Die strukturalistische kognitive Entwicklungstheorie von Jean Piaget
Eine umfassende Theorie der Entwicklung des Denkens und der Intelligenz des Kindes wurde von Jean Piaget (1937) entworfen und später aufgrund zahlreicher Forschungen von ihm selber und seinen Mitarbeitern weiterentwickelt.
Wollte man eine Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, führte kein Weg an Jean Piaget vorbei: sowohl für die Entwicklungspsychologie als auch für die Pädagogik, aber auch für die Naturwissenschaften und nicht zuletzt die Sozialisationsforschung sind seine theoretischen Ansätze bis heute von herausragender Anregungskraft geblieben. Mit seinen über viele Jahrzehnte hinweg kontinuierlich fortgeführten empirischen Untersuchungen legte er die Basis für eine umfassende Theorie der geistigen und kognitiven Entwicklung des Menschen in der Kindheit und Jugend. Dabei interessierte ihn vor allem das Problem des Werdens der menschlichen Erkenntnistätigkeit - ein bis dahin der Sphäre der Philosophie zugeordneter Wissenschaftsbereich. Der in seiner Methode streng naturwissenschaftlich operierende Piaget kritisierte in den epistemologischen Arbeiten der Philosophen aber vor allem eines: Das Fehlen empirischer Beweise. Und eben hier, in dieser Grenzregion zwischen Philosophie und Biologie, hat Piaget seine Lebensaufgabe gefunden: in der empirischen Erforschung des Werdens der menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge, die in Piagets genetischer Entwicklungstheorie seinen Niederschlag findet
Bei
seinen Beobachtungen fand er, dass Kinder in bestimmtem
Alter noch nicht in der Lage sind, Aufgaben mit einem
bestimmten Schwierigkeitsgrad zu lösen und konnte so
die Annahme des Behaviorismus widerlegen,
dem Menschen seien durch Programmierung spezifischer
Reiz-Reaktions-Verbindungen grundsätzlich alle
Leistungen zu jeder Zeit "anzutrainieren". Vielmehr erkannte
er, dass sich die menschliche Kognition in zunehmendem Alter
nicht nur quantitativ im Sinne des geradlinigen Zunehmens
der Intelligenz, wie sie etwa Binet beschrieb,
sondern vor allem
qualitativ ändert: das kindliche
Denken entwickelt sich ja vom Konkreten zum Abstrakten, vom
Einfachen zum Differenzierten, es wird integrierter,
systematischer, flexibler und letztlich angepaßter. So
sah er die geistige Entwicklung des Menschen vor allem als
strukturelle
Veränderung an. Wenn das Wesen einer
Struktur in jenen regelhaften Beziehungen zwischen Einheiten
des Systems (hier: den Inhalten des Denkens) besteht, dann
muß man sich die im Verlauf der Kindheit und Jugend
stattfindenden Prozesse eben als einen ständigen und
entwicklungsgesetzmäßigen Umbau
der kognitiven Struktur vorstellen. Diesen Umbau der Denk-
und Handlungsstrukturen des Individuums sieht Piaget als
einen durch tägliche
Interaktion
mit den Gegenständen der Umwelt bedingten
und sich beständig vollziehenden Prozeß an - ohne
die gegenständliche und soziale Umwelt gäbe es
demnach auch keine Entwicklung. Mit diesem Standpunkt wendet
sich Piaget aber auch deutlich von dem der Empiristen (v.a.
Locke und Hume) ab, die die kognitiven Strukturen des
Individuums als ein Abbild der in der
äußeren Welt wahrgenommenen Strukturen
beschrieben haben. Nach Piaget ist es nämlich das
Individuum selbst, das seine kognitive Struktur von innen
heraus selbst konstruiert, indem
inadäquate Vorstellungen von den Dingen ständig
durch neue, stimmigere ersetzt werden. Dies macht den oft
sogenannten Konstruktivismus im Werk
Piagets aus.
Ein guter Experimentator muß zwei unverträgliche Eigenschaften in sich vereinigen: er muß beabachten, das Kind sprechen lassen können, er darf den Redefluß nicht bremsen, nicht in die falsche Richtung bringen, und er muß gleichzeitig ein Sensorium dafür haben, etwas Genaues herauszuholen.
Piaget: Das Weltbild des Kindes, 1978, S. 19.
Nach Piaget löst sich das Denken von Geburt an zunehmend von der sinnlichen Wahrnehmung und schreitet zu immer differenzierteren Lösungsformen auf abstrakt-begrifflicher Grundlage fort. Er kommt zu dem allgemeinen Ergebnis, dass die von ihm bei den Kindern analysierten logischen Strukturen konstruiert, d.h., vom Kind selber entwickelt werden und zu ihrer Ausformung (zumindest im westlichen Kulturkreis) ein gutes Dutzend Jahre brauchen. In der empirischen und qualitativen Untersuchung des kindlichen Denkens (vor allem bei seinen drei eigenen Kindern) erweist sich Piaget als ungeheuer einfallsreich, kindgemäß und alltagsnah, so vor allem in seinen eigens dafür entwickelten Beobachtungsmethoden (strukturierte Exploration, doppelte Perspektive, klinische Methode). Kritisch wird von manchen seine Konzentration auf vorwiegend logisch-kognitive Aspekte der kindlichen Denkentwicklung gesehen, die damit umschrieben werden könnte, dass er sich auf die Frage konzentriert: "Wie kommt die Logik in die Köpfe der Kinder hinein?" Innerhalb seines Modells bleiben emotionale und soziale Faktoren ausgeklammert, die bei der Denk- und Intelligenzentwicklung aber ebenfalls von Bedeutung sind. Diese Schwerpunktsetzung kommt vermutlich daher, dass er letztlich an fundamentalen wissenschaftstheoretischen Fragestellungen interessiert war, etwa daran, wie der Mensch bzw. vordringlich das Kind (als Wissenschaftler) überhaupt zu Wissen und Erkenntnissen gelangen kann. Piaget vertritt als Anhänger des französischen methodischen Strukturalismus damit die europäische Denktradition, die an der Erforschung von Strukturen des menschlichen und insbesondere des wissenschaftlichen Denkens interessiert ist.
