Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen
Diese Fragen stammen aus einem Interview, das der Autor der Arbeitsblätter im Juni 2012 der Zeitschrift News zum Thema Jugendarbeitslosigkeit gab.
Was ist aus psychologischer Sicht die unterschiedliche Problematik bei Arbeitslosigkeit für einen Jugendlichen im Vergleich zu einem Erwachsenen?
Jugendliche befinden sich in einer Zeit des Überganges zwischen Kindsein und Erwachsensein, also in einer Position zwischen zwei sozial betrachtet relativ klar getrennten Lebenswelten, die vor allem dadurch definiert sind, dass Erwachsene für ihren Lebensunterhalt selber zu sorgen haben, während Kinder von Erwachsenen abhängig sind bzw. sein dürfen. Das Finden von Arbeit definiert daher für sie die zentrale Möglichkeit, die ökonomische Abhängigkeit ihres Kindseins abzulegen. Hinzu kommt, dass Jugendliche sich auch in einem Stadium des Erlernens eines Berufes befinden, also viel Zeit und Energie investieren bzw. investiert haben, um dieses Ziel der Unabhängigkeit auch zu erreichen.
Gibt es Unterschiede, wie die Situation von Mädchen/Burschen empfunden und wie damit umgegangen wird?
Eine Folge der Gleichberechtigung ist wohl, dass auch Mädchen ihre Lebensziele über die eigene Berufstätigkeit definieren, sodass es kaum noch Unterschiede im Erleben und Bewältigen von Arbeitslosigkeit gibt. Auf Grund eines veränderten, im Hinblick auf die Berufstätigkeit eher egalitären Rollenbildes wirkt sich die Arbeitslosigkeit bei weiblichen Jugendlichen psychologisch heute daher kaum mehr anders aus als bei männlichen. Der Wertewandel der Gesellschaft wird heute vorwiegend von den weiblichen Heranwachsenden getragen, denn Mädchen sind ehrgeiziger und auch selbstbewusster geworden. Daraus resultieren Ansprüche an den Arbeitsmarkt, die dieser in einer prekären wirtschaftlichen Situation oft nur unzureichend erfüllen kann. Die Unterschiede zwischen Buben und Mädchen in der Qualität ihrer Schulabschlüsse stellen allerdings ein immer größeres Problem dar, denn Buben schneiden in fast allen Bildungsbereichen schlechter ab, wobei es deutlich mehr männliche Jugendliche gibt, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss schaffen. Der Schulabschluss beeinflusst aber die gesamte Erwerbsbiografie, sodass junge Männer deutlich häufiger arbeitslos als junge Frauen sind. Allerdings bevorzugen viele Frauen auf Grund eines für sie eingeschränkten Arbeitsmarktes eine Kurzausbildung, die dadurch langfristig betrachtet geringere Chancen bedeuten.
Gibt es ebensolche Unterschiede zwischen der Situation betroffener Jugendlicher in der Stadt/am Land?
Früher gab es zwischen Stadt und Land oft unterschiedlich definierte Laufbahnen, die Jugendliche einzuschlagen hatten. Das hat sich geändert. Geblieben ist allerdings das höhere Ausmaß an Sichtbarkeit der Arbeitslosigkeit in kleineren Gemeinschaften, während im städtischen Bereich eher ein Untertauchen in die Anonymität möglich ist. Nicht zuletzt treibt der Rückgang an Arbeitsplätzen in ländlichen Regionen Jugendliche vermehrt in die Städte, was krisenhafte Entwicklungen befördern kann, wenn etwa die Anpassung an die neue Umgebung nicht gelingt, es also zu einer zusätzlichen Marginalisierung kommt.
Wie kann man einen Betroffenen als guter Freund am besten unterstützen?
