Latentes, passives, implizites, inzidentelles oder informelles Lernen
Was Erwachsene können und wissen, das haben sie zu einem Großteil in keiner Schule, keiner Berufsschule, keiner Fachhochschule, auf keiner Universität und auch keiner anderen Bildungseinrichtung gelernt. Zwischen siebzig und neunzig Prozent ihres Wissens eignen sich Menschen nebenbei im Alltag an. Darunter fallen vor allem Wissensbereiche, die nicht in den Schulen abgedeckt werden, etwa Wissen zu so wichtigen Lebensbereichen wie Gesundheit, der Zugang zum Recht oder die Kompetenz in Familie und Kindererziehung. Auch in der Freizeit erwerben Menschen Fertigkeiten, die auch für ihr Berufsleben bedeutsam sind.
Begriffbestimmung
Latentes Lernen (latent learning) ist die Bezeichnung für einen angenommenen Erwerb bestimmter Reaktionen, ohne dass eine Belohnung etwa im Sinne einer Verstärkung gegeben ist: Eine satte Ratte wird in ein Labyrinth gesetzt und läuft dort mehr oder minder ziellos umher. Wird die gleiche Ratte später in hungrigem Zustand in das gleiche Labyrinth gesetzt, wird sie ihr Ziel (Futter) schneller finden als Ratten, die mit dem Labyrinth noch nicht vertraut sind.
Implizites Lernen (oder unbewusstes) ist das Lernen, welches vom Lernenden nicht bewußt wahrgenommen wird (z.B. operationalisiert etwa durch die Verbalisierbarkeit). Im Gegensatz dazu steht das explizite bzw. bewusste Lernen. Da menschliche Informationsverarbeitung nur teilweise bewusst und kontrolliert verläuft, bleiben viele Wahrnehmungen und Gedächtnisleistungen aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit unbewusst. Trotzdem können sie das Verhalten beeinflussen, welches daraufhin automatisch und ohne bewusste Steuerung abläuft. Siehe dazu den Versuch von Jacoby, Woloshyn & Kelley (1989), bei dem ProbandInnen eine Namensliste vorgelegt und ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die Namen auf dieser Liste von nicht berühmten Personen stammen. Eine Gruppe der Personen wurde während des Lesens der Liste durch die Bearbeitung einer weiteren Aufgabe abgelenkt. Die andere Gruppe konnte sich die Liste ohne Ablenkung durchlesen. Anschließend sollten die ProbandInnen auf einer weiteren Liste, die einige Namen von der vorherigen Liste und neue Namen enthielt, die Berühmtheit der genannten Personen einschätzen. Es zeigte sich, dass die ProbandInnen, die beim Lesen der ersten Liste abgelenkt waren, Personen, die auf beiden Listen erwähnt wurden, als berühmter einschätzten. Sie bemerkten nicht, dass sie diese Namen nur auf Grund des vorherigen Lesens wiedererkannten, sondern führten die Vertrautheit auf die angebliche Berühmtheit der Person zurück. Die andere Gruppe hingegen konnte sich noch daran erinnern, dass die Namen auf der ersten Liste von nicht berühmten Personen stammten und hielten sie deshalb auch nicht für berühmt. Daran wird deutlich, dass aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit nur unbewusst verarbeitete Informationen menschliche Urteile beeinflussen können. Vor allem die Werbung vertraut auf diese Form des beiläufigen Lernens.
Salopp formuliert findet man in der einschlägigen Forschung manchmal bei den Gehirnfunktionen die Unterscheidung in Pilot und Autopilot, wobei das erste System bewusst arbeitet und das andere unbewusst. Nach Untersuchungen wird z.B. Radio in der Regel nebenbei, ohne gezielte Aufmerksamkeit gehört und dennoch steht fest, dass sie wahrgenommen und unbewusst verarbeitet wird, wobei durchaus deutliche Veränderungen von Markenimages und Kaufimpulse ausgelöst werden können, denn trotz Ablenkung oder Unaufmerksamkeit erhöhen sich nach dem Konsum von solchen Radiospots die Kaufabsichten für ein Produkt. Während das Bewertungsschema des Autopiloten ausschließlich auf Belohnungen aufbaut, d.h., Menschen bewerten oder kaufen Marken auf Grund des darin enthaltenen Belohnungsversprechens, wie Genuss oder Sicherheit. Doch werden die Belohnungsmuster vom Autopiloten dann am besten entschlüsselt, wenn die eingehenden Impulse stark emotionalisieren, was etwa über Gänsehautstimmen, -musik oder Soundkulissen erfolgt. Diese sprechen in erster Linie das unbewusste Autopilotsystem an, das auch ohne Fokus angesprochen werden kann.
Ältere Menschen sind übrigens beim impliziten Lernen manchmal besser als jüngere, denn in einer Studie (Biss et al., 2013) zum Einfluss von Distraktoren auf die Gedächtnisleistung mussten jüngere und ältere Studienteilnehmer eine Liste von 16 Wörtern lernen. Danach erfolgte eine Prüfung der Behaltensleistung, bei der die jüngeren erwartungsgemäß besser abschnitten. Vor der zweiten Prüfung der Behaltensleistung wurden den Probanden nacheinander Bilder präsentiert, wobei sie bei jedem neu gezeigten Bild angeben sollten, ob es sich dabei um das gleiche Bild wie das zuvor gezeigte handelt. Am Rande des Bildschirms wurden hin und wieder acht der zunächst gelernten sechzehn Wörter präsentiert, wobei die Studienteilnehmer sich nicht von der eigentlichen Aufgabe ablenken lassen sollten. Insgesamt schnitten beim Behaltenstest die jüngeren Teilnehmer sowohl direkt nach dem Einprägen als auch nach der Zwischenaufgabe deutlich besser ab als die älteren, jedoch war die Erinnerungsleistung bei jenen acht Wörtern, die am Rand des Bildschirms präsentiert worden waren, bei den älteren Probanden besser. Die Studie belegt neuerlich, dass bei Aufgaben, in denen in kurzer Zeit Informationen aktiv zu lernen sind, jüngere Menschen überlegen sind. Beim impliziten Lernen schneiden ältere Menschen jedoch besser ab, denn offensichtlich entwickeln Menschen im Laufe ihres Lebens die Fähigkeit zu lernen ohne aktiv zu lernen.