Abgrenzung gegenüber Widerspiegelungstheorien
Piaget weist alle Theorien zurück, die Entwicklung ausschließlich als empirisches Lernen, als direkte Widerspiegelung der Außenwelt interpretieren. Gerade die Unterscheidung von Entwicklungsstufen zeigt, dass je nach den aufgebauten Erkenntnisinstrumenten Unterschiedliches erfahren wird und erfahren werden kann. Der Beitrag des erkennenden Menschen und seiner Erkenntniskompetenzen (wir sprechen heute meist nicht von Erkenntnis, sondern von Informationsverarbeitung) darf nicht übersehen werden.
Mit dem Konzept der Äquilibration hebt Piaget seine Theorie von den Widerspiegelungstheorien (Locke, Hume, Mill) ab. Nicht Abbildung, sondern Konstruktion ist die Idee im Konzept der Äquilibration. Die Konstruktion kann durch Erfahrungen, Wort Bild oder Beispiele beeinflußt oder angeregt sein, sie ist aber nicht empirisches Lernen, sondern eine neue Strukturierung und Organisation, ob kreativ und selbständig entdeckt oder nur nachvollzogen.
Siehe dazu die
grafische Darstellung
des Modells
auf der Eingangsseite und
Der
erkenntnistheoretische Ansatz Piagets
Grundbegriffe der Piagetschen Theorie
Die kognitive Entwicklung ist laut Piaget gekennzeichnet durch veränderliche und unveränderliche Komponenten:
- sich ständig ändernde Inhalte,
- sich entwicklungsgesetzmäßig verändernde Strukturen und
- unveränderliche Funktionen.
Eine kognitive Struktur (Schema) besteht bei Piaget aus Elementen, die bestimmten Aufbaugesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Eine solche Struktur regelt sich weitgehend selbst, d.h., sie stellt eine ursprüngliche Ganzheit dar und besteht aus einem System von Beziehungen und Transformationen. Die kognitiven Strukturen bestehen aus Gruppen von Schemata, die sich nach gewissen Entwicklungsgesetzen verändern.
Das Schema wird hier als typische Weise des Menschen verstanden, bestimmte Klassen von Umweltgegebenheiten zu handhaben. Ein solches Schema existiert als kognitives Schema, das sich in gewissen Handlungsschema ausdrückt (z.B. dem Schema des Werfens, Klopfens, Multiplizierens u.ä). Schemata machen verschiedenartige Gegenständen zu gleichartigen (z.B. zu solchen, die man werfen, mit denen man klopfen, die man multiplizieren kann usw.), erleichtern somit kognitiv den Umgang mit der Umwelt. Schemata werden zur Erinnerung in das Gedächtnis aufgenommen und zur Wiedererkennung von Gegenständen als die wesentlichen Züge reaktiviert bzw. abgerufen. Das "retrieval"-Problem des Gedächtnisses bzw. der internen gespeicherten Repräsentationen ist eines der Schema(wieder)aktivierungen.
Kant verwendete den Begriff des Schemas - der letztlich aus der Philosophie kommt - in seiner "Kritik der reinen Vernunft" in anderen Weise. Für ihn ist ein Schema das "Produkt der Einbildungskraft" a priori, das die Einheit der Anschauungen und der (Vorstellungs-) "Bilder" bedingt (ermöglicht), sei es der äußeren Sinnesanschauungen, sei es der inneren. Die Funktion des Schemas bzw. Schematismus ist die "Bestimmung der Sinnlichkeit", also der veranschaulichten Gehalte dessen, was wahrnehmend erkannt wird. Es handelt sich nach Kant um "die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß einer Menge (...) in einem Bilde vorzustellen" - und zwar um ein "Verfahren", einen Prozess eher als um ein solches "Bild selbst". "Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe".
Die Inhalte sind konkrete Gegenstände, auf die die Schemata angewendet werden können (Bälle, Steine, aber auch Zahlen, Emotionen usw.). Für Piaget sind die Inhalte nur sekundär von Interesse, da sie sich ständig ändern und zu wenig Regelmäßigkeit zeigen. Hier zeigt sich wiederum die Einstellung, dass es weniger wichtig sei, an welchen Gegenständen das Individuum seine kognitiven Strukturen ausbildet, da an gleichen Gegenständen Verschiedenes und andererseits auch an verschiedenen Gegenständen Gleiches gelernt werden könne.
Siehe dazu die
grafische Darstellung
des Modells
auf der Eingangsseite!
Piaget stellt den kognitiven Strukturen die kognitiven Funktionen gegenüber. Unter den Funktionen versteht er grundlegende Möglichkeiten des Menschen, die Umwelt zu bewältigen, die die Anpassung des Menschen an die Umwelt leisten. Die wesentliche Funktion, die zur Formung einer Struktur führt, ist hierbei die Assimilation. Diese bildet mit der zweiten Funktion, der Akkommodation, einen kognitiven Gesamtprozeß (Adaptation).
Assimilation meint im wesentlichen ein aktives Interpretieren, Einordnen oder Deuten von Objekten und Ereignissen der Außenwelt in Begriffen der eigenen, gerade verfügbaren und bevorzugten Art, über diese Dinge zu denken. In den Anfängen ist die Assimilation im wesentlichen die Nutzung der Außenwelt durch das Subjekt, um die ihm angeborenen oder erworbenen Schemata zu stärken und zu vertiefen. Beispiel: Wenn für das Kind ein Holzstück zum Schiff wird, so assimiliert es das Holzstück an sein kognitives Konzept von Schiff. Es lassen sich mehrere Formen der Assimilation unterscheiden:
- Reproduktive Assimilation: Kinder üben Schemata, indem sie sie wiederholen und dadurch konsolidieren.
- Generalisierende Assimilation: Die Spanne der Stimuli, die zu einem Schema assimiliert werden können, vergrößert sich.
- Wiedererkennende Assimilation: Objekte werden gleichzeitig zu den Generalisierungen differenziert. Bei der Anwendung unterschiedlicher Schemata merkt das Kind, dass diese unterschiedlichen Schemata sich offensichtlich auf unterschiedliche Objekte beziehen. Das Kind erkennt ein Objekt also insofern wieder, als es das passende (differenzierte) Schema anwendet.
- Gegenseitige Assimilation der Schemata: Schemata assimilieren (koordinieren) sich gegenseitig. so dass umfassendere, stärker organisierte Schemata entstehen.
Die stärker reaktive Funktion der Akkommodation bedeutet, der Struktur äußerer Daten Rechnung zu tragen. Die Akkommodation tritt nur dann auf, wenn es eine Diskrepanz oder Störung gibt, für die der Organismus noch kein bewährtes Schema besitzt.