Das soziale Umfeld spielt bei der Bewältigung der Arbeitslosigkeit natürlich eine wichtige Rolle, wobei etwa familiäre Krisen die ohnehin bestehenden Anpassungsprobleme oft noch verschärfen können. Stabile Bindungen sind im Falle der Arbeitslosigkeit daher wichtig, doch sollte man die Freundin oder den Freund nicht auf dieses eine Thema "reduzieren". Das gilt übrigens auch für Eltern. Es geht auch weniger darum, jemandem jetzt einen Arbeitsplatz zu verschaffen, sondern eher darum, sie bzw. ihn in dessen eigenen Anstrengungen zu bestärken. Siehe dazu auch die Tipps am Ende.
Was bedeutet es für einen Jugendlichen keine Arbeit zu bekommen?
Zwar sind die Verarbeitungsmuster und subjektiven Reaktionsformen auf Arbeitslosigkeit individuell sehr unterschiedlich, doch zeigen sich bei Jugendlichen mit Problemen beim Übergang von der Schule ins Beschäftigungssystem massive negative Effekte, denn die Erfahrung, keine Arbeit zu haben bzw. nicht gebraucht zu werden, führt zu weitreichenden Entwicklungsbeeinträchtigungen. Es besteht die Gefahr, dass bei den Betroffenen die Handlungsbereitschaft sinkt, es insgesamt zu einer Verminderung der Motivation kommt, das Selbstvertrauen und die eigene Wertschätzung abnehmen, das Zeitgefühl sowie soziale Kontakte verlorengehen, vermehrte Informations- und Erfahrungsrückstände auftreten, aggressive und apathische Verhaltensweisen zunehmen und gesellschaftliche und kulturelle Angebote nicht mehr in Anspruch genommen werden. Arbeitslosigkeit ist praktisch immer ein Prozess der Isolierung, auch der von sich selber. Mit zunehmender Dauer kommt es ja nicht nur zu finanziellen Belastungen und Einschränkungen, sondern zu teilweise massiven Beeinträchtigungen des psychischen und körperlichen Wohlbefindens, wie Verminderung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls, Verschlimmerung verschiedener psychischer Störungen, Zunahme psychosomatischer Beschwerden.
Wie beeinflusst das seine Entwicklung, sein Lebensgefühl und den Selbstwert?
Bei der Bewerbung um Lehrstellen erleben viele Jugendliche, dass ein wenig zufrieden stellendes Abschlusszeugnis nur geringe Verwertungschancen am Arbeitsplatz findet. Vorstellungen, dass ein Beruf Spaß machen und den eigenen Fähigkeiten entsprechen sollte, werden daher bald verworfen, vielmehr geht es nur mehr darum, überhaupt in das System der Erwerbsarbeit aufgenommen zu werden. Wünsche nach einer interessanten Tätigkeit und auch möglichst gutem Verdienst müssen meist drastisch zurückgeschraubt werden.
Was für eine Vorstellung bekommen Jugendliche durch den Druck und die Angst keine Arbeit zu bekommen von der Erwerbstätigkeit/der Arbeitswelt?
Studien zeigen, dass sich heute schon SchülerInnen - übrigens nicht zuletzt auch durch die Medien und der in ihnen aktuell massiv überrepräsentierten Wirtschaftsthemen - schon lange vor dem Eintritt ins Berufsleben vom Problem der Arbeitslosigkeit bedroht fühlen, sodass entgegen tradierten Vorstellungen das Jungsein heute nicht mehr die unbeschwerte Zeit des Lernens, spielerischen Ausprobierens und der allmählichen Vorbereitung auf das Leben und die Berufstätigkeit wie früher ist. Wenn etwa im Fernsehen von Arbeitslosigkeit berichtet wird, dann werden dazu gleich Bilder von im AMS Anstehenden geliefert.
Wie wird durch Jugendarbeitslosigkeit die Selbstständigkeit beeinflusst – bzw. die Abhängigkeit von der Familie und den Eltern?