Inzidentelles Lernen (incidental learning) ist die Bezeichnung für ein beiläufiges Lernen, bei dem neben den einzuprägenden Inhalten auch noch andere Inhalte aufgefasst und behalten werden, ohne dass hierfür eine entsprechende Lerninstruktion erfolgte. Informelles Lernen wurde im Rahmen der deutschen Bildungsforschung bisher wenig untersucht. So soll zum Beispiel eine Person sich eine Reihe von verschiedenen Formen (z.B. Kreise, Quadrate) einprägen. Nach einer bestimmten Zeit wird das Gelernte abgefragt und es lässt sich feststellen, dass gleichzeitig die Farben der verschiedenen Formen mitgelernt wurden, ohne dass es hierfür eine Aufgabenstellung gab. Den Gegensatz bildet das intentionale Lernen. Über inzidentelles Lernen selbst gibt es eine Vielzahl experimenteller Befunde, die zum einen aussagen, dass Lernen zwar ohne Absicht erfolgen kann, dass diese Lernsituation aber im Vergleich mit einer absichtsvollen oder instruierten weniger effektiv ist. John Dewey hat als erster den Begriff des informellen Lernens gebrauchte und beschrieb es als "natürliches" Lernen und stellte es dem schulischen Lernen gegenüber. Diese Sichtweise prägte lange die Diskussion, bis das informelle Lernen auch im Kontext der Erwachsenenbildung und der beruflichen Weiterbildung entdeckt wurde. In diesen Bereichen ist das Lernen stärker mit in die Arbeits- und Lebenszusammenhänge eingebunden, so dass weitere Merkmale, wie das Erreichen eines Abschlusses, mit in eine Beschreibung aufgenommen wurden. Mit der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen Arbeiten und Lernen, aber auch zwischen Arbeit und Freizeit, wurde es immer schwieriger die Grenzen zwischen formellem und informellem Lernen zu ziehen.
In der Pädagogik wird dieses Lernen unter dem Begriff des informellen Lernens in Abgrenzung zum formalen bzw. nonformalen Lernen an Schulen, Universitäten eher peripher diskutiert. Dabei macht laut Unesco das informelle Lernen außerhalb von Bildungsinstitutionen 70 Prozent aller menschlichen Lernprozesse aus. Das informelle Lernen umfasst somit alle jene Lernprozesse, die im täglichen Leben stattfinden, also nicht nur das Lernen im Rahmen familialer Kommunikation, sondern auch das Lernen am Arbeitsplatz, das Lernen im Rahmen von Multimediaanwendungen oder dem Internet, das autodidaktisches Lernen aus Büchern, über Befragungen usw. Der Begriff "informal education" wurde früher vielfach mit informellem und nonformal organisiertem Lernen gleichgesetzt, wobei informelles Lernen heute auch synonym mit "open learning" verwendet wird. Nicht-formelle Bildung, heute überwiegend als nonformale Bildung bezeichnet, ist alles Lernen außerhalb von Schulen, bei dem sowohl die Quelle von Informationen als auch die jeweils Lernenden mit dem Lernprozess eine Absicht verbinden. Informelle Bildung liegt dann vor, wenn entweder die Informationsquelle oder aber die Lernenden die Absicht haben, einen Lernprozess zu organisieren. Sie unterscheidet sich von nicht formeller Bildung dadurch, dass in diesem Falle nur einer der beiden Teile - lehrendes bzw. lernendes Sysem - einen Lernprozess intendiert. Inzidentelle Bildung bezeichnet hingegen ein Lernen, dem auf beiden Seiten keine pädagogische Absicht zugrunde liegt (vgl. Sandhaas 1986, S. 399). In letzter Zeit wird dieses Lernen auch im Rahmen der Diskussion um lebenslanges Lernen verwendet. Evident ist diese Lernform etwa bei der betrieblichen Meister-Schüler-Lehre innerhalb der dualen beruflichen Ausbildung. In der berufspädagogischen Diskussion wird jedoch Imitation als eher zu überwindende, da unstrukturierte Lernform betrachtet. Damit im Zusammenhang steht im pädagogischen Diskurs auch das Prinzip der Konstruktion einer "situierten Lernumgebung" (Lave & Wenger 1991), die es auch im Anschluss an oder in Kombination mit akademischen beruflichen Ausbildungsgängen gibt, so in Referendariaten verschiedener Berufszweige oder in der Ausbildung von Führungskräften (Geißler 1994, S. 198f). Reischmann (1995) führt bezogen auf lernende Erwachsene zwischen intentionalem und nicht intentionalem Lernen den Begriff des "Lernens en passant" ein, das er vom inzidentellen Lernen, nonformalen, informellen, informalen, spontanen, beiläufigen, natürlichen, kasuistischen Lernen, demheimlichen Lehrplan und ungewollten Nebenwirkungen abgrenzt. Nicht-intendiertes Lernen ergibt sich "en passant", ist also nicht das eigentliche Ziel des Handelns einer Person. Reischmann unterscheidet intentionale, aber nicht in einer Lernabsicht unternommene Aktivitäten (Reisen, Arbeit in Bürgerinitiativen), mit nicht intentionalen Geschehnissen verbundene Lerneffekte (Unfall, Beziehungskrise) und den lebensnahen Erwerb von Kompetenzen, deren Herkunft für die Person nicht mehr identifiziert werden kann.
Aus diesen wissenschaftlichen Begriffsbestimmungen wird deutlich, dass eine Abgrenzung zwischen diesen Lernformen oft nicht sinnvoll ist, da sie mehr oder minder alle den Sachverhalt des Erfahrungslernens beschreiben, das sich alltäglich "einfach so" ereignet. Nichtsdestoweniger hat dieses zufällige Lernen einen hohen Stellenwert im Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, wobei der Übergang zum absichtsvollen Lernen meist fließend ist.
Jacoby, Woloshyn & Kelley (1989) legten ProbandInnen eine Namensliste vor, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die Namen auf dieser Liste von nicht berühmten Personen stammen. Eine Teilstichprobe war während des Lesens der Liste durch die Bearbeitung einer weiteren Aufgabe abgelenkt, während sich die anderen die Liste ohne Ablenkung durchlesen konnten. Anschließend sollten sie auf einer weiteren Liste, die einige Namen von der vorherigen Liste und neue Namen enthielt, die Berühmtheit der genannten Personen einschätzen. Jene Vpn, die beim Lesen der ersten Liste abgelenkt waren, schätzten Personen, die auf beiden Listen erwähnt wurden, als berühmter ein. Sie bemerkten nicht, dass sie den Namen nur aufgrund des vorherigen Lesens wiedererkannten, sondern führten die Vertrautheit mit dem Namen auf die angebliche Berühmtheit der Person zurück. Die andere Gruppe hingegen konnte sich noch daran erinnern, dass die Namen auf der ersten Liste von nicht berühmten Personen stammten und hielten sie deshalb auch nicht für berühmt.
Literatur
Biss, R. K., Ngo, K. W. J., Hasher, L., Campbell, K. L., & Rowe, G. (2013). Distraction can reduce age-related forgetting. Psychological Science, 24, 448-455.