Da auch die einfachste menschliche Handlung grundsätzlich vielschichtig und ihr deshalb selten einer der beiden Funktionen eindeutig zuzuordnen ist, begegnen uns in jeder Handlung Akkommodation und Assimilation gleichzeitig in unterschiedlichen Gewichtungen.
Das Wachstum menschlichen Bewußtseins besteht zu einem großen Teil in der sukzessiven Bildung von kognitiven Invarianten. Nur durch die Identifizierung solcher konstanter Merkmale ist es dem Individuum inmitten ständiger Bewegung und Veränderung möglich, selber einen Standpunkt für seine Adaptationen zu finden (Identität).
Ein Schema erlaubt auch das Wiedererkennen einer bestimmten Situation, indem über gewisse Unterschiede zwischen gespeicherten Schema und aktuellem Kontext abstrahiert wird. Dieser Vorgang der Assimilation erlaubt also nur die Wahrnehmung dessen, was in bestehende Schemata paßt. Ein Schema assoziiert eine spezifische Aktivität mit der momentanen Situation, und führt daher zu der Erwartung, dasss gleiche Aktivitäten gleiche Resultate zeitigen. Das menschliche kognitive System ist daher nicht durch den Sensorinput determiniert, sondern durch interne (unbeobachtbare) Erwartungen, welche die kognitive Aktivität kanalisieren. Dadurch, dass vertraute Situationen nur mehr erkannt, aber nicht immer wieder neue Reaktionen gelernt werden müssen, wird Kognition so weit beschleunigt, dass es in der Lage ist, in Echtzeit zu agieren. Wir leben in einer Welt der Antizipation, in der unser internes Gerüst an Vermutungen und Hypothesen uns zu Erwartungen führt. Wird eine Erwartung bestätigt, so können wir den eingeschlagenen "Denkweg" fortsetzen. Schlägt die Bestätigung fehl, so ändern wir entweder Abfolge der Vermutungen, oder modifizieren die Hypothesen selbst. Ernst von Glasersfeld hat später diese Schematheorie in psychologischer Perspektive in seinem konstruktivistischen Ansatz weiterentwickelt.
Piagets Stufen- oder Stadientheorie
Die Entwicklung der logischen Strukturen menschlichen Denkens durchläuft fünf (nach anderen Darstellungen vier) Stufen oder Stadien, die allerdings nicht im Sinne einer vollständigen Ablösung einer Denkform durch die andere interpretiert werden dürfen, sondern vielmehr aufeinander aufbauend und in Wechselwirkung stehend verstanden werden müssen. Allerdings postuliert Piaget, dass keine spätere Phase ohne die vollständige Erlangung der früheren erreicht werden kann. Bruners Theorie der kognitiven Entwicklung (1986) geht von ähnlichen Prämissen aus.
Piaget nahm an, dass Situationen oder Aufgaben, die alle die gleiche logische Struktur haben, von Kindern gleichen Alters richtig gelöst werden müssten. Dies ist aber nicht der Fall. Ein Problem wirft die Beobachtung auf, dass die gleiche Struktur in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen nicht im gleichen Alter realisiert wird. Piaget hat dieses Problem relativ schnell erkannt und dafür den Begriff "Décalage" (horizontale Verschiebung) eingeführt, allerdings hat er keine Theorie dieser Verschiebung ausgearbeitet. Aufgaben mit der gleichen identischen Struktur werden von den Kindern zu verschiedenen Zeitpunkten in ihrer Entwicklung richtig gelöst. Es ist also so, dass mutmasslich gleiche Leistungen in verschiedenen Bereichen entwicklungsmässig nicht synchron sind. Die Erwartung, dass alle Probleme der gleichen Struktur etwa zur gleichen Zeit gelöst werden können, entspricht dem Stufenkonzept, es gibt aber manchmal eine Verschiebung von bis zu vier Jahren.Der Ansatz der Entwicklungsstadien bezeichnet mit Stadium also einen Zeitabschnitt, in dem das Denken und Verhalten eines Kindes eine spezifische geistige Grundstruktur widerspiegelt.
- Ein Stadium ist ein strukturiertes Ganzes in einem Zustand des Gleichgewichts.
- Jedes Stadium geht aus dem vorangegangenen Stadium hervor, integriert und transformiert es und bereitet das nachfolgende vor.
- Die Stadien bilden eine invariante Sequenz.
- Die Stadien sind universell.
- Jedes Stadium schreitet voran vom Werden zum Sein.
Das auf der Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt beruhende Stufenkonzept der Entwicklung basiert auf den Annahmen, dass zur strukturellen Änderung der Kategorien Erfahrung unbedingt notwendig ist, und dass umfangreichere Stimulation zu schnelleren Fortschritten durch die involvierten Reihen führt. Die Wirkungen der Erfahrung werden jedoch nicht als Lernen im üblichen Sinn begriffen, wonach Lernen ein Training durch die Paarung spezifischer Objekte mit spezifischen Reaktionen durch Instruktion, durch Vorbilder etc. bedeutet, sondern man nimmt an, dass der Effekt der Übung mehr durch die kognitiven Kategorien des Individuums bestimmt wird als umgekehrt.
Wenn zwei Ergebnisse, die zeitlich aufeinander folgen, im Denken eines Kindes kognitiv verknüpft werden, impliziert dies, dass das Kind sie mittels der Kategorie Kausalität aufeinander bezieht, d.h., es nimmt sein Verhalten als die Verstärkung verursachend wahr. Ein Verstärkungsprogramm kann also nicht direkt die kausalen Strukturen des Kindes ändern, da es bereits an diese assimiliert ist.
Nach Piaget (1960) haben kognitive Stufen folgende Charakteristika:
Diese verschiedenen Denkmodi bilden eine "invariante Sequenz". Kulturelle Faktoren können zwar die Entwicklung beschleunigen, verlangsamen oder zum Stillstand bringen, sie können jedoch nicht die Abfolge (der Stufen) ändern.
Jede dieser unterschiedlichen und aufeinanderfolgenden Denkmodi formen ein "strukturiertes Ganzes". Eine Stufen-Antwort in Bezug auf eine Aufgabe ist keine spezifische Antwort, die etwa durch Kenntnis und Vertrautheit mit dieser oder ähnlichen Aufgaben determiniert ist, sondern repräsentiert eine ihr unterliegende "Denkorganisation", z.B. die Stufe der konkreten Operationen.
