Modellvorstellungen für die Erklärung von Entwicklung
Die Entwicklungspsychologie hat zu erklären, warum es zu Veränderungen kommt, warum es zu Stabilitäten kommt, und warum es diesbezüglich inter- und intraindividuelle Unterschiede gibt. Die Bedingungen können intern (in der Natur der Spezies Mensch, in den individuellen Anlagen, in der Person) liegen, sie können extern (in der physischen, sozialen oder sozial gestalteten Umwelt) sein. Interne und externe Bedingungen können additiv wirken oder interagieren.
Betrachtungsmöglichkeiten von EntwicklungModellvorstellungen
- Erbanlagen und Entwicklungsumwelt
- Enwicklung als Reifung
- Reifestand
- Sensible Periode
- Modell der sukzessiven Konstruktion
- Entwicklung als Erziehung und Sozialisation
- Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, Probleme und Krisen
- Neuere Ansätze in der Entwicklungspsychologie
- Werner Stangl: Anlage und Umwelt in der kindlichen Entwicklung. Versuch über die Veränderung der psychologischen Perspektive
Vorwissenschaftliche Auffassungen zu Lebensphasen und Periodisierungen des Lebenslaufs
Schon seit langer Zeit wurde versucht, das menschliche Leben in abgrenzbare Abschnitte zu unterteilen, wobei neben dem chronologischen Alter auch psychische Merkmale und soziologische Kriterien herangezogen wurden.
- Plato: Jugend, mittleres Lebensalter, Alter
- Aristoteles: Jugend, mittleres Lebensalter, Alter
- Cicero: Kindheit: Kraftlosigkeit, Jugend: Ausschweifung, mittleres Lebensalter: Ernst und Beständigkeit, Greisenalter: Weisheit.
- Hippokrates: Kindheit: Frühling, Jugend: Sommer, mittleres Lebensalter: Herbst, Greisenalter: Winter.
- Solon: Sieben-Jahres-Zyklus
- Ptolemaeus: sieben Lebensalter = sieben Planeten.
- Shakespeare: sieben Stadien
Erbanlagen und Entwicklungsumwelt
Es gibt keine Entwicklung ohne Erbanlagen, deren Gesamtheit als Genotyp bezeichnet wird. Erbanlagen brauchen für ihre Entwicklung eine geeignete Umwelt, von der Befruchtung an in allen Lebensperioden. Bis in unsere Tage entbrennen aber heftige Kontroversen über die Frage, ob den individuellen Erbanlagen oder den individuell erfahrenen Umwelteinflüssen mehr Gewicht bei der Entwicklung des Erscheinungsbildes (des Phantoms) mit Fähigkeiten, Motivationen, psychologischen Merkmalen und Störungen zukomme. Die Heftigkeit der Kontroversen ist insofern verständlich, als sich erhebliche praktische Konsequenzen aus der Beantwortung dieser Fragen ergeben. Würde die Vererbung die Entwicklung determinieren, könnte man nur über eugenische Maßnahmen Einfluß nehmen; wäre die Umwelt ein wesentlicher Entwicklungsfaktor, wären Bildungs-, Familien-, Wirtschafts- oder sozialpolitische Maßnahmen möglich. Voreingenommene Meinungen sind ebenso verbreitet wie unsinnig: Empirische Forschung sollte Antworten auf die anstehenden Fragen geben. Die Fragen müssen allerdings präzise formuliert werden, und es bedarf sorgfältigen Nachdenkens, wie die Forschung anzulegen ist, die gültige Antworten erlaubt.
Wenn Anlagen und Umwelt bei der Entwicklung psychologischer Merkmale immer zusammenwirken, ist es dann nicht unsinnig, nach dem Gewicht von Anlagen und Umwelt zu fragen? So kann die Frage in der Tat nicht sinnvoll gestellt und nicht beantwortet werden. Folgende Frage kann allerdings gestellt werden: Welche interindividuellen Unterschiede (1) im Genotyp und (2) in der Entwicklungsumwelt sind bei der Herausbildung phänotypischer Unterschiede wie bedeutsam? Die methodischen Vorfragen liegen auf der Hand: Wie erfaßt man Unterschiede im Genotyp und wie erfaßt man Unterschiede in der Entwicklungsumwelt, um herauszufinden, ob diese Unterschiede bei der Herausbildung von Fähigkeiten, Motivationen, psychologischen Merkmalen und Störungen eine Rolle spielen. Bezogen auf die genotypischen Unterschiede ist die Genetik und die Verhaltensgenetik gefragt, bezogen auf die Entwicklungsumwelt ein ganzes Spektrum von Wissenschaften, nämlich alle Verhaltens-, Sozial- und Kultur- und Ökowissenschaften.