Jacoby, L. L., Woloshyn, V. & Kelley, C. M. (1989). Becoming famous without being recognized: Unconscious influences of memory produced by dividing attention. Journal of Experimental Psychology: General, 118, 115-125.
Pädagogische Literatur
Geißler, Harald (1995). Grundlagen des
Organisationslernens. Weinheim.
Lave, Jean & Wenger, Etienne (1991). Situated Learning.
New York.
Reischmann, Jost (1995). Die Kehrseite der
Professionalisierung in der Erwachsenenbildung. Lernen "en
passant" - die vergessene Dimension. GdWz 6/4.
Sandhaas, Bernd (1986). Bildungsformen (S. 399-406). In
Haller, Hans-Dieter; Meyer, Hilbert (Hrsg.), Ziele und
Inhalte der Erziehung und des Unterrichts. Stuttgart.
Jacoby, L. L., Woloshyn, V., & Kelley, C. M. (1989). Becoming
famous without being recognized: Unconscious influences of memory
produced by dividing attention. Journal of Experimental Psychology:
General, 118, 115-125.
http://www.informelles-lernen.de/
Wenn von Lernen die Rede ist,
fällt den meisten sogleich die Schule ein, dabei ist die Schule nur ein Lernort unter vielen. Lernen findet auch vor, neben und nach der Schule statt, wobei dieses informelle Lernen nicht nur zeitlich umfänglicher, sondern hinsichtlich der Aufgabe des Lernens für das Leben wohl auch bedeutsamer als das formelle Lernen in den Bildungseinrichtungen ist. Im schulischen Alltag werden die Kinder im Unterschied zum außerschulischen Alltag, bei dem sich die Lernanforderungen aus der jeweiligen konkreten Situation ergeben, nämlich mit Lernanforderungen konfrontiert, die von "allgemeiner Bedeutung" sind. Dieser Anspruch der Schule auf Vermittlung der Allgemeinbildung bedeutet konkret, dass sich die Lernanforderungen meist weder aus dem schulischen Alltag selbst herleiten und sich auch nur in Ausnahmefällen an den aktuellen Interessen und Neigungen der SchülerInnen orientieren, die diese in der außerschulischen Zeit ausgebildet haben. Der durch zahlreiche Untersuchungen nachgewiesene Motivationsabfall im Verlauf des Schulbesuchs deutet jedoch darauf hin, dass es Schule durch diese Lebensfremde nicht gelingt, das Interesse der SchülerInnen an diesen allgemeinen Bildungsinhalten zu erreichen. Vermutlich unterbleibt deshalb auch der Transfer des in der Schule erworbenen Wissens auf Alltagssituationen.
Empirische Untersuchungen zur Entwicklung und Veränderung schulischer Interessen kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass das allgemeine Interesse an dem Angebot der Schule im Verlauf des Schulbesuchs sowohl bei Jungen wie Mädchen kontinuierlich abnimmt. Allerdings überdeckt die Betrachtung des allgemeinen Interessenabfalls die unterschiedliche Entwicklung der Interessen im Hinblick auf einzelne Themen. Beim Fach Biologie, in dem der Interessenabfall nicht ganz so kraß wie in den anderen naturwissenschaftlichen Fächern war, wurde zum Beispiel festgestellt, dass bei Mädchen die Attraktivität der Themen über Tier- und Pflanzenkunde abnahm, im gleichen Zeitraum das Interesse an Menschen- und Umweltkunde deutlich anstieg (Krapp 1998, S. 187 ff).
Als "Lernen im Leben für das Leben", d.h. als Lernen, das unmittelbar in den Realanforderungen aktueller Lebenssituationen gründet, stellt das informelle Lernen eine äußerst wirkungsvolle Form des Lernens dar. Da dieses aber eher unsystematische und sogar unbewußte Lernen im Lebenszusammenhang jedoch nicht den Kriterien der künstlichen Form eines pädagogisch organisierten Lernens entspricht, wird es häufig nicht als "richtiges Lernen" angesehen. Dabei stellt dieses tastende, nach Verständnis suchende Lernen im Alltag die lebenslang praktizierte Grundform menschlichen Lernens dar, die als taugliches Mittel zur Lebenshilfe, d.h., der Wissens- und Kompetenzerweiterung gegenüber der eigenen Person wie der Welt erfahren wird.
Die Bedingungen, unter denen dieses alltägliche Lernen stattfindet, läßt in der Regel wenig Spielraum für eine weitergehende Reflexion und damit eine Verallgemeinerung und Systematisierung der alltäglichen Erfahrungen. Schule mit ihrem Anspruch einer Allgemeinbildung könnte ein solcher Ort der Reflexion, d.h. der Verallgemeinerung und Systematisierung alltäglicher Erfahrungen hin zu einer umfassenderen Bildung sein. Tatsächlich aber tut sich die Regelschule als Verkörperung von Fächerorientierung schwer, aus dem Lebenszusammenhang entstehende Fragen zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit zu machen. Die vielzitierte Öffnung von Schule ist bisher in Sonderaktionen steckengeblieben, die in der Regel unverbunden neben dem übrigen Unterricht herliefen und zudem für alle Beteiligten eine zusätzliche Arbeit darstellten.
Inzwischen scheint man eine Lösung der notwendigen Lebensweltorientierung offenbar darin zu sehen, dass man die Schule als Lebensraum entdeckt und diesen Lebensraum zu einem Wert an sich erklärt.
In letzter Zeit wurden sogar Stimmen laut, die den Versuch, die schulische Arbeit stärker an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen auszurichten, für einen Irrweg halten. Angesichts des atemberaubenden Tempos gesellschaftlicher Veränderung sei gerade eine Rückbesinnung auf den traditionellen Unterricht erforderlich. Indem man SchülerInnen allgemeines, auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhendes Wissen beibringe, werden sie erst instand gesetzt, auf die gesellschaftlichen Veränderungen flexibel zu reagieren. Allerdings könne der Schüler die Bedeutung dessen, was ihm im Unterricht geboten wird, nur selbst herausfinden, aber offenbar gelingt dies nicht jedem Schüler. Die Ergebnisse der Motivationsforschung deuten darauf hin, dass Schüler häufig Schwierigkeiten haben, in den unterrichtlichen Aktivitäten einen Sinn zu finden und daher findet auch kein Transfer des in der Schule erworbenen Wissens auf den Alltagstatt.
Die in den Jahren 1992 bis 1995 durchgeführte TIMSS-Studie zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht im internationalen Vergleich stellte jedenfalls fest, dass es den deutschen Schülerinnen und Schülern besonders an konzeptuellem und methodischem Verständnis, d.h. der Grundvoraussetzung für Transfer und schöpferische Anwendung fehlt (Baumert u.a. 1997, S. 22). Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Untersuchungen über das Wissen amerikanischer Schüler und Studenten schon in den 80er Jahren. Sobald natur-, gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse in einem ungewohnten Rahmen demonstriert werden sollten, griffen die meisten SchülerInnen und StudentInnen zu Erklärungsprinzipien, die ihrem angeblichen Wissen widersprachen (Gardner 1993, S. 192 ff).
