Gehirn und Lernen
Beim Gehirn führt die Evolution zu Anpassungs- und Lernprozessen, die sich auch neuronal niederschlagen. So hat der aufrechte Gang das Gehirn dadurch massiv beeinflusst, dass die Hände frei wurden und der Daumen durch Opposition eine anatomische Sonderstellung einzunehmen begann, wobei sich die motorische Gehirnrinde und die Tastsinnfelder in der Großhirnrinde entsprechend angepasst haben. Mit der Erfindung der Sprache ist aus einem Bereich im Motorcortex, der den Kehlkopf und die Zunge steuert, das Broca-Areal erwachsen, das nicht nur die Motorik der Sprache steuert, sondern auch eine grammatikalische Schnellanalyse der Sprache vornimmt. Der Gyrus angularis, eine Region am Schläfenlappen ist fast ausschließlich für das Schreiben und Lesen zuständig und hat sich erst durch die lesende Gesellschaft in den letzten 500 Jahren herausgebildet. Die Großhirnrinde ist offensichtlich ein prädisponierter Platz für neue Anforderungen und passt sich in der Individualentwicklung eines Menschen an kulturelle Errungenschaften an, nicht aber durch eine Veränderung im genetischen Bauplan. Auch die menschliche Intelligenz hat sich weitgehend auch nur den gestiegenen Anforderungen angepasst, z.B. durch die allgemeine Schulpflicht, die Verstädterung, die Technisierung oder die bessere Ernährung. Menschliche Gehirne sind dafür gebaut, kulturell prägbar zu sein, d.h., es gibt Gehirnareale, die nur darauf warten, dass dort eine "Problemlösungs-Software" installiert wird.
Zusammengefasst nach einem Interview mit Martin Korte (TU Braunschweig) im FOCUS vom 12.10.2009.
Im Großhirn von Erwachsenen bilden sich doch neue Zellen
- die Funktionsweise des limbischen Systems mit der Bewertung von Informationen und der dadurch ausgelösten autonomen Gehirnaktivitäten,
- die Spiegelneurone, die als Grundlage des Lernens am Modell sowie des Verständnisses des Gehirns als eines "sozialen Organs" dienen können,
- der Überschuss an Nervenzellverbindungen in den ersten Lebensjahren, der später wieder abgebaut wird, wenn sich die Synapsen durch Anregung und Gebrauch gefestigt haben,
- die Strukturierung der Gehirnfunktionen auch in Abhängigkeit von deren Nutzung sowie von gemachten Erfahrungen,
- die "soziale Resonanz" wie Beachtung, Zuwendung und Anerkennung als wesentlicher Faktor und das dadurch entstehende Zusammenspiel von motivationswirksamen Neuromodulatoren (Dopamin, endogene Opioide, Oxytozin) im körpereigenen "Belohnungssystem".
Viele Erkenntnisse vor allem im Hinblick auf die Motivation von SchülerInnen kannten auch manche Pädagogen der vorigen Jahrhunderte schon lange, allerdings kann nun manches mit neurowissenschaftlichen Befunden und Argumenten belegt werden, warum sie mit dem, was sie ahnten oder wussten, Recht hatten.
Die Zellen des Gehirns sind beim erwachsenen Menschen fest miteinander verknüpft und strukturiert. Viele Wissenschaftler waren sich bisher sicher, dass eine Neurogenese in den neueren, höher entwickelten Hirnregionen nicht vorkomme. Schließlich brauche das Hirn eine stabile stützende Struktur um Erinnerungen zu speichern und abrufbar zu machen. Die als Neurogenese bezeichnete Neubildung von Nervenzellen ist schon seit einiger Zeit bei Vögel und Ratten bekannt, wurde aber noch nie bei Säugetieren nachgewiesen. Die alte Lehrmeinung besagte auch, dass das Gehirn Verletzungen oder Erkrankungen nicht regenerieren kann. Anders als andere Zellstrukturen, hätte das Gehirn nicht die Gabe der Selbstheilung. Dieses Dogma war schon durch die Forschungsergebnisse der letzten zehn Jahre bereits ins Wanken geraten: In verschiedenen alten Hirnregionen aus der Frühzeit der Evolution - etwa dem Riechsystem, dem Hippocampus und der Amygdala - hatte man schon bei erwachsenen Primaten neugebildete Neuronen nachweisen können. Die entwicklungsgeschichtlich neuere Großhirnrinde, der größte und komplexeste Teil des Hirns, galt bisher als Ausnahme für die Selbstregenerierung.