Die kognitiven Stufen bilden eine hierarchische Integration. Die Stufen bilden eine Ordnung von Strukturen, die sich zunehmend differenzieren und integrieren, um allgemeine Funktionen zu erfüllen. Nach Piaget sind die allgemeinen Anpassungsfunktionen der kognitiven Strukturen stets dieselben: Die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Organismus und Umwelt, definiert als die Balance von Assimilation und Akkomodation. Höhere Stufen schließen die Strukturen aller früheren Stufen ein. Zum Beispiel formal operationales Denken schließt alle strukturellen Merkmale des konkret operationalen Denkens ein, allerdings auf einer neuen Stufe der Organisation. Konkret operationales oder gar sensomotorisches Denken verschwindet nicht, wenn formales Denken entsteht, sondern es wird weiterhin in Situationen, wo es adäquat ist oder wenn Anstrengungen im formalen Denken zu keiner Lösung führen, angewandt. Im Individuum gibt es allerdings eine hierarchische Präferenz, d.h. eine Disposition, die Lösung eines Problems auf der höchsten Stufe, die ihm verfügbar ist, zu bevorzugen.
Stufe der sensumotorischen Intelligenz
(0 bis 1;6/2;0 Jahre) Das Verhalten in der sensumotorischen Phase entsteht ausschliesslich durch das Zusammenspiel von Wahrnehmungseindrücken und motorischer Aktivität. Das Kleinkind verfügt also weder über eine Vorstellungstätigkeit, noch über eine rationale Einsicht.
Bereits im Alter bis ca. 18/24 Monaten gibt es intelligente Anpassungen des Kindes an seine Umwelt. Allerdings erfolgen diese vorwiegend noch in der Form, dass spontane Handlungen (zunächst aufgrund angeborener reflektorischer Schemata) mit gerade vorhandenen Wahrnehmungseindrücken koordiniert werden (z. B. eine Rassel schütteln oder ein Mobile bewegen). In dieser Phase baut das Kind über eine immer größer werdende Reihe von primären, sekundären und tertiären Kreisprozessen (zunächst Lutschen, dann Greifen und später Hantieren) die Gesamtheit der kognitiven Substrukturen für die späteren wahrnehmenden und intellektuellen Konstruktionen auf. Daher ist diese Phase grundlegend für die spätere kognitive Gesamtentwicklung eines Kindes (Hospitalismus). Die sensumotorische Entwicklung unterteilt Piaget in sechs Abschnitte ein:
- Übung angeborener Reflexmechanismen
- primäre Kreisreaktionen
- sekundäre Kreisreaktionen
- Koordination der erworbenen Handlungsschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen
- tertiäre Kreisreaktionen
- Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung.
im Detail:
Stufen der
sensumotorischen Intelligenz
Stufe des symbolischen oder vorbegrifflichen Denkens
(1;6/2;0 bis 4;0 Jahre) Auf dieser Stufe läßt sich eindeutig Denken im Sinne verinnerlichten Handelns nachweisen. Das Kind wird fähig, mit Vorstellungen und Symbolen - die Piaget Vorbegriffe nennt - umzugehen. Das Kind weiss nun also, dass ein Symbol für ein Objekt stehen kann. Es verfügt ebenfalls über eine qualitative Identität. Die Identität eines Gegenstandes, etwa von Papier oder Knetmasse, bleibt die gleiche, auch wenn es durch Verformung anders aussieht.
Der Begriff der Symbolfunktion bezieht sich auf die Fähigkeit des Kindes, das Bezeichnete (ein Objekt, ein Ereignis oder ein Begriffsschema) durch ein Bezeichnendes (ein Wort, eine Geste, eine Vorstellung) zu repräsentieren. Es vermag nun, zwischen einem wirklich vorhandenen Gegenstand und einem nur vorgestellten Symbol zu unterscheiden. Es handelt sich insgesamt um eine prälogische Denkform - "prä-" natürlich immer im Vergleich zur üblichen in unserem Kulturkreis ausgebildeten und akzeptierten Erwachsenenlogik!
Das Kind lernt als Grundlage für seine spätere Entwicklung in der präoperationalen Periode den Gebrauch symbolischer Substitutionen wie der Sprache und der geistigen Bilder anstelle der sensomotorischen Aktivitäten des Säuglingsalters. Anstatt nach Dingen zu greifen, kann es jetzt etwa darum bitten. Auf dieser Stufe entwickelt das Kind die Fähigkeit, seine reale Umwelt mit vor allem sprachlichen Mitteln zu klassifizieren.
Die Kinder sind nicht fähig, die Welt in belebt und unbelebt zu unterteilen. So wird zum Beispiel die Bewegung der Wolken an die Fortbewegungsart der Würmer assimiliert und gleichzeitig werden die Wolken als Lebewesen gedeutet. Piaget nennt die Wahrnehmung unbelebter Gegenstände als belebt "animistische Deutungen".
Beim finalistischen Denken handelt es sich um eine fehlerhafte Assimilation. Die Existenz von Naturerscheinungen wird zweckmässig erklärt, als ob es sich um menschliche Aktionen handelte. Bäume sind da, um uns Schatten zu spenden, Steine sind da, um Häuser zu bauen.
Beim artifiziellen Denken glauben Kinder, dass alles in der Welt von den Menschen oder von Gott gemacht ist. Sie verfügen also über Konzepte der Herstellung, der Anfertigung und des Machens. Kinder vermuten zum Beispiel, dass starke Männer einen Berg gemacht haben oder sie fragen danach, wer die Babys gemacht hat.
Stufe des anschaulichen Denkens
(4;0-7;0/8;0 Jahre) Es entwickeln sich auf dieser Stufe zwar schon "echte" Begriffe, aber das Denken ist wie auch in der nächsten Phase noch ganz an die Anschauung gebunden. In dieser Phase kommt es geradezu zu einer Explosion des Begriffsinstrumentariums, das allerdings noch recht vereinfacht und absolut gebraucht wird. Das Kind kann in der Regel noch nicht verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder einer Beziehung zwischen Gegenständen gleichzeitig erfassen und berücksichtigen, sondern es bleibt meist bei einem wahrnehmungsmäßig herausragenden Merkmal stehen.
Diese Stufe ist die am intensivsten erforschte Phase der Piagetschen Theorie, vor allem deshalb, weil sie im Übergang vom voroperatorischen zum operatorischen Denken gipfelt. Aus einer Phase, die von instabilen logischen Regeln gekennzeichnet ist (Invarianz, Objektpermanenz), kommt es zu einer qualitativen Veränderung. Die Fehler, die das Kind in diesem Stadium macht, nennt Piaget: unangemessene Generalisierungen; den Egozentrismus des Kindes; Zentrierung; eingeschränkte Beweglichkeit; fehlendes Gleichgewicht.