Die Frage nach dem relativen Gewicht von Anlage- und Umwelteinflüssen oder über das Zusammenwirken von beiden ist spezifisch für einzelne Erwerbungen oder Entwicklungsdimensionen zu beantworten. Man kann nicht von einem psychologischen Merkmal, einer Fähigkeit, Motivation oder Störung auf andere generalisieren. Es gibt z.B. Störungen und Erkrankungen, für die es genetische Dispositionen gibt, die sich in einem sehr weiten Spektrum von Entwicklungsumgebungen, wenn nicht gar universell auswirken. Es gibt andere, in denen die Risiken einer genetischen Disposition durch günstige Entwicklungskontexte ausgeglichen werden können.
Anne Anastasi warnte in einem damals viel beachteten Aufsatz davor, in der Debatte über Anlage- und Umwelteinflüsse die falschen Fragen zu stellen. Sie betont, dass es viele Wege des Zusammenwirkens von Anlagen und Umwelten gibt und dass es sinnvoller sei, diese Wege zu erkunden als nach Einflußanteilen zu fragen. Nur einige wenige unterschiedliche Formen des Zusammenwirkens seien zur Illustration dieses Suchansatzes genannt. Die Umwelt kann fördernd, behindernd, kompensierend auf den anlage geprägten Menschen wirken. Dollase spricht in diesem Zusammenhang von Koaktionen. Die Anlage zum Übergewicht kann durch Nahrungsangebot und -gewohnheiten zu voller Entfaltung kommen oder aber kompensiert werden. Intellektuelle Hochbegabung kann behindert werden in einer restriktiven, anregungsarmen Umwelt oder angemessen gefördert werden. Einige Auswirkungen von Anlagen werden erst durch die Bewertung, die die Umwelt vornimmt, produziert: Das Schönheitsideal ist kulturell geprägt, die normativen Bewertungen entscheiden über Selbstwert und Lebenschancen. Nicht selten wurden körperlichen Merkmalen Charakterzüge zugeordnet, was sich im Sinne von Etikettierungseffekten auf die zukünftige Entwicklung auswirkt. Es gibt Anlagefaktoren für psychopathologische Entwicklungen (z.B. Schizophrenie): Ob es tatsächlich zu pathologischen Entwicklungen kommt, hängt von der Umwelt ab. Die Koaktionen zwischen Anlage und Umwelt sind sicher vielfältig; Aufgabe entwicklungspsychologischer Forschung ist es, die Art des Zusammenwirkens zu erkunden. Die Realisierung dieses Forschungsprogrammes steht erst am Anfang.
Reifung siehe dazu: Abgrenzung Lernen - Reifung - Prägung
Reifung wurde in der Entwicklungspsychologie sozusagen negativ definiert: nämlich als jener Prozeß, der anzunehmen ist, wenn Erwerbungen nicht auf Erfahrung, Übung, Erziehung, Sozialisation oder gedankliche Erkenntnisgewinnung zurückgeführt werden können. Aus dieser negativen Definition ergeben sich Methoden des "Nachweises" von Reifung. Wenn Erfahrungs-, Übung-, Lernmöglichkeiten ausgeschaltet sind und trotzdem keine deutliche Verzögerung im Erwerb eines Merkmals eintritt, greifen wir auf das Erklärungskonstrukt "Reifung" zurück, ohne dass damit schon geklärt wäre, was diese Reifungsprozesse im einzelnen sind, wie sie gesteuert werden und welche Minimalopportunitäten durch die Umwelt gegeben sein müssen. dass Reifungsprozesse kontextbezogen sind, wurde dabei vernachlässigt. Die organismischen biophysiologischen Kontextbedingungen (deren Manipulation auch planmäßige Verzögerungen und Beschleunigungen der Entwicklung ermöglichen) sind nicht Forschungsgegenstand der Psychologie, die externen Kontextbedingungen sind es wohl.
Eine experimentelle Ausschaltung von Erfahrungsmöglichkeiten ist im Tierversuch häufig realisiert worden, beim Menschen gibt es wohl verstandene ethische Schranken. Erkenntnisse müssen aus Experimenten des Lebens gewonnen werden, in denen eine Einschränkung von Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten durch widrige Umstände gegeben war. Diesbezüglich wäre der glaubwürdigen Beobachtung sogenannter Wolfskinder, die ohne menschliche Kontakte aufwuchsen, und Fällen extremer Deprivation eine besondere Bedeutung zuzuschreiben.
