Betrachtungsmöglichkeiten von Entwicklung
Die Anfänge des Entwicklungsdenkens reichen bis Albertus Magnus (1200-1280) zurück, denn er forderte schon früh, daß Natursachverhalte mittels Empirie erforscht werden müßten, nicht mittels Theologie. Comenius (1529-1592) schließlich teilte das menschliche Lebensalter bis 24 in vier Stufen ein und forderte einen altersgerechten Unterricht. Jean Jacques Rousseau (1712-1778) plädierte für eine natürliche Reifung des Menschen, denn negative Einflüsse seien auf zivilisatorische Entwicklungen zurückzuführen. Sein "Emile" gilt als Vorläufer der Stufen- und Phasentheorien. Johannes Nikolaus Tetens (1736-1807) suchte nach allgemeinen Entwicklungsgesetzen und beschäftigte sich mit den Entwicklungsverläufen und ihren Bedingungen über die gesamte Lebensspanne.
Siehe im Detail Die Psychologie des Jugendalters - Ein historischer Überblick
Der traditionelle Entwicklungsbegriff in der Psychologie
Nagel (1957) definiert Entwicklung als eine "Abfolge von Veränderungen in einem System, die relativ überdauernde Neuerwerbungen sowohl im strukturellen Aufbau des Systems wie in seiner Funktionsweise beinhalten".
Für Remplein (1958) ist Entwicklung "eine nach immanenten Gesetzen (einem Bauplan) sich vollziehende (d. h. nicht umkehrbare, irreversible) Veränderung eines ganzheitlichen Gebildes, die sich als Differenzierung (Ausgliederung) einander unähnlicher Teilgebilde bei Zentralisierung (Unterordnung der Funktionen und Glieder unter beherrschende Organe) darstellt".
Dieser eher enge Entwicklungsbegriff ist bestimmt durch Gerichtetheit Jede Entwicklung ist auf einen bestimmten Endzustand hin ausgerichtet, der gegenüber dem Ausgangszustand höherwertiger ist.
Entwicklungsstufen: Entwicklung lässt sich auf verschiedenen Stufen nachvollziehen, wobei es sich um Aufbauprozesse handelt. Einzelnen Stufen sind Voraussetzungen für die nächsten, und ist eine Entwicklungsstufe erreicht, so ist die Veränderung dauerhaft und irreversibel. Diese Grundannahme spiegelt sich in zahlreichen Büchern zur Entwicklungspsychologie, die in Lebensaltersetappen gegliedert sind.
Universalität: Die menschliche Entwicklung umfaßt universelle Veränderungen, so daß alle Menschen aller Kulturen diese durchlaufen. Entwicklungsbedingte Änderungen treten relativ unabhängig von der Umwelt auf, in der jemand aufwächst. Interindividuelle Differenzen zeigen sich nur in der Entwicklungsgeschwindigkeit und im erreichten Entwicklungsniveau.
Korrelation mit dem Lebensalter: Es sind personenimmanente Faktoren, die sich in einem bestimmten Lebensalter als Veränderung manifestieren.
Qualitativ-strukturellen Transformation: Die Veränderungen, die eine Person in ihrer Entwicklung durchläuft, sind vornehmlich qualitativer Art, d.h., Entwicklung umfaßt mehr als eine mengenmäßigen Veränderung (Wortschatz, motorische Fertigkeit).
Ratgeber zur Entwicklung eines Kindes
In manchen Ratgebern für Eltern finden sich Listen von Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die Kinder angeblich ab einem bestimmten Alter beherrschen sollten. Dadurch werden sehr viele Eltern verunsichert, da sie glauben, dass alle Kinder sich gleich entwickeln müssen. Allerdings gibt es in vielen Bereichen große Bandbreiten, wobei nur ExpertInnen wirklich beurteilen können, inwieweit ein Kind "normal" entwickelt ist. Eltern werden in solchen Ratgebern aufgefordert, ihr Kind durch genaue Beobachtung zu testen - hier einige Beispiele aus einem solchen Ratgeber:
- Mit 11 Monaten spricht Ihr Kind Sie mit „Mama“ oder „Papa“ gezielt an?
- Kann Ihr Kind mit einem Monat in Bauchlage den Kopf heben?
- Erkennt es mit 6 Monaten bekannte Personen wieder?
- Verdoppelt es mit 11 Monaten Silben (z. B. „Da-Da“, „Ga-Ga“)?