Piaget nennt nun die animistische, finalistische und die artifizielle Denkweise des Kindes egozentrisch. Piaget verwendet den Begriff Egozentrismus vielfältig, so z.B. zur Bezeichnung der Unfähigkeit, sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen, den Blickwinkel eines anderen einzunehmen oder die eigene aktuelle Sichtweise als eine unter mehreren Möglichkeiten zu begreifen. Ein Kind dieses Alters zweifelt noch nicht daran, ob der Gesprächspartner verstanden hat, was es sagt, es fragt nicht nach. Das Kind weiss noch nicht, dass der andere die Dinge vielleicht nicht so versteht und sieht, wie es selbst. Es fühlt sich deshalb auch nicht dazu veranlasst, seine Ansichten zu rechtfertigen oder zu begründen. Durch die Entwicklung von Kompetenzen zur Perspektiven- und Rollenübernahme wird dieser kommunikative Egozentrismus allmählich überwunden. Mit der Zeit gelingt es dem Kind, die Perspektive anderer zu erkennen und sich in seinem eigenen Handeln und Sprechen auf die Verständnismöglichkeiten des Gegenübers einzustellen. So gelingt Kommunikation unter Berücksichtigung der Verständnismöglichkeiten unterschiedlicher Partner.
Klassen- und Kategorienbildung
Die Mannigfaltigkeit der Welt ist in verschiedene Kategorien einteilbar. Diese Fähigkeit stellt für uns Menschen eine wichtige kognitive Leistung dar, da es das Verstehen der Welt und die Kommunikation wesentlich erleichtert. Es bestehen unterschiedliche Prinzipien der Ordnung. Kinder ordnen die Welt zunächst nach thematischen Kriterien. Kinder ordnen die Welt zunächst nach Basiskategorien. Basiskategorien werden zur Vereinfachung der Welt gebildet, in dem Elemente die sich gleichen, einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden.
Objektpermanenz
Versuch
Das Problem der Klasseninklusion wurde untersucht, indem man Kindern ein Bild mit drei Rosen und acht Tulpen gezeigt hat. Nun wurden die Kinder gefragt, ob auf dem Bild mehr Blumen oder mehr Tulpen zu sehen seien. Die Kinder geben in diesem Stadium ihrer Entwicklung an, dass da auf dem Bild mehr Tulpen zu sehen seien. Die Begründung des Kindes für diese Antwort ist, es habe weniger Rosen auf dem Bild. Oft geben die kleinen ProbandInnen auch an, es gebe mehr Tulpen, weil es weniger Blumen gebe. Mit Blumen meinen die Kinder aber nun die Rosen. Das Wort "Blumen" ändert also seine ursprüngliche Bedeutung.
Die Schwierigkeiten für das Kind liegen nun darin, dass es noch kein System der Klassenverschachtelung aufgebaut hat, das ihm erlaubt, die Inklusionsbeziehung von Unter- und Oberklasse zu erfassen. Es ist zwar in der Lage, die Basiskategorie "Blumen" zu unterscheiden in "Rosen" und "Tulpen". Hat das Kind diese Differenzierung aber bewerkstelligt, ist es aktuell nicht fähig, sie geistig wieder rückgängig zu machen und sogleich die Tulpen wieder der Klasse der Blumen unterzuordnen. Wenn dann gleichzeitig nach "Tulpen" und "Blumen" gefragt wird, steht die Unterklasse "Tulpen" für die Bildung der Oberklasse "Blumen" nicht mehr zur Verfügung.
Da die Differenzierung der Oberklasse gelingt, wird dieses Denken als unidirektional bezeichnet. Es ist noch nicht reversibel, das heisst, der gleichzeitige Vollzug der Differenzierung der Oberklasse und deren Rückgängigmachung, die Abstraktion von dieser Differenzierung gelingt nicht. Die Unterklasse "Tulpe" ist, einmal gebildet, sozusagen fixiert und kann für den verlangten Vergleich nicht mehr in die Oberklasse integriert werden. Diese Leistung wird erst möglich, wenn das System der Verschachtelung von Klassen oder der Klassenhierarchie vorhanden ist, in der die nächsthöhere Oberklasse ihre Unterklassen umfasst. Piaget nennt solche Systeme "konkret-operatorische Strukturen".
Stufe des konkret-operativen Denkens
(7;0/8;0 - 11;0/12;0 Jahre) Die gedanklichen Operationen sind zwar weiterhin an anschaulich erfahrbare Inhalte gebunden, sie zeichnen sich jedoch durch eine größere Beweglichkeit aus. Verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder Vorgangs können gleichzeitig erfaßt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Terminus konkrete Operationen meint, dass das Kind nun in Gedanken mit konkreten Objekten bzw. ihren Vorstellungen operieren kann. Es kann Reihen aufstellen, erweitern, einteilen, unterscheiden. Das Denken besitzt bereits die Eigenschaft der Reversibilität (Umkehrbarkeit), d. h., die konkreten Operationen konnen gedanklich umgekehrt werden, so dass eine durchgeführte Operation wieder aufgehoben wird. Das kindliche Denken erreicht in dieser Struktur die erste Form eines stabilen Gleichgewichts. Das Kind beschränkt sich beim zielgerichteten konkreten Denken auf das, was faktisch und wirklich ist. Allerdings wird in diesem Alter die "Realität" auch schon oft den kognitiven Schemata untergeordnet bzw. letztere werden bewußt manipuliert (etwa in Phantasien oder Wunschvorstellungen).
Stufe des formalen Denkens
(ab 11;0/12;0 Jahren) Mit dem formalen Denken tritt nach Piaget eine Sinnesumkehrung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen ein. Das formale Denken ist grundsätzlich hypothetisch-deduktiv. Denkoperationen können auf dieser Stufe mit abstrakten, nicht mehr konkret vorstellbaren Inhalten durchgeführt werden. Dies entspricht der höchsten Form des logischen Denkens. Das Denken stützt sich jetzt vorwiegend auf verbale bzw. symbolische Elemente und nicht mehr auf Gegenstände. Die Reversibilität ist nun auch formal, d.h., abstrakt, gegeben. Das formale Denken besteht aus einem System von Operationen in zweiter Potenz, d. h., die Kinder können nun mit Operationen operieren, z. B. über ihr eigenes Denken, die Form ihrer Argumentation nachdenken. Nicht nur die inhaltliche Richtigkeit von Aussagen wird überprüft, sondern deren logische Form bzw. der "Wahrheitsgehalt" (Kritikfähigkeit).
siehe auch den
chemischen
Versuch!