Außerdem liegen viele verwertbare Berichte über Extremvarianten kultureller Erziehungs- und Entwicklungsbedingungen vor, die hinsichtlich ihrer Auswirkungen beurteilt werden können. So sind Kulturen beschrieben worden, in denen die Säuglinge in ihren ersten Lebensmonaten in ihrer Bewegungsfreiheit durch Binden stark eingeschränkt waren (was für die Hopi-Indianer galt). Wenn sich bei diesen Kindern kein deutlicher Entwicklungsrückstand in der Entwicklung der Motorik ergab, hat man dies als Beweis gewertet, dass diese motorischen Funktionen auf Reifung beruhen. Tatsächlich hat man Retardierungen der motorischen Entwicklung beobachtet, die aber sehr rasch behoben waren, wenn man Bewegungsfreiheit gewährte.
Spezifische Erfahrungsdeprivationen sind in vielerlei Konstellationen gegeben. Taub Geborene hören keine Sprache: Sind dadurch Retardierungen der Sprachentwicklung und der geistigen Entwicklung gegeben? Welche Auswirkungen der geistigen Entwicklung haben Blindheit, motorische Beeinträchtigungen durch Lähmungen oder Gliedmaßenverstümmelung (Contergan-Kinder)? Durch welche Maßnahmen sind sie zu kompensieren? Welche Effekte haben Ausfall der Schuldbildung, soziale Isolation wie Haft oder Leben mit einer autistischen oder schizophrenen Mutter? Spielt die Dauer der Deprivation eine Rolle und die Lebensperiode, in der sie gegeben ist? Die Auswirkungen sind jeweils hinsichtlich ihres Ausmaßes und ihrer Reversibilität, ihrer aktuellen und langfristigen Effekte zu beurteilen.
Reifestand
Die Konzepte Reifestand (oder: "readiness for learning") und sensible Periode (gelegentlich auch kritische Periode genannt) haben in der Geschichte der Entwicklungspsychologie eine gewisse Prominenz erlangt. Sie beinhalten, dass ein bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit Erfahrungen auf fruchtbaren Boden fallen oder damit effizient geübt werden kann.
Jede Mutter kann die Beobachtung machen, dass - zur rechten Zeit begonnen - mit wenig Aufwand dem Kind die Kontrolle über die Blasenentleerung oder selbständiges Gehen oder Fahrradfahren beigebracht werden kann. Versucht man das "zu früh", ist es mühsam, langwierig und vielfach zum Scheitern verurteilt. Ähnliches kennen wir aus der sprachlichen oder zeichnerischen Entwicklung oder der Genese grundlegender logischer Operationen. Die Voraussetzungen für den Erwerb scheinen erst mit einem bestimmten Entwicklungs- oder Reifestand gegeben.
In vielen Phasenlehren wurde ungeprüft angenommen, dass solche Erwerbsvoraussetzungen nach einem inneren Bauplan heranreifen und nicht etwa durch Unterricht und Erziehung vermittelt werden können. Dies hatte nicht selten eine pädagogische Passivität zur Folge: Man wartete ab, bis der Reifestand erreicht ist, der erfolgreiches Lernen gewährleistet. Sieht man hingegen das Defizit (etwa bei einem Kind die fehlende Schulreife) durch fehlende Erfahrungen und Lernmöglichkeiten bedingt, wird man versuchen, die Lücken zu schließen und die (z.B. für die Bewältigung der Anforderungen des ersten Schuljahres) nötigen kognitiven und sozialen Voraussetzungen zu vermitteln.
Die traditionellen Phasenlehren schrieben der Umwelt nur die Aufgabe zu, die Genese der Kompetenzen und Motive entsprechend zu unterstützen, also "altersgemäße" Anforderungen und Angebote zu realisieren, sie warnten zugleich vor einer "Verfrühung" oder Überforderung.
Dabei wurde eine wissenschaftliche Untersuchung der Entwicklungsbedingungen gar nicht erst versucht. Altersgebundene Leistungen wurden deshalb als "natürlich" interpretiert, obwohl sie in Wirklichkeit vielleicht Folge ungeprüfter, verbreiteter Überzeugungen sind. Ist in einer Kultur die Meinung verbreitet, eine Leistung wie das Lesen sei nicht vor dem sechsten Lebensjahr möglich, so werden Anforderungen und Anregungen darauf abgestellt, und das geistig normale Kind dieser Kultur wird nicht früher und auch nicht später lesen lernen (dürfen). Erst Beobachtungen Fowlers und seiner Nachfolger zeigten, dass bereits 3- und 4jährige bei geeigneten Methoden durchaus in der Lage sind, lesen zu lernen. Im frühen 19. Jahrhundert kannte man die Festlegung der Schulreife auf das sechste Lebensjahr noch nicht, weshalb man auch jüngeren Kindern das Lesen und Schreiben beibrachte. Erst im Zuge der entwicklungspsychologischen "Erkenntnis" eines "Alters der Schulreife" wurden die Lernangebote so selegiert, dass Kinder tatsächlich erst mit sechs Jahren Lesen und Schreiben lernten.