Nun konnte das alte Dogma der menschlichen Hirnforschung, dass sich im erwachsenen Gehirn keine neuen Zellen bilden können, durch neueste Forschungsergebnisse jedoch beendet werden. In "Nature" berichtet die amerikanische Forscherin Sherre Florence (Vanderbilt Universität), dass im Gehirn von Affen Nervenzellen nach einem neurologischen Schaden die Reichweite ihrer Ausläufer (Dendriten) verdoppelt haben. Die untersuchten Affen wiesen Verletzungen auf, die eine Signalübertragung der sensorischen Nervenbahnen der Hand zur Großhirnrinde nicht mehr ermöglichten. Die im Gehirn (Cortex) betroffenen Nervenzellen suchten sich daraufhin neue Aufgaben. Mit Hilfe von bildgebenden Untersuchungsverfahren fand Florence heraus, dass die anfänglich "arbeitslosen" Zellen Verbindungen zu weiter entfernt gelegenen Neuronen aufgenommen hatten. Die neuen Kontakte schienen voll funktionsfähig zu sein, was ein verändertes Aktivitätsmuster der betroffenen Hirnareale zeigte.
Fred H. Gage vom Salk (Institute for Biological Studies) und seine Kollegen berichten, dass sich Zellen im menschlichen Gehirn sogar teilen können. Bisher waren die Forscher der Meinung, dass Hirnzellen schon kurz nach der Geburt bzw. in den ersten Lebensjahren aufhören, sich zu durch Teilung zu vermehren. Nach Gage behält das menschliche Gehirn im Verlaufe des gesamten Lebens das Potential zur Selbsterneuerung.
Edward Jones (Universität Kalifornien), Davis und Tim Pons (Wake Forest-Universität) berichten, dass sich bei Affen, denen die Armnerven durchtrennt wurden, zwar die davon betroffenen Areale des Gehirns geschrumpft sind, andere benachbarte Gehirnareale sich dagegen ausgeweitet haben. Bei weiteren Untersuchungen fanden die Forscher außerdem Veränderungen im Thalamus (Hauptteil des Zwischenhirns und Verbindung zum Großhirn). Mindestens ein Drittel des gesamten sensomotorischen Kortex besitzt die Fähigkeit, sich zu reorganisieren bzw. neu zu organisieren.
Da das Gehirn von Menschenaffen dem menschlichen in seinen wichtigsten Strukturen ähnlich, lässt sich die Entdeckung mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf das menschliche Gehirn übertragen. Besonders im Zweifel steht jetzt die ebenso alte Annahme, dass die ersten drei Lebensjahre für die Entwicklung und Verknüpfung der Hirnzellen unersetzbar sind. Wahrscheinlicher (und teilweise schon nachgewiesen) ist, dass auch Erlebnisse in der Jugend und im fortgeschrittenen Alter die physische Hirnstruktur beeinflussen können. Die neuen Neuronen werden in der Auskleidung der Hirnventrikel gebildet. Von dort legten die neuen Zellen beträchtliche Strecken zu den verschiedensten Regionen im Hirn zurück.