Nach Ansicht von Experten ist die Verknüpfung des schulischen Lernorts mit anderen Lernorten eine allgemeine Herausforderung und Zukunftsaufgabe für unser Bildungswesen dar. Es besteht weitgehend Einigkeit, dass für die Entwicklung der künftig verstärkt erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale - wie Unternehmungsgeist, Kreativität, komplexe Planungs- und Problemlösungskapaziät - sowie die Entwicklung eines intensiveren sozialen Engagements für die Gemeinde über das Klassenzimmer hinausgehende Erfahrungs- und Bildungsräume sowie ein hohes Maß an selbständiger Planung und Eigentätigkeit der Kinder und Jugendlichen notwendig sind. Um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu genügen, wird nach Meinung einer Reihe von Experten die Entwicklung des Bildungswesens langfristig in Richtung eines kommunalen Bildungsraums gehen, in dem beide Formen des Lernens integriert, und an dessen Gestaltung neben der Schule auch weitere gesellschaftliche Kräfte - wie Familie, Kommune, Jugendhilfe und Arbeitswelt - beteiligt sind. Aus den bisherigen Ansätzen einer Verknüpfung kommunaler Lernorte - wird deutlich, dass in einem solchen vernetzten Bildungssystem auch in Zukunft der Schule eine zentrale Planungs- und Koordinationsfunktion zukommen wird. Auch wird Schule weiterhin der Ort sein, wo Erfahrungen in außerschulischen Lernorten reflektiert und im Sinne einer Allgemeinbildung aufgearbeitet werden. Es ist allerdings eine offene Frage, wieweit bei einer weiteren Verbreitung kommunaler Bildungssysteme der Grundssatz aufrechterhalten bleibt, dass bei der Wahl der außerschulischen Lernorte Kinder und Jugendliche mitbestimmen bzw. diese Orte sogar in weitreichender Eigenregie entsprechend ihren Interessen auswählen können, oder ob sich hier in Zukunft Verschulungstendenzen durchsetzen.
Quelle
Lipski, Jens (2000). Für das Leben lernen - aber wo? Anmerkungen zum Verhältnis von informellem und schulischem Lernen. München: Deutsches Jugendinstitut.
Literatur
Baumert, Jürgen, Lehmann, Rainer et al. (1997). TIMSS -
Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht im
internationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich.
Gardner, Howard (1993). Der ungeschulte Kopf. Wie Kinder
denken. Stuttgart: Klett-Cotta.
Krapp, Andreas (1998). Entwicklung und Förderung von
Interessen im Unterricht. In Psychol., Erz., Unterricht, 44,
S. 185 - 201.
Inzidentelles Lernen durch Massenmedien?
Ein typisches Beispiel für inzidentelles Lernen ist der Wissenserwerb über Massenmedien, denn hier liegt i.a. keine absichtliche und pädagogisch geplante Lernsituation vor. Der Wissenerwerb erfolgt nebenbei. Experimentelle Studien hierzu sind auch explizit für das Medium Fernsehen durchgeführt worden (Metzger 1988, Winterhoff-Spurk 1983). Zur Erklärung besseren Behaltens bei einer geplanten Lernsituation wird aber nicht der Aspekt des absichtsvollen oder inzidentellen Lernens als zentral angenommen (also die Lerneinstellung), sondern die durch das Material stimulierte oder vom Lerner absichtsvoll vorgenommene Tiefe der Verarbeitung. D.h. immer dann, wenn Information semantisch verarbeitet oder elaboriert wird, ist die Behaltensleistung besser.
Experimentelle Situationen, auch wenn sie naturalistisch gestaltet sind, erlauben aber keine Aussagen über den langfristigen Wissensaufbau durch Massenmedien. Eine andere Möglichkeit, solche Einflüsse zu untersuchen, besteht in der aktuellen oder retrospektiven Erhebung der Qualität des Fernsehkonsums und ihrer In-Beziehung-Setzung zu Wissensaspekten, die in informationsorientierten Fernsehsendungen enthalten sind. Bei solchen Feldstudien wurde eine positive Korrelation zwischen Nachrichtennutzung und politischem Wissen gefunden (Atkin & Gantz 1979, Adoni 1979). Die Kausalbeziehung verläuft zudem bidirektional. Auch von einem kausalen Einfluß des durch Sozialisationseinflüsse etablierten politischen Interesses kann ausgegangen werden (Conway et al. 1981, Lukesch 1992).
Der Hoffnung, dass also die intensive Zuwendung zu den Informationsangeboten zumindest der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten in der alltäglichen Fernsehsituation profundes zeitgeschichtliches Wissens zur Folge habe, hat sich nur partiell erfüllt. Warum ist dies so? Diese Frage kann unter Hinweis auf die für eine schulische Lehrsituation gegebenen Bedingungen beantwortet werden:
- Die Fernsehsituation ist primär keine Lernsituation; der Zuseher begegnet dem Fernsehen nicht in einer Schülerrolle und ist auch nicht veranlaßt, die Aktivitäten, die ein Lehrer von ihm üblicherweise fordert, von selbst auszuführen.
- Die Methoden, durch welche die Zuwendung zu einem Fernsehprogramm erhöht werden (z.B. hohe Aktivierung), sind nicht die gleichen, die einen hohen Lerneffekt garantieren.
- Das Informationsangebot der Massenmedien ist nur zum geringen Teil selbstgewählt, das Angebot dominiert. Es ist dabei weder frei explorierendes Lernen möglich, noch ist ein hierarchischer Aufbau von Wissensinhalten garantiert.
- Der Zuschauer wird kaum zu einer tieferen Verarbeitung des Informationsangebots aktiviert. Oberflächlich haben die Zuschaer zwar den Eindruck, Wissen erworben zu haben, einer genaueren Prüfung hält dieser subjektive Eindruck aber nicht stand. Anders formuliert: Die Fernsehdramaturgie fesselt für den Augenblick (durch schnelle Schnitte, Zooms, Perspektivenwechsel), Aufmerksamkeitserregung ist aber allein keine hinreichende Bedingung für längerfristiges gedächtnismäßiges Abspeichern. Die Rasanz der Darbietung - die "fehlende Halbsekunde" nach Sturm (1989, S. 58) - erschwert sogar notwendige Kategorisierungs- und Benennungsleistungen der Rezipienten.