Auch der häufig beobachtete Abfall der Gedächtnisleistung in höherem Alter muss nicht durch "Altern" bedingt sein. Die in der Regel geringeren Leistungen älterer Menschen in Gedächtnistests lassen sich nicht nur durch eine Reduktion der Speicherkapazität des Gehirns erklären, sondern auch durch wenig effiziente Nutzung von Gedächtnisstrategien. Dieses wiederum ist aus der Tatsache erklärlich, dass Einprägen neuer Inhalte normalerweise in höherem Alter nicht mehr so häufig verlangt wird. Eine solche "Disuse-Hypothese" (Leistungsschwäche wegen mangelnder Übung) lässt die Erwartung zu, dass der beobachtete Leistungsabfall bei jenen Personengruppen, die bis ins höhere Alter entsprechenden Anforderungen genügen müssen, nicht auftritt, wofür es auch empirische Belege gibt. Inzwischen ist nachgewiesen, dass es zwar einen Kapazitätsabbau im Alter gibt, dass aber gesunde alte Menschen über ausreichend Reservekapazitäten verfügen, um ihre Gedächtnisleistungen bei geeignetem Training erheblich zu steigern. Wenn man dies weiß, kann man präventiv und korrektiv handeln.
Sensible Perioden
Das Konzept der sensiblen Periode stammt ursprünglich aus der Embryologie und bezeichnet dort Entwicklungsabschnitte, in denen bestimmte Organe ausgebildet werden: Zellsysteme erlangen hier ihre definitive Struktur. Treffen pathogene Einflüsse (Erkrankungen oder Unterernährung der Mutter, energiereiche Strahlen, Gifte usw.) auf den Organismus, sind Schädigungen insbesondere jener Organe zu erwarten, die gerade in der Entstehung begriffen sind. Konrad Lorenz definierte Prägung als ein verhaltensmäßiges Analogon. Sein klassisches Beispiel sind die Graugänse, die in einer bestimmten Entwicklungsphase auf die Muttergans oder in deren Abwesenheit auf ein anderes sich bewegendes Surrogat, etwa den Menschen, geprägt werden und diesem nachfolgen.
In der Entwicklungspsychologie werden sensible Perioden allgemeiner als Entwicklungsabschnitte definiert, in denen - im Vergleich zu vorangehenden oder nachfolgenden Perioden - spezifische Erfahrungen maximale positive oder negative Wirkungen haben. Es handelt sich also um Perioden erhöhter Plastizität unter dem Einfluß von Bedingungen, die nach Art, Intensität, Dauer, weiteren interagierenden und moderierenden personalen und kontextuellen Bedingungen zu spezifizieren sind. Der empirische Nachweis der Existenz einer sensiblen Periode setzt voraus,
- dass potentielle Einflußfaktoren gemessen werden können,
- dass diese Faktoren an unterschiedlichen vergleichbaren Untersuchungsgruppen entweder vor, während oder nach Abschluß der mutmaßlichen sensiblen Periode in vergleichbaren Ausprägungsgraden realisiert sind,
- dass ihre Wirkungen objektiv erfaßt,
- dass diese Wirkungen langfristig beobachtet werden und
- dass die Schwierigkeit oder Unwirksamkeit von Änderungsversuchen nachgewiesen wird.
Experimentell wäre der Nachweis methodisch leicht zu führen, ist aber ethisch kaum zu rechtfertigen. Bei Daten aus deskriptiven Studien und Quasi-Experimenten ist der Nachweis schwierig und nur mit Unsicherheiten zu führen.
Frühkindliche Verletzlichkeit
In der Theorie der Ätiologie psychopathologischer Störungen findet sich immer wieder die Annahme einer besonderen Verletzlichkeit während der frühen Kindheit und der dauerhaften Nachwirkungen von Verletzungen und Deprivation in dieser Periode. Die Thesen von Spitz und Bowlby über die Gefährdung der Sozial- und Persönlichkeitsentwicklung durch Hospitalisierung und Trennung von der Mutter seien stellvertretend für viele entsprechende Überzeugungen genannt. Die empirische Basis für die Annahme sensibler Perioden ist in vielen Bereichen unsicher. Wenn es empirische Hinweise gibt, bedürfen diese einer Erklärung.
Bowlby & Ainsworth haben die Bindungsentwicklung in den ersten Jahren nach der Geburt untersucht, wobei das Fürsorgeverhalten der Mutter zum sogenannten "Bonding" führt. "Bindung" bedeutet dabei, dass das Kind sich etwas "sagen lässt". Sie unterscheiden verschiedene Phasen der Bindung:
- Vorphase: Kind ist von jedem ansprechbar, hier tritt auch das soziale Lächeln auf.