Der Regensburger Neurologe Arne May und sein Team ließ eine Gruppe von 24 ProbandInnen drei Monate lang eine einfache Jonglierübung (drei Bälle mindestens 60 Sekunden lang in der Luft zu halten) erlernen. Deren Gehirne wurden vor und nach dem Training sowie nach einer dreimonatigen Trainingspause untersucht und mit den Daten untrainierter Probanden verglichen. Um die Veränderungen im Hirn zu lokalisieren und darzustellen, wurden mittels Magnetresonanztomographie (MRT) Aufnahmen angefertigt. Mit der Voxel-basierten Morphometrie (VBM) wurde das dreidimensionale Gehirnvolumen in verschiedene Gewebearten segmentiert, die dann in jedem Bildpunkt (Voxel) analysiert werden konnten, wodurch Vergleiche zwischen mehreren Personen möglich werden. Ließen sich anfangs keine wesentlichen Unterschiede in der grauen Substanz der beiden Gruppen feststellen, zeigte sich bei den Jongleuren eine deutliche beidseitige Vergrößerung der grauen Substanz in der linken hinteren Furche zwischen oberem und unterem Seitenläppchen (intra-parietaler Sulcus, der für das Ergreifen von Gegenständen verantwortlich ist). Dieses Gehirnareal ist darauf spezialisiert, Bewegungen von Objekten im dreidimensionalen Raum wahrzunehmen. Diese Vergrößerung hatte sich jedoch nach der dreimonatigen Trainingspause teilweise wieder zurückgebildet hatte. Da alle ProbandInnen über normale motorischen Fähigkeiten verfügten, gibt es einen gesicherten Zusammenhang zwischen den Veränderungen im Gehirn und dem Erlernen des Jonglierens. Unklar bleibt allerdings, welche Mechanismen der vorübergehenden Gehirnvergrößerung zugrunde liegen. Man vermutet, dass die Veränderungen von einer Zunahme der Synapsen oder der Neuriten herrühren könnten. Eine weitere Möglichkeit wäre die vermehrte Zellentstehung bei der Stützsubstanz (Glia) oder den Neuronen.
Allerdings: Die jüngst verbreitete Annahme, dass auch im Neocortex, dem obersten, "modernsten" Teil der Großhirnrinde, neue Nervenzellen gebildet werden, dürfte jedoch nicht zutreffen. US-Forscher fanden bei Makaken mit Hilfe eines Indikators für DNA-Replikation heraus, dass sich im Neocortex nur nichtneuronale Zellen (also etwa Gliazellen) teilen.
"The Dendrite Song"
nach der Melodie von "Clementine"
von B. Leah, Long Island University
Use your dendrites,
Use your dendrites,
To connect throughout your brain.
Take in info, analyze it,
Grow some new ones
Unrestrained.
Axons send out
Neurotransmitters
To the dendrites all around
Across the synapse
Jumps the impulse
New ideas can now abound.
Stimulation
Is what the brain needs
To make dendrites stretch and grow.
New connections
Make us smarter
In what we think and what we know.
Use your dendrites,
Use your dendrites,
To connect throughout your brain
Take in info, analyze it,
Grow some new ones
Unrestrained.
Text- und Bildquelle:
http://faculty.washington.edu/chudler/songs.html
Tonquelle:
http://www.angelfire.com/de/STMIDI/MIDI/MYDARLINGCLEMENTINE.MID
Wachstum der synaptischen Verbindungen
http://brain.exp.univie.ac.at/GraEN15.GIF (02-01-12)
Der Cortex ist bekanntlich in verschiedene Areale unterteilt, die in unterschiedlicher Art und Weise an der Wahrnehmung von Sinnesreizen, der Entscheidungsfindung und dem Auslösen von Handlungen beteiligt sind. Der Austausch von Information zwischen den Hirnrindenarealen, die untereinander komplex vernetzt sind, ist dabei wichtig für eine optimale Verarbeitung der Sinnesreize, doch welche Signalflüsse sich innerhalb der Hirnrinde ausbilden und insbesondere wie sich diese bei neuen Herausforderungen anpassen, ist noch weitgehend unverstanden. In neueren Untersuchungen (Chen et al. 2013, 2015) konnte gezeigt werden, dass wenn Mäuse Neues lernen, sich die Signalausbreitung innerhalb der Hirnrinde zwischen verschiedenen verbundenen Regionen verändert, wobei in einem Signalweg die Repräsentation des relevanten Sinnesreizes verstärkt, in einem anderen Signalweg spiegelt sich hingegen im zellulären Aktivitätsmuster das Entscheidungsverhalten wider. Diese Ergebnisse belegen, wie mit neurowissenschaftlichen Methoden die Anpassung der Hirnaktivitätsmuster beim Lernen entschlüsselt werden kann, denn der Cortex von Säugetieren ist entscheidend an der Verarbeitung von Sinneseindrücken beteiligt.