- Beteiligt es sich mit 12 Monaten an Gib- und Nimm-Spielen?
- Blättert es mit 14 Monaten Buchseiten einzeln um?
- Spricht es mit 15 Monaten einzelne Wörter direkt nach?
- Zieht es sich mit 18 Monaten Kleidungstücke an?
- Baut es mit 22 Monaten einen Turm mit 8 bis 10 Klötzchen?
- Stellt Ihr Kind mit 2 Jahren „Was-Wann-Wo-Fragen"?
- Fädelt es mit 2,5 Jahren große Perlen auf?
- Mit 3,5 Jahren zieht sich Ihr Kind ohne Anleitung selbst an
- Steht es mit 3,5 Jahren mehr als 5 Sekunden auf einem Bein?
- Kann Ihr Kind mit 3 Jahren die Jacke zuknöpfen?
- Zeichnet Ihr Kind mit 4 Jahren Menschen?
- Gebraucht es mit 5 Jahren den Konjunktiv?
- Malt Ihr Kind mit 5 Jahren ein Quadrat (nach Vorlage)?
- Schreibt Ihr Kind mit 5,5 Jahren einfache Worte nach?
Mit solchen Checklisten werden Eltern jedoch nur verunsichert, ob sie ihr Kind auch normal entwickelt. Hinter solchen Listen steht ein Leistungsgedanke, der vor allem in der frühkindlichen Erziehung keine Rolle spielen dürfte. Hinzu kommt auch das Konkurrenzdenken, das viele Eltern beim Vergleich ihre Kinder mit anderen Kindern entwickeln.
Das aktuelle Verständnis von Entwicklung
Der gegenwärtige Konsens des Entwicklungsbegriffes in der Psychologie geht in die Richtung einer weiter gefassten Definition. Kriterien dieses weiteren Entwicklungsbegriffes sind die Beziehung zum Lebensalter. Im Gegensatz zu anderen psychologischen Phänomenen wie Lernen oder Vergessen kann man Entwicklung auf die Zeitdimension des Lebensalters beziehen. Allerdings entstehen Veränderungen nicht allein auf Grund des Alterns, sondern durch die Prozesse, die während des Alterns ablaufen. Das Älterwerden ist also nicht die Ursache der Veränderungen. Während in der traditionellen Vorstellung die Entwicklung zielgerichtet auf einen Endzustand ist, der das Ende einer Entwicklung in einem bestimmten Bereich bedeutete, können entwicklungsbedingten Veränderungen über das gesamte Lebensalter hinweg beobachtet werden.
Kontinuität: Die Entwicklungspsychologie fragt bei jeder Veränderung, ob es vorausgegangene Veränderungen gegeben hat, die die aktuellen mitbedingen oder ermöglichen. Es geht bei diesem Definitionskriterium darum, Veränderungen eine zeitliche Ordnung zuweisen zu können oder den inneren Zusammenhang zu erkennen. Das Kriterium der Kontinuität bildet eine abgeschwächte Form zur Stufenfolge des traditionellen Entwicklungsbegriffs.
Nachhaltigkeit: Damit nun Veränderungen als Entwicklung bezeichnet werden können, müssen sie langfristig sein und dürfen nicht nur kurzfristige Auswirkungen darstellen, wobei im Idealfall die ganze Lebensspanne als Maßstab heranzuziehen ist. Tritt bei einer Person eine Veränderung auf, wird gefragt, wie es zu der Veränderung kam (retrospektiv) und was nun aus der Veränderung wird (prospektiv).
Eine völlig andere Perspektive findet sich beim dialektischen Entwicklungsbegriff Wygotskis.
Aufgaben der modernen Entwicklungspsychologie
Die Entwicklungspsychologie gibt Informationen zu normalen Entwicklungen im Lebenslauf, sodaß Entwicklungen des Einzelnen intra- und interindividuell damit vergleichbar sind und auff Abweichungen reagiert werden kann. So benötigen politische Fragen die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, z.B. nach dem Alter der Geschäftsfähigkeit, Strafmündigkeit, Volljährigkeit, Heiratsfähigkeit, usw.
Die Prognose der Ausprägung und Veränderung von Personmerkmalen ist wichtig für Therapeuten, Erzieher und Lehrer. Es bedarf guter Vorhersagen über Ausprägung und Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen, um die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem erwünschten Ziel führen.