- Personenunterscheidende Ansprechbarkeit: ab ca. 3 Monate; Kind aktiviert verschiedene Signale; z.B. Beziehung des Kindes zum Vater (eher wilde Spiele)
- Eigentliche Bindung: etwa ab 7 Monate; wenn die Fremdenangst ausgebrochen ist. Jetzt tut das Kind aktiv etwas, um bei der Beziehungsperson zu bleiben, es vermißt die Person, wenn sie nicht da ist
- Trennungsangst: diese ist mit ca. 2;5 bis 3 Jahren verschwunden. Das Kind will bei der Mutter bleiben. Auch wenn die Eltern beschäftigt sind, haben die Kinder das Bedürfnis, bei den Eltern zu sein.
- Zielkonvergierte Partnerschaft: ca. 2;5 bis 3 Jahre. Kinder finden heraus, wie sie auf Personen einwirken müssen. Sie suchen sich eine Vertrauensperson aus und sind in der Lage, etwas zu tun, damit sie bei dieser Person „ankommen"; das Kind soll in seinem Verhalten auch Auswirkungen spüren; erlebt es ein solche Auswirkung nicht, dann wird sein späteres Verhalten geschädigt
- Erkundungssystem: das Kind erkundet und holt sich immer wieder Sicherheit bei der Mutter. Z.B. hat die Mutter Kind auf dem Arm, das Kind betrachtet eine fremde Person; die fremde Person betrachtet das Kind, lächelt es an, das Kind reagiert nicht mit Fremdenangst, aber: typische Bewegung: das Kind kuschelt sich an die Mutter und versteckt sich, nach einer gewissen Zeit kommt es wieder hervor.
In Längsschnittstudien wurden verschiedene Bindungstypen gefunden:
- B-Kinder: gutes Erkundungsverhalten, sie
suchen/wahren bei/nach Belastung den Kontakt und die Nähe der Mutter;
gutes Sozialverhalten; neugierig und selbstbewußt. Dieses Verhalten ist
stabil. Alleingelassen, zeigen sie zunächst keine Anzeichen von Kummer;
zeigen sie Kummer, dann zeigen sie deutlich, dass sie die Mutter
vermissen, auch ein Fremder kann sie dann nicht trösten; kehrt die
Mutter zurück, wird sie stürmisch begrüßt und rückt in den Mittelpunkt
des Interesses; von der Mutter in den Arm genommen, wehren sie sich
nicht, sondern entspannen sich
Es ist ein sicheres Zeichen für eine sichere Mutter - Kind - Beziehung. Dieser Bindungstyp ist der ideale für eine spätere Entwicklung. - A-Kinder - vermeidender Typ: zeigen problematisches Verhalten; furchtsam; ängstlich; sehr negative Mutter - Kind - Beziehung; Kinder haben bereits in der unsicheren Bindung resigniert. Alleingelassen zeigen diese Kinder kaum Kummer über das Weggehen der Mutter, sind höchstens beunruhigt, wegen des Alleinseins, bei Rückkehr der Mutter wird diese ignoriert oder nur beiläufig gegrüßt, Nähe wird manchmal gemieden, neutrales Verhalten bei "in den Arm nehmen".
- C-Kinder - ambivalenter Typ: "verstrickte" Kinder - Mutter und Kind gehen sehr ambivalent miteinander um. Uneinheitliches Verhalten zu Menschen und Umwelt. Negative Gefühle und Aggression, sind sich in der Bindung zur Mutter unsicher, haben zwar nicht resigniert, aber sie sind böse auf die Mutter. Alleinegelassen geben sie ihrem Kummer deutlich und lautstark Ausdruck, bei Rückkehr der Mutter ambivalentes Verhalten: einerseits Kontaktsuche, andererseits aber auch Widerstand, bei 2.Rückkehr steigert sich der Widerstand.
- D-Kinder - desorientierter, desorganisierter Typ: zeigen zusätzlich zu C-Kindern bizarres Verhalten (Grimassieren, Erstarren)
Das weltweite Vorkommen ähnlicher Märchenmotive (Hexen, Drachen, Höhlen, Zauberer, magische Fähigkeiten wie Fliegen, Verlust von Vertrautem, Rätselaufgaben, um erlöst zu werden etc.), die C. G. Jung noch als Teil eines "kollektiven Unterbewussten" gedeutet hat, kann die moderne Säuglingsforschung (Alison Gopnik, Daniel N. Stern, Martin Dornes et al.) exakter erklären. So sieht das Baby in den ersten Monaten nur im Bereich von zirka 20 bis 25 Zentimetern scharf, das übrige Blickfeld ist in ein rundes, unscharfes Hell-Dunkel getaucht - wie in einer Höhle mit Lichtreflexen. Wird ein noch nicht gehfähiger Säugling getragen, so hat er Reit- und Flugerlebnisse. Um den fünften Monat kommt es zu einer dramatischen Veränderung. Die Sehschärfe weitet sich, das Kind beginnt, auch entfernte Objekte und Details zu erkennen; insbesondere an seiner Mutter: deren Gesicht, Figur und Augen. Das Baby muss sich also von der bislang unscharfen und primär greifbaren "alten" Mutter trennen, um gleichsam seine "neue Mutter" zu entdecken.