Wann gelernt wird, bilden die Neuronen im Gehirn Synapsen mit Nachbarzellen aus. Wird das Gelernte behalten, so werden aus diesen Kontaktstellen langfristige Verbindungen. Die Speicherkapazität für Erinnerungen im Hippocampus, dem Bereich des Kurzzeitgedächtnis, ist allerdings begrenzt. Wie Studien belegen, konkurrieren Informationen um den Platz im Kurzzeitgedächtnis, wobei alte Erinnerungen gelöscht werden, um neue Informationen aufzunehmen, wobei die alten Informationen jedoch nicht unbedingt verloren gehen, sondern unter Umständen in das Langzeitgedächtnis kopiert werden. Beim Lernen entstehen vermehrt neue Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen des Hippocampus, wobei neue Verbindungen alte schrittweise auslöschen, doch dieser Löschprozess beschleunigt allerdings den Transfer der alten Erinnerungen in den Neokortex, also in das Langzeitgedächtnis. Intensives Üben beschleunigt demnach die Übertragung von neuen Informationen in den Neokortex.
Ganz allemeine betrachtet bilden sich immer dann, wenn wir sehen, denken, erkennen, fühlen oder handeln, neue synaptische Verknüpfungen, die dann länger oder eben etwas kürzer bestehen. Das Andocken des Neurotransmitters an seine Zielzelle löst dort vielfältige biochemische Prozesse aus und schaltet dabei auch Enzyme zur Synthese von Molekülen in den Zellen an. Alle Signale hinterlassen somit ihre biochemische Spur in der Zielzelle. Beim Kurzzeitgedächtnis eines Menschen wird durch einen "zweiten Boten“ die Verbindung zwischen Ausgangs- und Zielzelle kurzzeitig gestärkt. Bei einer Intensivierung der Übertragung bleibt dieser Botenstoff länger erhalten und aktiviert über das Protein "Creb" bestimmte Genprogramme. Durch diese Prozesse wird ein flüchtiger Gedächtnisinhalt in unserem Langzeitgedächtnis fixiert. Creb gilt als der biochemische Hauptschalter des Langzeitgedächtnisses. Die elektrophysiologische Entsprechung des sich wiederholende Signalfluss an den Synapsen ist die so genannte Langzeit-Potenzierung (LTP) - die sich gegenseitige verstärkende Wechselwirkung zwischen dauerhaft feuernde“ Nervenzellen (vgl. Behl 2008). Das langfristige Einprägen eines Lernstoffes ist die Überführung in das Langzeitgedächtnis, wobei das durch die Translation oder Produktion von neuen Proteinen an den Synapsen ist, denn diese Proteine stärken die synaptische Verbindung und verfestigen so die Erinnerung. Mit Hilfe eines translationalen Markers, einem fluoreszierenden Protein, das leicht im Gehirn verfolgt werden kann, hat ein amerikanisches Forschungsteam um Wayne Sossin (Montreal Neurological Institut) nach einem Bericht in Science (2009) die erhöhte lokale Proteinsynthese bei der Gedächtnisbildung erstmals direkt beobachtet. Es zeigte sich, dass die Translation synapsenspezifisch war und der Aktivierung durch die postsynaptische Zelle bedurfte, was beweist, dass dieser Schritt die Kooperation zwischen beiden an der Synapse beteiligten Neuronen bedarf, d.h., dass die Einprägung durch die Signale und die Kooperation der angrenzenden Gehirnzellen getriggert wird.
Valentin Nägerl (Max-Planck-Institut) hat den zeitlichen Ablauf der Synapsenbildung näher untersucht. Um eine Reaktion der Nervenzellen gezielt herbeizuführen, stimulierten man eine Gruppe von Neuronen durch einen kurzen, hochfrequenten Stromimpuls, da man weiß, dass Nervenzellen auf eine solche Stimulation mit der Verstärkung ihrer Verbindungen reagieren. Innerhalb von wenigen Minuten nach dem Stromimpuls beginnen die angeregten Nervenzellen neue Fortsätze zu bilden, doch innerhalb der ersten acht Stunden können noch über keinen dieser neuen Zellverbindungen Informationen ausgetauscht werden. Erst jene Kontakte, die auch nach 24 Stunden noch vorhanden sind, besitzen funktionsfähige Synapsen zur Informationsübertragung und existieren auch noch nach mehreren Tagen. Erst dann ist der Umbau im Gehirn abgeschlossen.