Der ohnehin konfliktträchtige aber ebenso notwendige Ablösungsprozess von der Familie wird durch Arbeitslosigkeit oft verzögert und stellt die Jugendlichen erneut unter bestehende elterliche Werte und Normen. In der irreparablen Verzögerung bzw. Verspätung des sozialen Reifungsprozesses kann daher die größte Gefahr der Dauererwerbslosigkeit von Jugendlichen gesehen werden. Soziale Entwicklungsdefizite in Verbindung mit Ziellosigkeit und dem Verlust von Berufs- und Zukunftsperspektiven machen die davon Betroffenen beinahe zwangsläufig zu Problemgruppen von heute und Randgruppen von morgen. Die durch die Arbeitslosigkeit häufig bedingte Rückkehr in die Familie kann Entwicklungsregressionen befördern und zu einer Art Zwangsinfantilität führen. Für viele Jugendliche geht durch eine frühe Arbeitslosigkeit auch jeglicher Bezug zur Ausübung eines Berufes verloren - sofern er überhaupt entwickelt werden konnte -, und reduziert sich auf den marginalen Faktor der finanziellen Absicherung.
Welchen psychischen und physischen Auswirkungen zieht Arbeitslosigkeit nach sich? Und was genau sind die Ursachen für diese Folgen?
Eine kurzfristige Arbeitslosigkeit ist für die Mehrzahl Jugendlicher heute eine normale und deshalb wenig abschreckende Erfahrung, jedoch eine langfristige Arbeitslosigkeit vermittelt neben der Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt auch eine Chancenlosigkeit im Leben, die manche zur Suche nach anderen Überlebensformen führt. Manche sehen Arbeitslosigkeit daher als eine Ursache für die Erhöhung der Delinquenzgefährdung bei Jugendlichen. Die Frustration, die bei Arbeitslosigkeit entsteht, das Bewusstsein, nichts zu sein, nichts zu haben oder nichts zu werden, und das Wissen um die eigene Nutzlosigkeit bleiben natürlich nicht ohne Auswirkungen. Innere Spannungen können zu Hass, Aggression und sogar zu kriminellen Aktivitäten, führen aber auch zur Resignation. In dem Bertolucci-Film "La Luna" sagt ein junger Langzeitarbeitsloser: "Ich hasse Arbeit weil ich keine kriegen kann!" Das charakterisiert sehr gut die Ambivalenz, in der vor allem Jugendliche im Hinblick auf ihre berufliche Lebensperspektive heute stehen.
Die negativen Folgewirkungen von vor allem längerer Arbeitslosigkeit sind mittlerweile in einer Vielzahl von Untersuchungen nachgewiesen. Mit zunehmender Dauer kommt es nicht nur zu finanziellen Belastungen und Einschränkungen, sondern zu teilweise massiven Beeinträchtigungen des psychischen und körperlichen Wohlbefindens (Verminderung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls, psychische und psychosomatische Beschwerden). Die Erfahrung keine Arbeit zu haben bzw. "nicht gebraucht zu werden" führt zu weitreichenden Entwicklungsbeeinträchtigungen, sodass die Handlungsbereitschaft sinkt, das Selbstvertrauen und die eigene Wertschätzung abnehmen, das Zeitgefühl sowie soziale Kontakte verlorengehen und aggressive und apathische Verhaltensweisen zunehmen. Jugendliche ohne qualifizierte Bildungsabschlüsse reduzieren ihre persönlichen Ansprüche und Lebensziele, es kommt häufig zur psychischen Destabilisierung und Depressivität. Arbeitslose mit entsprechenden psychischen und physischen Problemen haben noch weniger Chancen, erneut eine Arbeit zu finden.
Welchen Umgang mit dem Thema Jugendarbeitslosigkeit würden Sie sich als Psychologe in der Gesellschaft wünschen?