Diese Trennung erzeugt Angstgefühle, ist auch ein Kampf. Überhaupt lebt das Baby in den ersten Monaten "wie in einer endlosen Zaubervorführung", so Alison Gopnik in ihrem Buch "Forschergeist in Windeln". Nach etwa 18 Monaten ist diese vorsprachliche, "magische" Phase abgeschlossen und versickert in den Kanälen unseres Unterbewusstseins, lebt aber in unseren Träumen fort, auch als Erinnerung an ein Land, in dem man fliegen konnte und wo Dinge von einem Ort zum anderen zu wirbeln schienen, wenn sie nicht gerade auf unerklärliche Weise verschwanden. Es bleibt aber auch die Erinnerung an einen Ort der Finsternis zurück, an die Angst vor der Dunkelheit, in der Kämpfe überstanden werden mussten. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres beginnt die Logik der: Sprache, auch die Ge- und Verbotswelt der Eltern, die Wahrnehmung des Kindes stärker zu bestimmen.
Ein anderes einleuchtendes Beispiel ist die Fixierung von Vorurteilen, etwa rassistischer Art. Vorurteile werden dadurch stabilisiert, dass man die Aufnahme widersprechender Informationen vermeidet und lediglich vorurteilskonsistente Argumente und Beobachtungen registriert. Wer z.B. in einer Phase unkritischer Identifikation mit Autoritäten deren Vorurteile übernimmt, mag künftig wegen seiner Vorurteile eine unvoreingenommene Informationsaufnahme vermeiden.
Diese selbststabilisierende Funktion kommt auch anderen Wahrnehmungs- und Interaktionsmustern zu. Wer in der Kindheit gelernt hat, seinen Mitmenschen mißtrauisch zu begegnen und das Risiko einer engen emotionalen Bindung an andere zu vermeiden, mag auch seine künftigen Sozialbeziehungen nach diesem Muster aufbauen. dass er mit dieser Haltung immer wieder abweisenden Reaktionen seiner Mitmenschen begegnen wird, wird für ihn kein Anlaß zum Umlernen sein, sondern eher eine Bestätigung seiner Grundhaltung bedeuten. Insofern ist es eine nicht unplausible Hypothese, dass Interaktionen mit den Bezugspersonen der frühen Kindheit zu sozialen Haltungen wie Vertrauen oder Mißtrauen führen, die sich durch ihre Wirkungen auf andere Menschen selbst stabilisieren.
Quelle: van der Let, Petrus (2001). Wieder zu Bestien werden. Die Presse 15.12., S. II.
Das Modell der sukzessiven Konstruktion
Stadienabfolgen müssen nicht auf Reifung zurückgeführt werden. Es gibt Alternativerklärungen. Die wichtigste ist die des sukzessiven Aufbaus. Die Kernannahme ist, dass jedes Stadium auf dem vorausgehenden aufbaut, dieses voraussetzt und selbst eine Voraussetzung für das nächsthöhere darstellt. Entwicklung ist nicht eine beliebige, sondern eine sachlich wie logisch geordnete Folge von Konstruktionsschritten. Strukturanalysen der empirisch beobachteten Entwicklungsabfolgen sollten die Notwendigkeit dieser Ordnung erhellen.
Einleuchtend ist ein solcher Prozeß beim Erwerb aufeinander aufbauender Begriffe, in denen die entwicklungsmäßig früheren in den späteren enthalten sind.
Gentner hat beobachtet, dass die richtige Anwendung der Begriffe geben - nehmen - zahlen - kaufen - verkaufen in dieser Reihenfolge erfolgt. Als Erklärung für diese Sequenz bietet sie eine Elementenanalyse an, aus der hervorgeht, dass die später verstandenen Begriffe die komplexeren sind. Verkaufen enthält die folgenden Elemente: (1) Akteur A (2) gibt (3) ein Gut (4) an Akteur B (5) und verlangt (6) von diesem (7) im Austausch (8) Geld. Kaufen hat eine entsprechende Komplexität, während geben und nehmen die elementareren Begriffe sind. Geben umfaßt nur die ersten 5 in verkaufen implizierten Elemente.