Der Wachzustand baut über Tag hinweg aber auch einen Zustand immer stärkerer Erregung im Gehirn auf. Nach Giulio Tononi und Chiara Cirelli (Universität Wisconsin) dient der Nachtschlaf daher auch dazu, im Gehirn die synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen wieder etwas zu lockern, denn blieben sie zu fest verschaltet, würden sie zu viel Platz und zu viel Energie beanspruchen und das Gehirn würde allmählich in einen Zustand der Sättigung übergehen. Auch könnte das Gehirn neue Eindrücke, neue Erfahrungen und neue Inhalt am nächsten Tag gar nicht verarbeiten. Die allgemeine Lernfähigkeit der Nervenzellen würde unter dieser Erstarrung der Verbindungen leiden.
Wie entwickeln sich neuronale Schaltkreise?
Während der Entwicklung neuronaler Schaltkreise müssen Nervenzellen über tausende von Synapsen korrekt miteinander verbunden werden, wobei Synapsen zumeist auf spezialisierte Strukturen von Nervenzellen, die Dendriten, verschalten, denn diese dienen dem Empfang von neuronaler Information. Allerdings ist weitgehend ungeklärt, nach welchen Prinzipien und mit welchen Mechanismen während der Entwicklung von Nervensystemen die Anzahl der Synapsen und die Größe der jeweiligen Dendriten aufeinander abgestimmt werden und wie verschiedene Synapsentypen auf ihren Zieldendriten verteilt werden. Ryglewski et al. (2017) haben nun durch genetische Manipulation an Nervenzellen der Fruchtfliege nachgewiesen dass verschiedene Synapsentypen um Dendriten ihrer postsynaptischen Partnerzelle konkurrieren, denn überwiegt während der Entwicklung die Aktivität eines Synapsentyps, wird diesem auf Kosten eines anderen Synapsentyps mehr dendritisches Material seiner Partnerzelle zugewiesen. Es können also abhängig von der synaptischen Aktivität Dendriten innerhalb einer Nervenzelle verschoben werden, sodass das Übergewicht eines Konkurrenten damit die Struktur und Funktion der Nervenzelle beeinträchtigt. Wird die Balance der synaptischen Aktivität beider Neurotransmittersysteme manipuliert, wird das Dendritenwachstum beeinflusst und die Synapsen auf den Dendriten werden umverteilt. Es kommt zur Konkurrenz zwischen den GABAergen und den cholinergen Synapsen, die um das Baumaterial wetteifern, auf das sie verschalten können. Wenn sich die beiden Konkurrenten nicht im richtigen Gleichgewicht befinden, wird das Baumaterial falsch verteilt. Die Ausgewogenheit zwischen hemmender und erregender synaptischer Aktivität ist daher für die strukturelle Homöostase von Nervenzellen enorm wichtig.
Plastizität beim Umlernen
Die Plastizität des Gehirns haben Banerjee et al. (2020) in einem Versuch mit Mäusen gezeigt, in dem sie diese in einem Experiment zu einem kotrollierten Umlernen zwangen. Es ist schon länger bekannt, dass der orbitofrontale Cortex an Entscheidungsprozessen beteiligt ist, denn er hat die Aufsicht darüber, dass Reaktionen auf äußere Umstände angemessen und erfolgreich sind. Zunächst trainierte man die Tiere darauf, nach einer Berührung der Tasthaare mit grobkörnigem Sandpapier zu schlecken, was zu einer Belohnung mit Zuckerwasser führte. Bei Berührung mit feinkörnigem Sandpapier hingegen durften sie nicht schlecken, sonst löste dies ein unangenehmes Geräusch aus. Hatten die Mäuse dies gelernt, gab es die Belohnung bei feinkörnigem und nicht bei grobkörnigem Sandpapier, was die Mäuse nach nur kurzer Übung erlernten. Während dieses Trainings analysierte man mit Hilfe von molekularbiologischen und bildgebenden Techniken die Funktion einzelner Nervenzellen in den beteiligten Hirnarealen. Es zeigte sich, dass eine Gruppe von Hirnzellen des orbitofrontalen Cortex während des Umlernens besonders aktiv war, wobei diese Zellen lange Fortsätze besitzen, die bis in das Areal der sensorischen Nervenzellen reichen, die bei Mäusen Tastreize verarbeiten. In diesem Areal folgten die Zellen zunächst dem alten Aktivitätsmuster, ein Teil passte sich dann allerdings der neuen Situation an. Wurden aber die betreffenden Hirnzellen des orbitofrontalen Cortex gezielt ausgeschaltet, so funktionierte das Umlernen nicht und die Nervenzellen im sensorischen Areal zeigten keine Anpassung der Aktivität. Der Versuch konnte also zeigen, dass eine direkte Verbindung vom orbitofrontalen Kortex zu sensorischen Hirnarealen besteht, und dass dort ein Teil der Nervenzellen umgepolt wird. Die Plastizität dieser Zellen und die Instruktion durch die höhere Instanz des orbitofrontalen Cortex scheinen für die Flexibilität des Verhaltens und die Möglichkeit, sich auf neue Situationen einzustellen, entscheidend zu sein.
