalten sind. Die höchste Stufe der moralischen Entwicklung ist in diesem Kontext, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen und zu intervenieren, um Schaden von anderen abzuwenden.
Männliche Moral
Im Gegensatz dazu agieren Männer überwiegend nach einer Gerechtigkeitsmoral, die Grundsätze wie Vernunft, Universalismus und Abstraktheit umfasst. Die formalisierte Gerechtigkeit der Nichteinmischung als höchste Stufe der Moralentwicklung wird nach Gilligan von Frauen als unmenschlich eingeordnet.
Die unterschiedliche Moralentwicklung bei Mädchen und Jungen begründet Gilligan mit der Existenz unterschiedlicher Lebenszusammenhänge. Der weibliche Lebenszusammenhang vermittelt noch immer die Familien- und Sorgeorientiertheit. Die stärker beziehungsorientierte Erziehung bewirkt ein größeres bei Mädchen vorausgesetztes Einfühlungsvermögen. Von Mädchen wird schon in frühem Alter ein Verständnis für die Beweggründe anderer abverlangt. Gilligan argumentiert, dass in Kohlbergs höchstem Entwicklungsstatus nicht nur weibliche Erfahrung nicht vorkommt, sondern dies auch dem weiblichen Lebenszusammenhang gänzlich zuwiderläuft. Gilligan verweist auf die für Frauen zwiespältigen traditionell weiblichen Tugenden wie Selbstaufopferung und Hingabe, die von vielen Frauen mit Fürsorglichkeit verwechselt werden und ihrer Ansicht nach (ebenso wie bei Kohlberg) nicht auf eine reife Moralentwicklung schließen lassen. In der Adoleszenz treten Konfliktpotentiale im weiblichen Lebenszusammenhang zutage. Die Selbstfindung und Ablösung bedingt Schuldgefühle bei jugendlichen Mädchen besonders gegenüber den Müttern, da sie sich in die Lage der "Verlassenen" nur allzu gut einfühlen können und in einen Loyalitätskonflikt geraten. Die Rücksichtnahme auf Gefühle, der kooperative Interaktionsstil, Empathie und Sensibilität werden aber in Kohlbergs Entwicklungsschema als weibliche Schwäche, als Nicht-Autonomie gedeutet.
http://www.fh-nb.de/kindheit/
ilso/neu/HTML/KURS4/loew/k4t2_4_1.htm (03-06-25)
Literatur:
Gilligan, Carol (1983) Verantwortung für die anderen und für sich selbst - das moralische Bewußtsein von Frauen. In Schreiner, Günter (Hrsg.), Moralische Entwicklung und Erziehung. Braunschweig.
Karl Jaspers' vier Schuldbegriffe
Der Philosoph Karl Jaspers setzte sich in "Die Schuldfrage" (1946) ausführlich mit der Frage von Schuld und Verantwortung - speziell bezogen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus - auseinander und postulierte vier Stufen oder Kategorien:
- die kriminelle Schuld aufgrund objektiv nachweisbarer Gesetzesverstöße, für die das Gericht im formellen Verfahren zuständig ist;
- die politische Schuld durch Handlungen der Staatsmänner, an denen der Einzelne durch seine Staatsbürgerschaft und durch seine Mitverantwortung, wie er regiert wird, beteiligt ist, wobei die entscheidende Instanz die Gewalt und der Wille des Siegers ist;
- die moralische Schuld durch Handlungen, deren Charakter nicht allein dadurch nicht verbrecherisch wird, dass sie befohlen sind, und worüber allein das eigene Gewissen entscheiden muß;
- die metaphysische Schuld aus der Mitverantwortung für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt: "Wenn ich nicht tue, was ich kann, um es zu verhindern, so bin ich mitschuldig." Die Instanz zur Klärung dieser Kategorie der Schuld ist Gott allein.
Zusammengefaßt nach:
Kohlberg, Lawrence (1976). Moral stages and moralization: the
cognitive development approach. In: Kohlberg, L. (Hrsg.): Moral
development and behavior. New York: Holt, Rinehart & Winston.
Colby, Ann & Kohlberg, Lawrence (1978). Das moralische Urteil:
Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz. In:
Steiner, G. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band VII:
Piaget und die Folgen. Zürich: Kindler.
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