Die Entwicklungspsychologie betreibt auch die Ermittlung von Entwicklungsbedingungen und deren langfristige Auswirkungen. So kann etwa ein Ereignis, das kurzfristig als sehr belastend empfunden wird, langfristig zu positiven Effekten führen.
Die Entwicklungspsychologie hilft bei der Begründung von Entwicklungszielen und damit verbundenen Entscheidungen.
Die Bedeutung der pränatale Phase
Früher hatte man wenig Augenmerk auf die pränatale Phase gelegt, doch zahlreiche Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass diese Phase das spätere Leben des Menschen beeinflusst, wobei sich sogar die Neuronen und Synapsen im Gehirn so entwickeln, wie die vorgeburtlichen Bedingungen für das Ungeborene waren. Die Erfahrungen im Mutterleib und beim Geburtsverlauf haben einen merkbaren Einfluss auf die psychische Entwicklung und die Lebensbedingungen, denn so weiß man heute, dass sogar die Einstellung der Mutter zur Schwangerschaft und zum ungeborenen Kind die Einstellung des Kindes zu seinem eigenen Leben prägen kann, d. h., ob sich das Kind später geliebt, angenommen oder aber unsicher, instabil und unerwünscht fühlt. Allerdings ist es in vielen Fällen problematisch, aus Korrelationen einen kausalen Zusammenhang etwa zwischen bestimmten Geburtserlebnissen und späteren Charaktereigenschaften des Kindes herzustellen. Allerdings ist vielfach bestätigt, dass Mütter, die während der Schwangerschaft glücklich und unaufgeregt waren, meist zufriedene und ruhige Kinder haben. Heute betrachtet man die Rolle der Mutter bei Schwangerschaft und Geburt daher als eine Interakteurin, denn mütterliche Affekt- und Stressreaktionen gehen direkt auf das ungeborene Kind über. Allerdings spielen nicht nur die Mütter in dieser Zeit eine zentrale Rolle, sondern auch der Partner, die Familie, die Herkunft und das kulturelle Umfeld.
Vergleich einiger Modelle der Entwicklung
Phase |
Zeitraum |
Merkmale der Entwicklung |
kognitive Entwicklung nach Piaget |
moralische Entwicklung nach Kohlberg |
psychosexuelle Entwicklung nach Freud |
pränatale Phase |
Geburt |
körperliche Entwicklung |
- |
- |
- |
Säuglingsalter |
Normalgeburt bis 18. Monat |
Bewegung, einsetzen der Sprache, soziale Anhänglichkeit |
sensumotorische Intelligenz |
prämorale Phase |
orale Phase, narzisstische Phase, anale Phase |
frühe Kindheit |
18 Monat bis 6. Lebensjahr |
Sprache gut entwickelt, geschlechtsspezifische Unterschiede, Gruppenspiele, Vorbereitung auf die Schule |
präoperationale Phase |
Gehorsam und Strafe (Phase 1 & 2) |
phallische Phase |
späte Kindheit |
6. bis 13. Lebensjahr |
viele kognitive Fähigkeiten wie beim Erwachsenen mit Ausnahme der Durchführungsgeschwindigkeit, Mannschaftsspiele |
konkret-operationale Phase |
"Good-boy"- und "Nice-girl" |
Latenzperiode,genitale Phase |
Jugend |
13. bis 20. Lebensjahr |
Pubertät, Geschlechtsreife, höchste kognitive Entwicklung, Unabhängigkeit von den Eltern, sexuelle Beziehungen |
formale Phase |
"Law and Order" |
|
junger Erwachsener |
20. bis 45. Lebensjahr |
Beruf, Familie |
Vertragsmoral |
||
mittleres Alter |
45. bis 65. Lebensjahr |
Berufsziel ist erreicht, Selbsteinschätzung, "leeres Nest"-Krise, Berentung |
Gewissensgrundsätze |
||
hohes Alter |
ab 65. Lebensjahr |
das Erreichte wird genossen |
Quellen
Oerter, R. & Montada, L. (2002). Entwicklunspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Trautner, H.M. (1995). Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. 2 Bände. Göttingen: Hogrefe.
Schenk-Danzinger, L. (1983). Entwicklungspsychologie. Wien: Österreichischer Bundesverlag.
Diverse Texte aus dem psychoblogger
Bildquellen
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