Literatur
Banerjee, Abhishek, Parente, Giuseppe, Teutsch, Jasper, Lewis, Christopher, Voigt, Fabian F. & Helmchen, Fritjof (2020). Value-guided remapping of sensory cortex by lateral orbitofrontal cortex. Nature, 585, 245-250.
Behl, Christian (2008).Ein Wettrüsten, das unser Denken bedroht.
WWW: www.faz.net/gehirntraining (08-09-09)
Jerry L. Chen, Stefano Carta, Joana Soldado-Magraner, Bernard L. Schneider, & Fritjof Helmchen (2013). Behaviour-dependent recruitment of long-range projection neurons in somatosensory cortex. Nature 499, 336-340.
Jerry L. Chen, David J. Margolis, Atanas Stankov, Lazar T. Sumanovski, Bernard L. Schneider, & Fritjof Helmchen (2015). Pathway-specific reorganization of projection neurons in somatosensory cortex during learning. Nature Neuroscience. June 22, 2015. Doi: 10.1038/nn.4046.
Ryglewski, Stefanie, Vonhoff, Fernando, Scheckel, Kathryn & Duch, Carsten (2017). Intra-neuronal Competition for Synaptic Partners Conserves the Amount of Dendritic Building Material. Neuron, 93, 632 - 645.
http://idw-online.de/pages/de/news221768 (08-09-09)
http://science.orf.at/ (08-05-09)
Manfred Spitzer: Wie lernen Kinder?
[Quelle: https://www.youtube.com/embed/vujELzwcdpQ]
Lernvorgänge verändern die Grundstruktur der Sehrinde
Die Nervenzellen sind zum Zeitpunkt der Geburt im Wesentlichen alle angelegt, aber in bestimmten Bereichen des Gehirns noch nicht miteinander verbunden. Dies gilt vor allem für die Großhirnrinde. Viele Verbindungen wachsen erst jetzt aus, aber ein erheblicher Anteil wird nach kurzer Zeit wieder vernichtet. Es vollzieht sich ein stetiger Umbau von Nervenverbindungen, wobei nur etwa ein Drittel der einmal angelegten erhalten wird. Welche bleiben, hängt von der Aktivität ab, die sie vermitteln. Das bedeutet, dass die Ausbildung der funktionellen Architektur der Großhirnrinde in erheblichem Umfang von Sinnessignalen und damit von Erfahrung beeinflusst wird. Genetische und epigenetische Faktoren kooperieren in untrennbarer Wechselwirkung, weshalb eine strenge Unterscheidung zwischen Angeborenem und Erworbenem unmöglich ist. Es erinnert dieser Vorgang der Selektion von Nervenverbindungen an einen darwinistischen Ausleseprozess. Kontakte werden im Überschuss angelegt und solche, die einer funktionellen Validierung standhalten, bleiben. Die ersten und eindrucksvollsten Beispiele für die eminente Bedeutung dieses erfahrungsabhängigen Selektionsprozesses kamen aus der Klinik. Früher litten Neugeborene häufig an Infektionen ihrer Augen, die sie sich während der Geburt zuzogen. Die Folge waren Trübungen der Hornhaut oder gar der Linse. Die Kinder erblindeten und konnten nur noch diffuse Helligkeitsschwankungen wahrnehmen. Als es dann möglich wurde, Linsen und Hornhäute zu transplantieren oder gegen künstliche Medien auszutauschen, war die Erwartung - nachdem dem Gehirn selbst ja nichts fehlte - dass mit solchen Operationen die Sehfähigkeit wieder hergestellt werden könnte. Entsprechend groß war die Enttäuschung, als sich erwies, dass diese spätoperierten Patienten blind blieben. Sie hatten jetzt zwar funktionstüchtige Augen, konnten aber mit den Informationen, die jetzt erstmals zur Verfügung standen, nichts anfangen. Viele Patienten empfanden das, was sie jetzt plötzlich wahrnehmen konnten, nicht