- Massenmedien können auf (fehlendes) Vorwissen nur bedingt Rücksicht nehmen (z.B. indem allgemein auf größere Verständlichkeit, eine einfache Wortwahl und kurze Sätze geachtet wird). Andere Individualisierungsleistungen, die in der Schule erbracht werden (kontinuierliche Wissensdiagnose, Herstellen optimaler Herausforderungsniveaus, frühzeitiges Erkennen von Lernschwierigkeiten und Bereitstellen von Hilfen), können nicht in dem Massenmedium etabliert werden.
- Bei Verständnisproblemen kann der Zuschauer nicht nachfragen und um Erklärungen bitten. Individualisiertes Lernen ist so nicht möglich.
- Das Fernsehbild ist flüchtig, man kann es nicht festhalten und nicht unterbrechen; selbst wenn ein Recorder zur Verfügung steht, wird er nicht zu einem solchen Zweck genutzt.
Quelle
http://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PPS/Psychologie/ Lukesch/front/lehre/internetangebote/medien/kummed_inhalt.htm (14-10-02)
http://epub.uni-regensburg.de/2741/1/Medien_und_ihre_Wirkungen.pdf (14-10-02)
Latentes Lernen bei Blinden
In einer empirischen Studie mit je 20 blinden, sehbehinderten und normalsichtigen Jugendlichen und Erwachsenen gingen Perleth & Effinger (1996) der Frage nach, ob Blinde auditive Informationen generell tiefer verarbeiten und sich daher auch eher an beiläufig wahrgenommene Informationen besser erinnern als Normalsichtige und sehbehinderte Personen. Den Versuchspersonen wurde ein 30minütiges Hörspiel vorgespielt, anschließend bearbeiteten sie einen Fragebogen, in dem nach eher nebensächlichen Details gefragt wurde (Namen, Zahlen und konkrete visualisierbare Objekte). Ein Teil der Stichprobe bearbeitete die Fragen nach ca. 8 Wochen nochmals. Die Blinden stellten bei allen Vergleichen die leistungsstärkste Gruppe, die Sehbehinderten lagen bei den Zahlen und Objekten zwischen Blinden und Normalsehenden, bei Namen erzielten sie dasselbe Niveau wie letztere. Die Befunde lassen sich dahingehend interpretieren, dass sehgeschädigte Personen mehr Gedächtnisressourcen bei der Verarbeitung auditiver Informationen nutzen.
Quelle
Perleth Christoph & Effinger, Iris (1996). "Beiläufiges" Lernen bei Personen mit unterschiedlich starker Sehschädigung. Heilpädagogische Forschung Nr. 1
"Passives" Lernen in der Werbepsychologie
Jede Werbung soll Lernprozesse auslösen, daher werden die entsprechenden Botschaften so gestaltet, dass sie relativ schnell im Gedächtnis der Menschen abgespeichert werden können. Der Informationsinhalt von Werbung soll daher möglichst leicht lernbar sein, was daneben sowohl von ihrem Komplexitätsgrad wie ihrer Nähe zu den Kommunikationsgewohnheiten, dem Sprachverständnis und Symbolrepertoire der jeweiligen Zielgruppen abhängt. Die Schlüsselfrage in der Werbepsychologie lautet daher, wie und in welchem Maße sich die durch wiederholte Kontakte erzielte positive Einstellungen etwa zu einem Markennamen auf das beworbene Produkt übertragen lassen? Wie man aber weiß, führen wiederholte Kontakte auch zur Habituierung (Sättigung, Ermüdung) und beeinflussen damit den Affekt gegenüber dem Werbestimulus negativ. Nach Kaas et al. (1979) kommt die Habituierung mit der Produkterfahrung, denn mir ihr
- sinkt die Zahl der herangezogenen Informationsquellen,
- sinkt die Häufigkeit der Nutzung von Informationsquellen,
- werden eher markenspezifische Informationen und weniger produktgruppenbezogene Informationen gesucht und erworben,
- erfolgt Informationserwerb mehr über marketingdominierte Informationsquellen als über neutrale Quellen,
- nimmt der Erwerb von Informationen durch andere Personen ab.
Die Wirkung einer gegebenen Anzahl von Kontakten hängt wegen des Vergessens auch von der Länge des Zeitraums ab, in dem sie stattfinden. Krugman (1962, 1965) formulierte die These, dass drei Kontakte mit einer Werbebotschaft ausreichten, um eine Kaufentscheidung zu beeinflussen. Schon durch den ersten Kontakt erfolgt eine Reduktion konkurrierender Assoziationen, während der zweite Kontakt bereits evaluative und personenbezogene Reaktionen auslöst, also sich meistens die entscheidende Einstellungsänderung vollzieht und sich auch die Handlungsabsichten entwickeln. Die dritte Kontakt verstärkt lediglich die schon gebildeten Auffassungen und Absichten. Krugman fand Ähnlichkeiten der Lernkurven beim Lernen sinnloser Silben und dem Erinnern von Werbespots im Fernsehen und folgerte daraus, dass beiden Arten von Stimuli zwei Dinge gemeinsam sind:
- Sie werden wiederholt und
- von den Befragten als nicht besonders relevant empfunden.
Krugman folgerte, dass der Grad der aktiven, bewussten Auseinandersetzung mit Werbebotschaften meist überschätzt werde. Wenn Einstellungsänderungen erfolgen, dann als ganz minimale Veränderungen der relativen Bedeutung verschiedener Markenattribute, die durch die Werbung betont werden müssen. Solche leichten Veränderungen sind den Konsumenten in der Regel nicht bewusst und ließen sich letztlich nur im Kaufverhalten feststellen. Nach dem Kauf kommt es erst zu einer bewussten Einstellungsänderung. Eine für die Werbepsychologie wichtige Form des automatischen Lernens, d.h., des nicht willentlich kontrollierten Erwerbens, sind daher die kognitive Berieselung und "mere exposure". Diese beiden Prinzipien spielen Rolle
- Kognitive Berieselung bezeichnet den peripheren Informationserwerb, d.h. das nicht bewusste Aufnehmen und Abspeichern von Informationen, die in der Regel in kleinen Portionen, dafür aber häufig wiederholt als Reize angeboten werden. Sie haben nur auf diesem Wege eine Chance, gelernt zu werden, weil das Involvement der Zielpersonen nicht zu aktivem, massivem Informationserwerb ausreicht.
- Mere exposure ist ein ähnlich anspruchsloses Lernmuster mit einer spezifischen Wirkung auf Einstellungen. Die Idee eines "Effekts der bloßen Darbietung" auf die Bewertung eines Gegenstandes lässt sich bis zu den Pionieren der wissenschaftlichen Psychologie zurück verfolgen (etwa Fechner, James, Maslow). Es dauerte aber gut hundert Jahre, bis Zajonc (1968) den ersten systematischen experimentellen Beweis dieses Effektes vorlegte. In diesem berühmten Experiment wurden den ProbandInnen vermeintlich chinesische Schriftzeichen vorgelegt. Die ProbandInnen sollten die Darbietung der Zeichen aufmerksam verfolgen, wobei die Darbietungshäufigkeit der einzelnen Zeichen variiert wurde. Anschließend sollten die Vpn auf einer Skala die von ihnen vermutete positive bzw. negative Bedeutung der Zeichen einschätzen. Es zeigte sich, dass mit zunehmender Darbietungshäufigkeit die Zeichen positiver bewertet wurden.