Der Umgang mit der Arbeitslosigkeit ist oft weniger das Problem, eher sollte es einen anderen Umgang mit dem Thema Arbeit in der Gesellschaft geben, nicht so sehr die Betonung auf dem ökonomischen Aspekt von Arbeit. Es sollte mehr die Rede sein von der Chance auf persönlicher Selbstverwirklichung, auf persönlichen Interessen. Problematisch ist auch, dass wenig qualifizierte Jugendliche oft selbst für ihre Lage verantwortlich gemacht und auf Grund ihrer mangelnden "employability" vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Dabei wirkt sich die für die weitere Laufbahn so entscheidende berufliche Erstplatzierung auf das gesamte Berufslebens (Einkommen, Aufstiegschancen) aus, wobei die Mechanismen des Arbeitsmarktes eine nachträgliche Korrektur eines verfehlten Berufseinstiegs nur in Ausnahmefällen zulassen. In manchen Bereichen kommt es ohnehin derzeit zu einer Aufhebung der klaren Trennung von Berufswelt und Lebenswelt, wobei sich daraus sowohl Chancen als auch Probleme ergeben, besonders im Bereich der Vorbereitung der Jugendlichen auf solche Entwicklungen.
Können Sie uns 5 Tipps geben, wo arbeitslose Jugendliche Ansätzen sollen, um ihre Situation zu ändern?
- Erkennen, dass eine Problemlösung nicht eine individuelle Angelegenheit darstellt. Heraus aus der oft bei Arbeitslosigkeit erlebten Isolation.
- Selbstreflexion, in einer "geschützten" Umgebung (also ohne Zeitdruck und Ergebnisdruck) am besten schriftlich über die eigene Situation nachdenken. Analyse der eigenen Stärken und Schwächen.
- Sich im Dialog mit einem vertrauten Menschen (Familienmitglied, Freundeskreis) mit den Ergebnissen der Selbstreflexion kritisch auseinandersetzen. Einbindung dieses Vertrauten in die geplanten Aktivitäten (Selbstverpflichtung!).
- Ziele und vor allem terminisierte Teilziele setzen (schriftlich!); also nicht gleich einen konkreten Arbeitsplatz suchen, sondern etwa die systematische Auswahl von möglichen Lehrstellen bis zum kommenden Wochenende.
- Überprüfen und Kontrolle dieser Ziele und Teilziele, wenn möglich gemeinsam mit dem Vertrauten.
Literatur
Kastner, M. & Vogt, J. (2000). Soziale und psychische Faktoren bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit. In M. Kastner (Hrsg.), Strukturwandel in der Arbeitslosigkeit und individuelle Bewältigung. Lengerich, Wien: Pabst Verlag.
Hollederer, A. (2002). Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Ein Überblick über empirische Befunde und die Arbeitslosen- und Krankenkassenstatistik. In Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 35. Jg. 2002.
WWW: http://doku.iab.de/mittab/2002/2002_3_MittAB_Hollederer.pdf
Kieselbach, Th. (1994). Arbeitslosigkeit als psychologisches Problem - auf individueller und gesellschaftlicher Ebene.
WWW: http://www.adeccostiftung.de/pdf/11_KIESE.pdf (09-12-12)
Kieselbach, Th. (2003). Psychologie der Arbeitslosigkeit: Von der Wirkungsforschung zur Begleitung beruflicher Transitionen. In Bolder, A. & Witzel, A. (Hrsg.), Berufsbiographien. Beiträge zu Theorie und Empirie ihrer Bedingungen, Genese und Gestaltung (S. 178-194). Opladen: Leske & Budrich.
Kirchler, E. (1993). Arbeitslosigkeit. Psychologische Skizzen über ein anhaltendes Problem. Göttigen: Hogrefe.
Kirchler, E. (1984). Arbeitslosigkeit und Alltagsbefinden. Eine sozialpsychologische Studie über die subjektive Folgen von Arbeitslosigkeit. Linz: Rudolf Trauer Verlag.
Pelzmann, L. (1988). Arbeitsmarktpolitik. Individuelle Folgen von Arbeitslosigkeit Linz: Österreichisches Institut für Arbeitsmarktpolitik.
- Die berufliche Sozialisation
- Berufsfindung und Persönlichkeit
- Berufsfindung und soziales Umfeld
- Der Berufsfindungsprozess
- Die Bewerbung
- Berufswahl und Explorationsverhalten
- Die duale Ausbildung in Österreich
- Beruf und Freizeit
- Veränderungen in der Arbeitswelt
- Kurioses aus der Berufswelt
- Langzeitarbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen
- Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen
- Siehe auch "Situativer Interessen Test"
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