als visuelle Eindrücke, sondern als Geräusche oder als etwas Schmerzhaftes, als etwas nicht näher Beschreibbares. Sie lernten nicht, sich in der Sehwelt zu orientieren, Räume auszumessen oder Objekte zu identifizieren. Viele dieser spät operierten Patienten wurden tief depressiv, weil ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden und die meisten fielen in ihren Blindenalltag zurück und trugen wieder dunkle Brillen. Der Grund ist, dass das Nichtverfügbarsein von visuellen Signalen in bestimmten Entwicklungsphasen nach der Geburt dazu führt, dass Verbindungen, die eigentlich konsolidiert werden müssten, eingeschmolzen werden. Dem Auswahlmechanismus fehlen die richtigen Signale, er missinterpretiert Verbindungen, die im Grunde funktionstüchtig sind, als sinnlose und vernichtet sie. Und dieser Vorgang ist irreversibel. Wenn die kritische Phase für die Entwicklung von Verbindungen in der Sehrinde durchlaufen ist, und sie beginnt beim Menschenkind kurz nach der Geburt und klingt dann im Laufe der ersten Lebensjahre ab, dann kommt Hilfe zu spät.
Etwas Ähnliches ereignet sich beim frühkindlichen Schielen, einer sehr häufigen Entwicklungsstörung. Hier werden Verbindungen in der Hirnrinde zerstört, die man braucht, um mit beiden Augen gleichzeitig sehen zu können. Die Kinder verlieren die Fähigkeit des Stereosehens. Die Ursache ist wieder, dass auf Grund der Fehlstellung der Augen falsche Signale zur Hirnrinde gelangen und dort Verbindungen irreversibel vernichten. Diese Mechanismen konnten durch Untersuchungen am Tier aufgeklärt werden, wofür Hubel und Wiesel den Nobelpreis erhielten. Auf der Basis dieses Wissens gelang es dann, geeignete Verfahren zur Frühdiagnose und Therapie zu entwickeln, so dass heute das Sehvermögen trotz frühkindlicher Störungen der Signalaufnahme meist erhalten werden kann (Singer 2001).
Hinweis: Eine leichte Weitsichtigkeit bis zu zwei Dioptrien gilt bei Kleinkindern als normal, wobei das Auge dies in der Regel selbst ausgleichen kann. Etwa fünf Prozent aller Kinder haben Amblyopien (Sehschwächen), wobei sich in den meisten Fällen die Probleme auf ein Auge beschränken. Diese einseitigen Sehschwächen sind deshalb tückisch, da die Kinder auf einem Auge gut sehen und sich das Problem nur schwer an ihrem Verhalten ablesen lässt. Das Sehsystem entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist am ersten Schultag häufig schon komplett ausgebildet. Daher ist es wichtig, Sehfehler bei Kindern früh zu behandeln, denn nur so lassen sich lebenslange Probleme vermeiden. Es gibt ein gewisses Zeitfenster, in dem das Gehirn für das Sehen prägbar ist, und erhält das Gehirn in dieser Zeit etwa aufgrund bestimmter Augenerkrankungen keinen ausreichend scharfen Seheindruck, kann es das vollwertige Sehen nicht mehr erlernen, auch wenn später eine Behandlung erfolgt. Mit Abstand am häufigsten schielen Kleinkinder oder leiden unter Brechungsfehlern. Beim Schielen sieht das eine Auge mit seinem Zentrum ein anderes Objekt als das andere, sodass das Gehirn, um ein Doppeltsehen zu vermeiden, einen Schutzmechanismus einsetzt, bei dem das Gehirn ein Auge abschaltet, und zwar in der Regel das Schielauge. Bei einem Brechungsfehler ist das Kind entweder kurz- oder weitsichtig oder hat eine Hornhautverkrümmung.