- Nach Robert B. Zajonc bewertet man einen Gegenstand umso positiver, je häufiger man ihm ausgesetzt ist. Ein früher schon einmal verarbeiteter Reiz wird lediglich aufgrund dieser früheren Darbietung positiver eingeschätzt. Die vorherige Darbietung führt in der Folge zu einer vereinfachten Verarbeitung des Reizes. Das Individuum schreibt diese vereinfachte Reizverarbeitung fälschlicherweise den positiven Eigenschaften des Reizes zu. Dabei handelt es sich aber um eine Fehlzuschreibung, denn die erleichterte Verarbeitung resultiert aus der früheren Verarbeitung des Reizes und nicht aus dessen positiven Eigenschaften. Zajonc konnte nachweisen, dass die Ursache des "Mere-Exposure-Effektes" die Darbietungshäufigkeit und deren Wirkung die verbesserte Einstellung gegenüber dem Reiz ist, also schon das wiederholte Ausgesetztsein gegenüber einer Information, genügt, um die Information bzw. den von ihr gemeinten Gegenstand sympathisch zu finden (wenn keine anderen, widersprechenden Erfahrungsquellen wirksam werden). Es ist also z.B. möglich, dass wenig involvierte Konsumenten wiederholt einen Markennamen aufnehmen - und zwar absichtslos, ja sogar unbemerkt - und danach Sympathie gegenüber dieser Marke empfinden. Nach E. Burnstein (1967) gilt diese Hypothese in reiner Form (bloße Wiederholung verbessert Einstellungen) nur, wenn keine enge Beziehung zwischen dem Stimulus und anderen bereits positiv oder negativ belegten Objekten besteht. Nach F. Hansen (1972) schließlich funktioniert "mere exposure" nur bis zu einem bestimmten Grad der Reizdarbietung, danach setzen Reaktanz-Effekte durch Wahrnehmung der Wiederholungsbeeinflussung ein. Später belegte Zajonc (1980), dass die Mere-exposure-Hypothese auch dann gilt, wenn die Versuchspersonen sich nicht an den Reiz erinnern können. Der Mere-exposure-Effekt tritt insbesondere bei Low-Involvement-Stimuli ein, wie sie häufig im Marketing vorkommen. Die meisten Erklärungsversuche basieren auf der Annahme des Aufbau einer perzeptuellen Geläufigkeit, der die erleichterte Wahrnehmung, Enkodierung und Verarbeitung eines Objekts in Folge dessen wiederholter Wahrnehmung bezeichnet.
- Insgesamt hat die Forschung gezeigt, dass der "Mere-Exposure-Effekt" bei vielen Reizen auftritt, wie z.B. Personen, Bildern, Tönen, Nahrungsmitteln oder Gerüchen. Die in den Experimenten gefundenen Effekte sind im Alltag noch viel ausgeprägter zu beobachten, da ProbandInnen im Labor allen Informationen eine gewisse Aufmerksamkeit zuwenden. Im Alltag hingegen ist man einer enormen Reizflut ausgesetzt, so dass viele Aspekte nur unbewusst aufgenommen werden können. Für die Werbung ist es daher nicht so wichtig, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu wecken, sondern im Gegenteil eher bewusstes Erinnern zu vermeiden. Die unbewusst verarbeiteten Informationen leiten somit erst jenen Prozess ein, welchem sich die Konsumenten nicht entziehen können. Die Wirkung der Werbung auf das Verhalten erfolgt also spontan und direkt nach der Wahrnehmung. Zur Überprüfung der Wirksamkeit einer Werbung kann also nicht bloß die bewusste Erinnerungsleistung als Maßstab herangezogen werden, da das Kaufverhalten im hohen Maße von unbewussten Prozessen beeinflusst wird.
- Der Mere-Exposure-Effekt kann auch erklären, warum ältere Menschen die Musik junger Menschen eher ablehnen bzw. nicht verstehen. Einerseits gibt es Indizien dafür, dass sich die Fähigkeit des Gehirns, subtile Unterschiede zwischen verschiedenen Akkorden, Rhythmen und Melodien zu machen, mit zunehmendem Alter verschlechtert, sodass für ältere Menschen neuere, weniger bekannte Musik wirklich alle gleich klingen, andererseits eben auch am Mere-Exposure-Effekt, denn je mehr Menschen der neuen Musik ausgesetzt sind, desto mehr neigen sie dazu, diese zu mögen. Wenn man als junger Mensch sehr viel Zeit damit verbringt, Musik zu hören oder Musikvideos anzuschauen, werden die eigenen Lieblingslieder und -künstler vertraut und erfüllen den eigenen Alltag. Bei Menschen nehmen danach aber die Berufs- und Familienpflichten in der Regel so zu, dass wenig Zeit bleibt, neue Musik zu entdecken, sondern sie hören viel lieber die alten, vertrauten Lieblingslieder aus der Jugend, in der sie noch Zeit für Musik hatten.
- Bis heute wurden zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen dazu unternommen und der Effekt gilt als reliabler Effekt moderater Stärke allgemein anerkannt (vgl. Bornstein 1989). In einer umfassenden Metaanalyse fasste er die bisherigen Erkenntnisse zusammen: Der "Mere-Exposure-Effekt" fällt am stärksten aus, wenn die Darbietungshäufigkeit im mittleren Bereich liegt (ca. 10-20 mal), wobei zu häufige Darbietung den Effekt verringert (z.B. aufgrund von Langeweile); die Darbietungsdauer kurz ist (weniger als eine Sekunde); der Reiz komplex ist; die Bewertung nicht unmittelbar nach der Darbietung erfolgt; bewusstes Erinnern unwahrscheinlich ist, d.h., wenn die Aufmerksamkeit gering ist, denn der "Mere-Exposure-Effekt" ist kein Wiedererkennungseffekt. (implizites Gedächtnis); der Darbietungsabstand länger ist; der Reiz neutral ist (bei positiven und negativen Reizen wurden schwächere Effekte beobachtet); die Rezipienten älter sind, insbesondere bei Kindern zeigten sich nur schwache "Mere-Exposure-Effekte".