Auch schulischer Unterricht beginnt mit einer Elementen- und Strukturanalyse eines Stoffbereiches. Ein guter Lehrer prüft, welche Wissenselemente und -strukturen die Schüler bereits aufgebaut haben, an die er bei der Einführung des neuen Gegenstandes anknüpfen kann. Seine Unterrichtssequenz enthält eine geordnete Folge von Lernschritten nach Maßgabe der Strukturanalyse.
Nehmen wir als Beispiel folgende Rechenaufgabe: "Wieviel Tapetenrollen (8m lang, 60cm breit) braucht man, um vier Wände (240cm hoch, zusammen 18m breit) zu tapezieren? Wieviel Tapete bleibt Rest?" Vielfältige Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit diese Aufgabe verstanden und gelöst werden kann: die Wortbedeutungen von Wand, Tapete, Rolle, Rest; die Dimensionsbegriffe Länge, Breite, Höhe; Maßeinheiten wie Meter, Zentimeter; Zahlbegriffe, Fragewörter. Ferner müssen die syntaktischen Strukturen des Fragesatzes beherrscht werden. Zur Lösung der Aufgabe sind arithmetische Operationen des Multiplizierens, Addierens, Subtrahierens notwendig, Transformationen von Meter in Zentimeter, Operationen der Flächenberechnung usw.
Alle diese Begriffe und Operationen müssen entwickelt sein oder werden. Zwar kennen wir heute die Aufbauprozesse aller dieser Operationen und Konzepte nicht lückenlos, vieles spricht aber dafür, dass auch die nichtgeleitete Entwicklung dieser Konzepte als ein sukzessiver Aufbauprozeß zu verstehen ist, der weniger systematisch ist, aber der Aufbaulogik von Unterricht analog gegliedert ist. Entwicklungsstufen und -stadien bauen aufeinander auf in dem Sinne, dass auf jeder Stufe Voraussetzungen geschaffen werden für die weitere Entwicklung. Höhere Stufen sind komplexer, sie integrieren mehr Aspekte oder Elemente als die vorausgehenden.
Piaget beschreibt den unsystematischen, nicht didaktisch angeleiteten Aufbauprozeß als Selbstkonstruktion. Seine erste Grundannahme ist, dass der sich entwickelnde Mensch aktiv ist, seine Umwelt erkundet und strukturiert, dass er nach Informationen sucht und diese verarbeitet, dass er Fragen stellt nach Maßgabe des jeweils erreichten Entwicklungsstandes. Der sich entwickelnde Mensch braucht nicht motiviert zu werden: Seine Erkenntnismöglichkeiten drängen nach Erprobung und Anwendung. Ein Kleinkind, das gerade werfen gelernt hat, wirft, was immer ihm in die Hände kommt. Ein 4jähriges Kind, das die Warum-Frage entdeckt hat, kann mit dem ständigen "Warum?" seine Umwelt strapazieren. Ein 12jähriger, der sich Computerfertigkeiten angeeignet hat, sucht in der Phantasie nach Einsatzmöglichkeiten und denkt sich mit seinen Freunden Spiele aus, in denen die neue Kompetenz benötigt wird ("Hacken" z.B.). Seine zweite Grundannahme war, dass der Erkenntnisfortschritt in Sequenzen von einfachen zu komplexen Strukturen erfolgt, die die einfacheren in ihrer Leistungsfähigkeit übertreffen. Motor der Entwicklung sind Probleme und Widersprüche, die sich aus der Anwendung der einfacheren Strukturen ergeben. Ihre Lösung bedeutet Aufbau einer komplexeren Struktur.
Entwicklung als Erziehung und Sozialisation
Um den Umfang dessen zu ermessen, was wir Sozialisation nennen, stelle man sich vor, was ein Mensch aus einer fremden Kultur oder einer vergangenen Epoche lernen müßte, um in unserer Kultur zu leben: Sprache und Regeln der Rede, den Sinn von Symbolen, Regeln des sozialen Umgangs und des Verhaltens in spezifischen Settings und bei spezifischen Anlässen, die Funktionen von Werkzeugen und Kulturgütern, die Differenzierung sozialer Positionen, mit ihren Rechten und Pflichten, die Institutionen und ihre Funktionen, die Kenntnisse und Fertigkeiten wenigstens eines Berufs, Ausschnitte aus mehreren Wissenschaftsbereichen, die Werte- und Glaubenssysteme und Ideologien, die Sitten, das Recht, die Bräuche und die Moden usw.
Sozialisation erfolgt durch Anleitung und Anforderung, Information und Belehrung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Strafen und Belohnungen, usw. Die Familie, die Schule, der Beruf, die Gruppe der Freunde, die Medien sind an diesem Prozeß beteiligt. Die psychologischen Theorien des Lehrens, des Lernens, des Wissenserwerbs, der Identifikation, der Einstellungsbildung und -änderung, der Selbstkonzept- und der Weltbildentwicklung, des sozialen Wandels usw. erhellen Ausschnitte dieses Prozesses.