Thesen
Schemata sind Ergebnisse von Versuchen, die Umwelt durch Akkommodation und Assimilation zu bewältigen.
Mittels der Funktionen Akkommodation und Assimilation werden während der Beschäftigung mit den Inhalten die kognitiven Strukturen (Schemata) ausgebildet. Paßt ein Schema gut auf einen neuen Inhalt, ist der Anteil der Assimilation an der Adaptation größer. Wenn sich ein Schema nicht auf einen neuen Gegenstand anwenden läßt, muß das Schema mittels Akkommodation an neue Gegebenheiten angepasst werden, der Anteil der Assimilation ist gering.
Die Stufen der kognitiven Entwicklung sind gekennzeichnet durch die Qualität der Schemata, die dem Individuum zur Bewältigung der Umwelt zur Verfügung stehen.
Auf der 1. Stufe sind dies sensu-motorische Schemata, auf der 2. werden diese sensu-motorischen Schemata verinnerlicht (interiorisiert), müssen also nicht mehr motorisch ausgeführt werden, sondern können auch im Geiste vollzogen werden (Abschreiten einer Hauswand). Sie sind aber noch immer an konkret vorgestellte Inhalte gebunden - daher der Name konkrete Stufe. Auf der 3. Stufe nun wird Unabhängigkeit von konkreten Inhalten, ja von Inhalten überhaupt erreicht: Zeichen stehen für abstrakte, formale geistige Operationen (z. B. 33=27).
Die Tendenz der Schemata zu assimilieren, wann immer sie können, hält die Entwicklung in Gang (Neugier).
Es liegt für Piaget in der Natur aller Schemata,
dass sie bestrebt sind, auf andere, neue Inhalte angewendet
zu werden. Dies findet ihren Ausdruck in den von Piaget
beschriebenen Kreisreaktionen. Die
primäre Kreisreaktion findet statt, wenn eine Handlung
(sprich ein Schema), die zu einem angenehmen Ergebnis
geführt hat, wiederholt wird (beispielsweise, wenn der
Säugling das Strampeln aufrecht erhält, um die am
Bett hängenden Glöckchen weiterhin klingeln zu
hören).
Eine sekundäre Kreisreaktion ist gegeben, wenn die
Handlung später bei gleicher Gelegenheit wiederholt
wird. Dadurch wird dieses Handlungsschema eingeübt.
Von tertiärer Kreisreaktion wird gesprochen, wenn das
aktivierte Schema spontan variiert wird, quasi "um zu sehen,
was dann passiert". So entdeckt das Kind - und auch noch der
Erwachsene - neue Möglichkeiten.
Die Herstellung eines Gleichgewichts (Äquilibration) ist eine Grundtendenz des Lebens und Motor der Entwicklung.
Wenn der Mensch ständig versucht, seine Handlungsschemata auf neue Gegenstände (Inhalte) anzuwenden, dann deshalb, um Angemessenheit und Ausgewogenheit zu erreichen. Denn der Zielzustand ist ein Gleichgewicht - z.B. zwischen Schema und Inhalt, aber auch zwischen Individuum und Welt, Oberschema und Unterschema u.s.w. Da der Mensch ohne dieses Gleichgewicht nicht leben kann, das gerade erst errungene Gleichgewicht aber durch immer neue Umweltgegebenheiten immer wieder in Frage gestellt wird, wird die Adaptation der Schemata und Strukturen immer wieder erneut angestoßen. Hierin sieht Piaget den Motor der menschlichen Entwicklung.
Keine kognitive Struktur ist endgültig: der Mensch konstruiert immer neue Schemata, differenziert alte und integriert sie zu neuen.
Die Strukturen sind nach Piaget also vorläufige Konzepte bzw. Bewältigungsversuche, deren Zweckmäßigkeit sich erst erweisen muß: ob man mit ihnen "mit der Welt zu Rande kommt". Daher kann es auch keine endgültige kognitive Struktur geben, auch wenn das Individuum die höchste Stufe der Intelligenzentwicklung bereits erreicht hat. Entwicklung findet also auch noch in fortgeschrittenem Lebensalter statt, auch wenn Piaget diese Lebensphasen nicht empirisch untersucht hat. Was nun für das einzelne Individuum gilt, gilt nun aber genauso für die Wissenschaft als solche. Auch hier werden ja Konzepte und Modelle entwickelt, die ihre Angemessenheit erst erweisen müssen, was allzu oft eben nicht der Fall ist. Es ist das Schicksal der menschlichen Erkenntnistätigkeit, beständig auf der Suche zu sein: Alle Erkenntnis ist relativ.
Einige häufige Mißverständnisse der Theorien Piagets
Wie kaum ein anderer, hat Hans Aebli versucht, Piagets Entwicklungspsychologie für didaktische Konzepte zu nutzen und eine sogenannte operative Methode zu konzipieren. Durch ihn wurde vor allem im deutschsprachigen Raum das Mißverständnis verbreitet, dass es sich bei Piagets kognitiver Entwicklungstheorie um ein direkt umsetzbares pädagogisches Konzept handelt.
Aber es ist auch ein Mißverständnis, wenn man Piaget ausschließlich als Entwicklungspsychologen versteht, der eine Reifungstheorie vertritt, die ein für allemal festlegt, wie das Aufwachsen des Kindes vor sich geht. Piagets Anliegen ist immer Erkenntnistheorie (Epistemologie) gewesen und seine genetische Entwicklungspsychologie steht allein in deren Diensten bzw. hat sich daraus ergeben. Piaget ist also mehr Wissenschaftstheoretiker als Psychologe und was er vorgelegt hat, ist der Versuch einer Antwort auf die Frage, wie Menschen zu höherer, theoretischer, wissenschaftlicher Erkenntnis kommen. Piaget entwarf theoretische Modelle der kognitiven Entwicklung und wollte sie durch empirische Tatsachen stützen. Seine empirische Forschung hatte daher nie die Aufgabe, die kognitive Entwicklung allein zu untersuchen, sondern ist stets erkenntnistheoretisch motiviert, also konstruktiv und deduktiv. Piagets Bedeutung für die Pädagogik liegt also nicht in seiner konkreten Entwicklungspsychologie, sondern in dem Aufweis des Zusammenhanges von Handeln und individueller Genese.