Allgemein betrachtet hängen die Lernleistungen von der persönlichen Aktivierung und Motivation sowie von den Bedingungen ab, unter denen gelernt wird. Stark kognitiv involvierte Empfänger lernen auch schwer einprägsame Informationen relativ schnell, oft sogar bei einmaliger Aufnahme. Bei schwachem Involvement wird dagegen nur gelernt, wenn das dargebotene Lernmaterial einprägsam ist und oft wiederholt wird. Auf die persönliche Aktivierung und Motivation kann die Werbung selbst nur in geringem Maße Einfluss nehmen. Es gibt allerdings die Möglichkeit, die Empfänger zusätzlich und vorübergehend durch die Werbung zu aktivieren und dadurch ein "Reaktions-Involvement" auszulösen. Das setzt zunächst einmal eine aktivierende Gestaltung der Werbebotschaft voraus. Aus den Gesetzmäßigkeiten der Aktivierung folgt, dass eine (physisch) intensive und unterhaltsame Werbung besser behalten wird als eine stereotyp gestaltete, schwache und langweilige Werbung. Je größer das Aktivierungspotenzial der Werbung ist, um so besser bleibt diese im Gedächtnis haften (Verstärkungswirkung der Aktivierung).
In einer Untersuchung des Instituts für Konsum- und Verhaltensforschung wurde drei inhaltlich gleichen Anzeigen, die gleiche Anforderungen an die Lernleistung der Umworbenen stellten, ein unterschiedlich starkes Aktivierungspotenzial (schwach, mittel, stark) gegeben. Dies wurde erreicht, indem man eine schwarzweiße Anzeige farbig gestaltete und dem Bildmotiv eine stärkere erotische Durchschlagskraft gab. Die Anzeige, die am stärksten aktivierte, erzielte bereits nach einem Kontakt einen Erinnerungswert, der mehr als 60 % höher lag als der Erinnerungswert der schwach aktivierenden Anzeige. Der Erinnerungswert wurde durch gestützte Recall-Messungen ermittelt. Die Entwicklung der Erinnerung im Zeitablauf weist auf die ökonomische Bedeutung der Aktivierungstechnik hin: Nach einer anderen Untersuchung mit demselben Material benötigte die schwach aktivierende Anzeige mehr als fünf Darbietungen, um einen Erinnerungswert zu erzielen, den die stark aktivierende Anzeige bereits beim ersten Kontakt erreicht hatte.
Die wichtigste Anwendung der klassischen Konditionierung in der Werbung ist daher die emotionale Konditionierung. Dabei wird ein anfangs bedeutungsarmer Markenname allmählich fest mit einem bestimmten positiven Gefühl verknüpft. Ziel ist es, beim wenig involvierten Konsumenten eine positive Grundeinstellung zu einem bisher nur schwach profilierten Produkt zu erreichen, um so die Wahrscheinlichkeit des Kaufs dieser Marke zu steigern. Gegenstand der Konditionierung ist nicht die physische Marke, sondern ihre symbolische Repräsentation, meist in Form des Namens oder eines Logos. Die Marke muss häufig wiederholt zusammen mit wechselnden, aber immer zur selben positiven Gefühlsart gehörenden Auslöserstimuli gezeigt werden, wobei zugleich emotional und kognitiv konditioniert werden sollte.
Zur Einstellungsbildung als Informationserwerb gehört auch der Erwerb von Prädispositionen und Schemata, die über den engeren Einstellungsbegriff hinausgehen. So setzt z.B. die Bildung von Evoked Sets einen (zeitlich verteilten) Lernprozess voraus. Dabei kommt sowohl das Lernprinzip der Generalisierung hinsichtlich ähnlich erscheinender Marken wie das Prinzip der Differenzierung hinsichtlich verschieden erscheinender Marken zur Anwendung. Das sukzessive Erlernen von Markentreue kann auch auf die Imitation von Vorbildern zurückgehen.
Der durch Werbung angeregte Lernprozess unterscheidet sich vom herkömmlichen Lernen, weil es sich dabei um "passives Lernen" handelt. Grundsätzlich steigt zwar der Lernerfolg mit wachsender Kontakthäufigkeit zunächst einmal an, denn nach der "Strength"-Hypothese wird bei wiederholten Begegnungen mit demselben Inhalt die Spur dieses Inhalts im Gedächtnis ("memory trace") verstärkt. Allerdings werden neben dem eigentlichen Lerninhalt mit jedem Kontakt auch die Umstände mitgespeichert, es kommt also nicht zu einer einzelnen Spur sondern zu einem Bündel von Spuren ("Multiple Trace-Hypothese"). Danach werden Wiederholungen eines Inhalts durch Vervielfältigung von Spuren repräsentiert, in denen auch die Informationen über die zeitliche Abfolge und die Anordnung der einzelnen Wiederholungen aufbewahrt werden.
In der "Frequenz-Theorie" des Gedächtnisses postuliert Benton J. Underwood, dass bei der Wiederholung eines Inhalts neben den Lernumständen auch die Darbietungshäufigkeit abgespeichert wird. Die Frequenztheorie des Gedächtnisses hat sowohl für das Lernen von Unterscheidungen zwischen Inhalten (verbal discrimination learning) wie auch für das Wiedererkennen (recognition memory) einige Konsequenzen:
- Lernerfolg hängt stark von der Frequenz, nur schwach von der Darbietungsdauer ab.
- Die Dauer, während der ein Inhalt vorgelegt
wird, hat einen geringen Einfluss
- auf die Einschätzung der Darbietungshäufigkeit,
- auf das Wiedererkennen,
- auf das freie Erinnern des Inhalts.
- Dagegen zeigte sich, dass die Häufigkeit, mit
der ein Inhalt vorgelegt wird, hoch korreliert
- mit der subjektiven Einschätzung der Frequenz,
- mit der subjektiven Einschätzung der Darbietungsdauer,
- mit dem Wiedererkennen,
- mit der freien Erinnerung des Inhalts.
Underwood fand in weiteren Experimenten bestätigt, dass der Lernerfolg in hohem Maße von der Wiederholungsfrequenz, aber in geringem Masse von der Darbietungszeit abhängt.
- Wiederholung beeinflusst den Lernerfolg (Wiedererkennung) relativ stark.
- Lernzeitdauer beeinflusst den Lernerfolg (Wiedererkennung) nur relativ schwach.
- Nicht nur der Lerninhalt, auch die Lernumstände werden im Gedächtnis gespeichert. Gespeichert wird im Gedächtnis nicht nur der gelernte Inhalt, sondern auch der Lernvorgang selbst und seine Umstände. Dies ist möglich, weil die einzelnen Lernanstöße jeweils differenzierbare Spuren hinterlassen.