Dieses Lernen ist nie zu Ende, nicht zuletzt weil die Gesellschaften und ihre Kulturen ständig im Wandel begriffen sind. Unsere Gesellschaft ist nicht einheitlich, sondern pluralistisch bezüglich Wertsystemen, Religionen und Ideologien. Sie ist nicht statisch, sondern dynamisch: Wissenschaft, Technik, Künste, Sprache, soziale Institutionen u.a. sind in ständigem Wandel. Sie ist nicht geschlossen, sondern offen gegenüber Einflüssen aus anderen Kulturen und Neuerungen aus dem Inneren: Auf die Moderne folgt die Postmoderne; die Wirtschaftsmärkte erfordern ständige Innovationen, traditionelle Berufe verschwinden, neue kommen hinzu usw. Sozialisation bedeutet folglich lebenslanges Lernen auf vielen Gebieten.
Entwicklungspsychologische Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung
Sozialisationsforschung und die theoretischen Deutungen des Sozialisationsprozesses sind häufig nicht entwicklungspsychologisch orientiert. Als Beispiel sei die auf Konditionierungstheorien beruhende Sozialisationstorschung angeführt. Verhalten und Verhaltensänderungen wurden in dieser Tradition, die in der Mitte dieses Jahrhunderts einflußreich war, nur unter Kontrolle von (Reiz-)Situationen und Verhaltensfolgen (Bekräftigungen, Strafen) gesehen. Und es wurde angenommen, dass diese Faktoren über das ganze Leben in gleicher Weise wirken. Heute finden wir diese Grundposition noch in exogenistischen Ansätzen, in denen die Herausbildung von Merkmalen, Kompetenzen und Einstellungen auf Sozialisationseinflüsse zurückgeführt werden, ohne dass nach relevanten Person- und Entwicklungsvoraussetzungen gesucht würde.
Die Perspektive wird entwicklungspsychologisch, wenn Auswirkungen von Sozialisationseinflüssen in verschiedenen Altersgruppen vergleichend untersucht werden. Dabei ist eine Wechselwirkung zwischen Sozialisationseinflüssen und dem Entwicklungsstand immer als Hypothese in Betracht zu ziehen.
In der Fels-Studie z.B. wurde empirisch nachgewiesen, dass die unmittelbaren und langfristigen Wirkungen verschiedener Erziehungsstile (z.B. einschränkend/regulierendes, protektives, unterstützendes, fordernd/akzelerierendes oder abweisendes Verhalten der Mutter) auf die Entwicklung von Merkmalen des Kindes sich von der frühen Kindheit bis zur Adoleszenz deutlich ändern. Mit einer hohen Leistungsorientierung im Jugendalter ist bei protektivem Verhalten der Mutter in der frühen Kindheit und bei angemessenem fordernden Verhalten in den nachfolgenden Jahren zu rechnen. Fordernd/akzelerierendes Verhalten in der frühen Kindheit und protektives Verhalten über die Kindheit hinweg hat sich nicht als positiv für die Entwicklung hoher Leistungsorienderung erwiesen.
Entwicklungspsychologisch angelegte Forschung stellt darüber hinaus die Frage, ob die Vermittlungsprozesse auf allen Altersstufen gleich sind oder nicht. Wir wissen z.B. aus der Forschung zur Sozialisation der Moral, dass mit zunehmendem Alter argumentative Begründungen von Verboten und Geboten wichtiger werden und eine nur über Strafe und Strafdrohungen (also über Konditionierungen) angestrebte Kontrolle immer unwirksamer wird. Identifikation und Nachahmung (oder allgemeiner: Lernen aus der Beobachtung) gibt es auf allen Altersstufen. Wir können jedoch erwarten, dass z.B. Autoritätspersonen in der frühen Kindheit generell Vorbild und Orientierung bieten, mit wachsender Autonomie und gefestigtem Selbstbild der Heranwachsenden Identifikationen selektiver werden.
Vergleiche dazu die Perspektive des dialektischen Entwicklungsbegriffes bei Wygotski
Neuere Ansätze in der Entwicklungspsychologie
Entwicklung durch herausfordernde Probleme, Krisen und Ereignisse im Lebenslauf
Gehirne von Heranwachsenden arbeiten unterschiedlich
"Geschlechtstypisches" Spielzeug?
Studie untersucht Erblichkeit bei Zwillingen - Verhalten und Vorlieben teilweise genetisch bedingt
Hauptquelle: Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.) (1995). Entwicklungspsychologie. Weinheim: PVU.inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::