Es ist das Verdienst Piagets, darauf hingewiesen zu haben, dass im Laufe der menschlichen Entwicklung die Wirklichkeit durch unterschiedliche Schemata geordnet wird. Er ging aber davon aus, dass sich einzelne Begriffe, etwa der Begriff der Mengenkonstanz, isoliert untersuchen lassen. So kam er zu dem Ergebnis, dass sich die Intelligenz streng hierarchisch in Stufen entwickelt. Verzichtet man bei solchen Aufgaben aber auf die willkürliche Isolation einzelner Fähigkeiten, dann ergibt sich ein etwas anderes Bild von der Dynamik der Intelligenz. Zur Bewältigung einer alltäglichen Situation werden immer verschiedene Fähigkeiten gleichzeitig gefordert und schon kleine Kinder kombinieren mehrere Elemente einer Beobachtung miteinander, d.h., sie können also durchaus operativ verfahren. Sie gewichten allerdings die verschiedenen Informationen anders und verknüpfen sie nach anderen Regeln als Erwachsene
Man sollte sich also von der Vorstellung lösen, dass ein Individuum die Fähigkeiten eines einmal erworbenen Denkniveaus konsequent und in allen Situationen und Problemen anwendet. Jedes individuelle kognitive System (Schema) ist mehr oder minder beschränkt auf die Situationen, in denen es erlernt wurde und auf die Elemente und ihre Beziehungen, die es strukturiert. Besonders formale Denkoperationen entstehen bei jedem Individuum in seiner Auseinandersetzung mit spezifischen Problemen, sind also die Konsequenz seiner einmaligen und individuellen Lebensgeschichte. Die Aktualisierung unterschiedlich differenzierter und integrierter Struktursysteme hängt selbst wieder mit der Bereichsspezifität der einzelnen Systeme und ihrer Bindung an spezifische, situative und motivationale Faktoren und Bedingungen zusammen.
Bekanntlich hat sich Piaget wenig für die Veränderungen der Schemata der Intelligenz bei Erwachsenen interessiert. Die Entwicklung der Intelligenz vollzieht sich eher nicht in streng hierarchisch aufeinanderfolgenden Stufen, sondern durch eine kontinuierliche Ausweitung und Verzahnung mit anderen Fähigkeiten. In den meisten Situationen sind sensomotorische, kognitive und soziale Intelligenz, Gefühle, Werte und Ziele gleichzeitig gefordert. Piaget hat immer wieder deutlich gemacht, dass die kognitive Entwicklung ohne den Einfluß der sozialen Interaktion nicht verständlich ist. Ohne soziale Beziehungen würde das Individuum die verschiedenen Formen seines Egozentrismus nicht überwinden können. Trotzdem kann nicht übersehen werden, dass Piaget die konkrete Analyse sozialer Einflüsse vernachlässigt hat. Damit hat er dem Mißverständnis, seine Theorie sei eine Reifungstheorie, Vorschub geleistet.
Piaget hat die Meinung vertreten, dass die physische wie die soziale Umwelt immer nur Anlaß für Entwicklung sein können, nie deren Ursache. Die Bedeutung der sozialen Umwelt für die kognitive Entwicklung liegt genau darin, dass sie dem Individuum ein Ziel vorgibt und einen Rahmen schafft, innerhalb dessen es dieses Ziel erreichen kann. Das Ziel ist das naturwissenschaftliche Denken, der Rahmen sind die pädagogischen Stützsysteme, die dem Individuum helfen, sich auf das Ziel hin zu bewegen.
In Piagets Darstellung wird der Mensch vor allem als einseitiges kognitives Erkenntnissubjekt gesehen, das in den Interaktionen seine kognitiven Strukturen entwickelt. Es wird nicht wahrgenommen, dass Kinder von Anfang an in der Gestaltung gemeinsamer Lebenswirklichkeiten ihre eigenen Lebensformen gestalten und dass dabei Kognition nicht als eigene Struktur isolierbar ist, die von dem übrigen leiblichen Handeln und Sein abtrennbar wäre. Es kann danach nicht um eine mehr oder weniger normale Entwicklung von kognitiven oder anderen Fähigkeitsstrukturen gehen, sondern immer nur um Befähigungen für Lebenssituationen, in ihnen und um ihre Erweiterungen.
Piaget hat auch ein anderes Verständnis menschlicher Subjektivität, denn das Subjekt ist zu Beginn der Entwicklung nicht mehr als ein Zentrum des Funktionierens. Seine kognitiven Strukturen sind unlösbar mit und in den Tätigkeiten des Subjekts verknüpft. Er geht davon aus, dass ein neugeborener Mensch als leiblich-organismisches Subjekt beginnt und erst später durch Erfahrung und Entwicklung seine weiteren kognitiven Möglichkeiten gewinnt. Piaget kommt zu der Ansicht, dass jeder Mensch sein Leben selbst durch Aktivität verwirklichen muß, d.h., er konstruiert seine Erkenntnis durch sein Handeln und somit ist jede Erkenntnis subjektive Konstruktion.
Siehe dazu das Konstruktivistische Menschenmodell
Bruner (1966) entwickelte ebenfalls ein Modell der kognitiven Entwicklung und geht dabei von folgenden Prämissen aus:
- Das Verhalten des Kindes wird immer weniger von Außenreizen abhängig; im Zusammenhang mit dem Spracherwerb stellt ein innerer Vermittlungsprozeß die Beziehung zwischen Reiz und Reizantwortverhalten her.
- Voraussetzung der kognitiven Entwicklung ist ein inneres Speicherungs- und Informationsverarbeitungssystem; die Welt wird in einem Symbolsystem repräsentiert, das über unmittelbare Sinneseindrücke und Erfahrungen hinausgeht.
- Die sich entwickelnde Fähigkeit zur Selbstbewußtheit beruht auf der Fähigkeit, vergangene und zukünftige Aktionen zu beschreiben.
- Für die kognitive Entwicklung sind systematische Interaktionen zwischen einem Betreuer und dem Lernenden notwendig.