Auf Werbung übertragen hat die Zielperson also nicht nur bestimmte Inhalte der Werbebotschaft verfügbar, wenn sie Anzeigen der Kampagne gesehen hat. Sie hat dazu auch noch einen Eindruck von der zeitlichen und mediamäßigen Verteilung der einzelnen Anstöße der Kampagne, eventuell auch von der Situation und Stimmung beim Rezipieren. Auf diesem Wege können sich an die Werbebotschaft positive oder negative Assoziationen anlagern, die aus dem Werbeträger stammen. Die Frequenzen werden im Gedächtnis nicht einfach in Form eines mitlaufenden Gesamtzählers gespeichert, der ja jeweils nur den Gesamtendstand anzeigen könnte, wie dies angenommen werden müsste, wenn es nur auf die Gesamtstärke der Gedächtnisspuren ankäme. Dass die Versuchspersonen die Frequenzen von Ereignissen für unterschiedliche Gruppen von Ereignissen bzw. für unterschiedliche Zeitperioden nachträglich unterscheiden können, ist nur dann möglich, wenn jede einzelne Wiederholung eine eigenständige Spur hinterlässt und wenn diese Einzelspuren mit Zeitmarkierungen (time tags = Zeitetiketten) versehen sind, die nachträglich gestatten, die Erinnerungen an die einzelnen Wiederholungen später bei einer neu auftretenden Fragestellung entsprechend zu gruppieren.
Wenn die Lernkurven bei steigender Wiederholungszahl fallende Zuwächse im Lernerfolg zeigen, so könnte man daraus ableiten, dass es ökonomisch nicht sinnvoll ist, die Kontaktzahl pro Person zu erhöhen, weil der Grenznutzen sinkt. Dies steht in enger Beziehung zum Konzept des "Überlernens".
Die experimentelle Psychologie hat Belege dafür geliefert, dass es unterschiedliche Gedächtnisse für verbale Inhalte, für Bilder und für Vorstellungen ohne verbalen Inhalt gibt. Wird etwa nur der visuelle Gehirnbereich angesprochen, kommt es zu keinem verbalen Erinnerungswert, da hier vorwiegend Bilder gespeichert sind. Siehe dazu allerdings auch Rechte versus linke Gehirnhälfte?
Wie intensiv die Werbung auf den Menschen einwirkt, wird auch vom Grad des Interesses beeinflusst, das er einem Produkt oder dem Werbemittel entgegenbringt. Ist das Interesse groß, wird die Wirkung der Werbung entsprechend stark sein, ist das Interesse gering, ist die Wirkung der Werbung ebenfalls gering (Prinzip der selektiven Wahrnehmung). So wird ein Fußball-Giveaway bei einem waschechten Fan zur nächsten Fußballsaison sehr wahrscheinlich genau den richtigen Nerv treffen und nachhaltig die Wahrnehmung der Werbung stärken. Trifft man die Zielgruppe zum richtigen Zeitpunkt mit dem passenden Werbemittel, kann man die selektive Wahrnehmung erfolgreich beeinflussen.
Quelle
Koschnick, Wolfgang J. (2004). Werbeplanung -
Mediaplanung. Marktforschung -
Kommunikationsforschung - Mediaforschung.
WWW: http://medialine.focus.de/
PM1D/PM1DB/PM1DBF/
pm1dbf.htm?snr=3314 (04-03-01)
Literatur
Bornstein, R. F. (1989). Exposure and affect: Overview and
meta-analysis of research 1968-1987. Psychological Bulletin,
106, 265-289.
Krugman, Herbert E. (1962). An Application of Learning
Theory to TV Copy Testing. Public Opinion Quarterly, 26,
626-634.
Krugman, Herbert E. (1965). The Impact of Television
Advertising: Learning Without Involvement. Public Opinion
Quarterly 29, 349-356.
Zajonc, R. B. (1968). Attitudinal effects of mere exposure.
Journal of Personality and Social Psychology, Monograph
Supplement, 9 (2, part 2), 1-27.
Zielske, Herbert A. (1959). The remembering and forgetting of
advertising. In: Journal of Marketing, Vol. 23, No. 1, S. 239-243.
Herbert A. Zielske (1959) versuchte,
das Ausmaß zu messen, in dem sich Konsumenten an
Werbung erinnern können bzw. sie wieder vergessen. Dazu
verschickte er 13 verschiedene Anzeigenseiten einer
Werbekampagne in Umschlägen, die jedes Mal eine andere
Farbe hatten und verschiedene Absender aufwiesen, sowie mit
Briefmarken frankiert waren, um zu verhindern, dass die
Empfänger den Werbebrief als solchen erkennen konnten
und vor dem Öffnen wegwarfen. Durch Zufallsauswahl
wurden aus dem Telefonbuch von Chicago zwei Gruppen von
Frauen ausgesucht. Die erste Gruppe erhielt die Anzeigen
wöchentlich, die zweite Gruppe erhielt die gleichen
Anzeigen im Abstand von vier Wochen zugesandt, sodass es ein
ganzes Jahr dauerte, bis sie alle Anzeigen erhalten hatten.
Dann wurde mit Hilfe von 3650 Telefoninterviews die
Erinnerung an die Werbung in Erfahrung gebracht. Die
wöchentlichen Kontakte steigerten die Erinnerung
schneller als die vierwöchentlichen Zusendungen. So
konnten sich nach dreizehn Zusendungen 63 % der Frauen, die
wöchentlich beschickt wurden, an die Werbung erinnern.
Bei der anderen Gruppe waren es nach dreizehn Zusendungen
nur 48 %. Andererseits wurde die Werbung von der ersten
Gruppe auch schneller vergessen. Werbeeinschaltungen mit
einem wöchentlichen Intervall führen also zu einer
anderen Art von Erinnerung als Einschaltungen mit einem
vierwöchentlichen Intervall. Werbung wird rascher
vergessen, wenn der Konsument ihr nicht beständig
ausgesetzt ist, wobei mit der Anzahl der werblichen
Einschaltungen die Vergessensrate sinkt. Besteht das
Werbeziel darin, kurzfristig eine maximale Zahl von
Werbeerinnerern zu erreichen, empfiehlt sich eine Massierung
der Wiederholungen. Wünscht man hingegen eine hohe
durchschnittliche Erinnerung an die Werbung während
eines ganzen Jahres, ist eine Gleichverteilung über
diesen Zeitraum notwendig.
Alfred Politz (1960) erbrachte in der "Rochester-Studie" an
Lesern der "Saturday Evening Post" den Nachweis, dass zwei
Anzeigenkontakte beim selben Leser manchmal sogar mehr als
den doppelten Wert besitzen, denn durch den zweiten Kontakt
wird der Lernprozess intensiviert, da man etwas umso
leichter aufnimmt, wenn man es schon einmal gesehen hat.
Allerdings unterscheiden sich Menschen insofern, als bei
manchen ein einziger Kontakt genügt, während
andere einen zweiten benötigen, um die Botschaft
richtig zu erfassen.
inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::