Bruners Theorie der kognitiven Entwicklung
Sprache ist nach Bruner der Schlüssel zur kognitiven Entwicklung, da sie eine Vermittlung zwischen den verschiedenen Ereignissen der Welt herstellen kann. Mit zunehmender kognitiver Entwicklung kann man mit mehreren Alternativen simultan umgehen, gleichzeitig mehrere Handlungen durchführen und die Aufmerksamkeit nacheinander verschiedenen Situationen widmen.
Die Entwicklung erfolgt nach Bruner in drei Stufen, wobei mit zunehmenden Alter und mit zunehmender Erfahrung das symbolische System die Vorherrschaft gewinnt, die anderen Systeme aber weiterhin verwendet werden:
- Enaktive Stufe (Das Kind begreift seine Umwelt über den handelnden Umgang mit ihr);
- Ikonische Stufe (Bildhafte Vorstellungen sind der Informationsträger; das Kind ist Gefangener seiner Wahrnehmungen) und
- Symbolische Stufe (Symbolsysteme ersetzen das Handeln ohne Denken und das an die Wahrnehmung gebundene Verständnis; Sprache, Logik und Mathematik spielen nun eine Rolle).
Kleiner Exkurs:
Implikationen der Theorien Piagets und Bruners für den
Unterricht
- Kinder sind, was ihre Denkprozesse betrifft, nicht nur kleine Erwachsene; deshalb ist vom Lehrer intellektuelle Einfühlung gefordert.
- Kinder lernen (besonders in der Vor- und Grundschule) besonders gut, wenn sie mit konkreten Objekten, Materialien und Phänomenen umgehen. Entdeckendes Lernen ist erfolgsversprechend.
- Der Unterricht sollte mit einem Stadium des "Herumprobierens" beginnen, so dass sich enaktive Repräsentationen bilden können. Dann sollte die Wahrnehmungsgenauigkeit (Einsatz von AV-Medien) gefördert werden, so dass eine ikonische Repräsentation gebildet wird. Dann kann die verbale Stufe, die eine symbolische Repräsentation bewirken soll, eingesetzt werden.
- Neue Erfahrungen sollten so dargestellt werden, dass sie bis zu einem gewissen Grad in das eingeordnet werden können, das die Kinder schon kennen.
- Die Kinder sollten die Geschwindigkeit, in der sie lernen, selbst bestimmen können (selbstständiges Strukturieren des Wissens; individualisierter Unterricht).
- Die Interaktion mit anderen Menschen ist nicht nur affektiv, sondern auch kognitiv wichtig; soziale Interaktionen zwingen dazu, sich mit den Standpunkten anderer Menschen auseinander zu setzen.
- Aufgaben, wie sie Piaget verwendete, können dazu eingesetzt werden, die kognitiven Strategien der Kinder zu erkennen. Insbesondere, wenn sie Fehler machen, lassen sich wertvolle Informationen gewinnen.
Das Kind - ein kleiner Wissenschaftler?
Die Forschungen zur kognitiven Entwicklung legen die Ansicht nahe, "dass unser Wissen von der Welt auf einem konstruierten Modell der Wirklichkeit beruht". Nach dieser Auffassung entwickelt der Mensch aus den Interaktionen mit der Umwelt Vorstellungen über die Welt, die er mit den nachfolgenden Erfahrungen immer wieder abstimmen muß. Lernen besteht demnach nicht in der Anhäufung irgendwelcher Informationen, sondern in der Einverleibung von Informationen in das vorhandene Wirklichkeitsmodell (Assimilation) oder der Anpassung des Modells an eventuell widersprechende Informationen (Akkommodation).
Mit anderen Worten: Lernen ist zunächst und vor allem ein selbst organisierter Prozeß, bei dem Wissen interaktiv in Form innerer Repräsentationen der Welt gebildet wird. Tatsächlich ist in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen worden, dass Kinder sich schon frühzeitig "Theorien" über die Welt bilden. "Im Alter von fünf oder sechs Jahren haben die Kinder einen robusten Sinn für drei überlappende Bereiche ausgebildet. In der Welt der physikalischen Objekte haben sie sich eine Theorie der Materie zurechtgebastelt; in der Welt der lebenden Organismen haben sie eine Theorie des Lebens entwickelt; und in der Welt der Menschen haben sie eine Theorie des Denkens entworfen, in der eine Theorie des Selbst enthalten ist."
Das Bild vom Kind als kleinem Forscher, der seine Theorien durch verschiedenste Aktionen testet, liegt da natürlich nahe. Dieses Bild ist jedoch in zweierlei Hinsicht schief:
- Zum einen sind Kinder keine distanzierten Forscher. Die zunächst rätselhafte Umwelt zu begreifen ist für sie lebensnotwendig, so dass sie sich mit ihrer ganzen Person einsetzen und selbst schmerzhafte Erfahrungen riskieren.
- Zum andern stimmt das Bild insofern nicht, als Begriffe wie "Forscher" und "Theorie" bewußte und reflektierte Vorgänge nahelegen, die intuitiven Theorien des Kindes aber in der Regel sprachlich nicht verfügbar sind.
Ein Ergebnis der Forschungen der frühen Kindheit ist gerade, dass die "Repräsentationen" beim Menschen von bewußten Ansichten über intuitive Verständnisse bis zu Verkörperungen des Wissens in Handlungskompetenzen reichen können. Gerade auf Grund ihrer unreflektierten Selbstverständlichkeit sind die intuitiven "Theorien" der frühen Jahre teilweise so robust, dass sie selbst beim späteren Erwachsenen durch widersprechende wissenschaftliche Erkenntnisse kaum erschüttert werden können.
Zusammengefaßt nach:
Piaget, J. (1980). Psychologie der Intelligenz. Stuttgart:
Klett-Cotta.
Weitere Quellen:
http://www.stud.uni-wuppertal.de/~ya0023/hotlist.htm (98-09-23)
http://bidok.uibk.ac.at/bhp/bhp2-98-piaget.html (99-09-21)
http://www.hausarbeiten.de/archiv/psychologie/psycho-piaget2.shtml
(01-02-28)
http://www.dji.de/6_leblern/projektheft2.pdf (00-10-08)
Gage, N.L. & Berliner, D.C. (1986). Einführung in die
Pädagogische Psychologie. Weinheim und München:
Psychologische Verlags Union, Beltz.
Catenhusen, Markus (2000). Die kognitive Entwicklung nach Piaget.
Glasersfeld, Ernst von (1987). Wissen, Sprache und Wirklichkeit.
Braunschweig: Vieweg
Bild:
http://www.knill.com/Salmenfee/Piaget/piaget.jpg
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