Nach Ben Godde (Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen) und Hubert Dinse (Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum) passt sich die Organisation und Funktion unseres Gehirns lebenslang an äußere oder krankheitsbedingte Veränderungen an. Sie haben im Tierversuch durch die Kombination von Elektrostimulation der Gehirnzellen und Beobachtung des Blutflusses im Gehirn gezeigt, dass sich das Sehsystem auch im erwachsenen Gehirn durch Lernprozesse in der Grundstruktur verändern kann. Um im Sehsystem (hinterer Teil des Großhirns) Lernvorgänge auszulösen, stimulierten die Wissenschaftler die Gehirnzellen von narkotisierten Tieren mit winzigen Strömen. Dadurch verändert sich die Reizübertragung zwischen den Nervenzellen zunächst nur für wenige Sekunden, bei wiederholter, gleichzeitiger Aktivierung jedoch dauerhaft. Die für das Sehen verantwortlichen Hirnbereiche höherer Säugetiere repräsentieren systematisch das Gesichtsfeld ähnlich wie eine Landkarte, indem benachbarte Nervenzellen benachbarte Orte im Gesichtsfeld darstellen. Im Gehirn überlagern sich verschiedene solcher funktioneller Karten, die Eigenschaften der gesehenen Objekte wie Orientierung, Bewegungsrichtung und Kontrast repräsentieren.
Bereits nach wenigen Stunden der elektrischen Stimulation verändern diese Karten ihre Grundstruktur. Die Ursache für diese weitreichenden Auswirkungen vermuten die Wissenschaftler im Bauprinzip der bei höheren Säugetieren und der Menschen besonders ausgeprägten Hirnrinde. Hier findet sich ein dicht verzweigtes Netzwerk horizontaler Nervenfasern, von denen man annimmt, dass sie bei der Reizverarbeitung eine wichtige Rolle spielen. Diese Veränderungen wurden durch elektrische Stimulation ausgelöst, deren Reize keinerlei "Bedeutung" besitzen. Offenbar kommen durch die Elektrostimulation Selbstorganisationsprozesse in Gang, die zu geordneten Veränderungen führen. Die Veränderungen im visuellen System unterscheiden sich dadurch von anderen Gehirnbereichen, die ebenfalls durch Elektrostimulation verändert werden können, dass sich die Effekte räumlich erheblich weiter auswirken und auch nicht vollständig rückgängig zu machen sind.
Quellen:
Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA (PNAS), April 2002
Netadressen:
Ben Godde
WWW: http://homepages.uni-tuebingen.de/benjamin.godde/index.html (inaktiv) Hubert Dinse
WWW:http://www.neuroinformatik.ruhr-uni-bochum.de
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/schielen-sehfehler-bei-kindern-frueh-korrigieren-a-925726.html (13-10-04)
Orte werden mitgelernt
Es ist bereits seit einiger Zeit bekannt, dass Place cells den Ort einer Person kodieren, wobei diese Nervenzellen nach neueren Untersuchungen auch eine wichtige Rolle bei Gedächtnisprozessen spielen. So war es in einer Studie möglich, anhand der Aktivität der Place cells vorherzusagen, welches Objekt einem Probanden als nächstes einfallen würde. Die Einbeziehung räumlicher Informationen in Gedächtnisinhalte erklärt dabei, weshalb Erinnerungen, die mit demselben Ort verknüpft sind, gemeinsam reaktiviert werden können. Dies zeigt die enge Interaktion unterschiedlicher kognitiver Leistungen, hier der räumlichen Orientierung und des Gedächtnisses, im menschlichen Gehirn. Diese Studien belegen also, dass Erinnerungen mit Orten auch auf neuronaler Ebene verknüpft werden, denn das menschliche Gedächtnis belegt beim Lernen Inhalte mit räumlichen Markern, die beim Abruf der Gedächtnisinhalte aktiviert werden. In einem virtuellen Gedächtnisexperiment sollten Probanden (Epilepsiepatienten) diverse Gegenstände an bestimmte Orte ausliefern und sich anschließend an möglichst viele Gegenstände erinnern, wobei beim Erinnern dieselben Nervenzellen im Hippocampus erhöhte Aktivität aufwiesen, die den Lieferort beim Abspeichern der Inhalte kodiert hatten (MIller et al., 2013).
Siehe die praktische Umsetzung im Lerntipp Wie heißt die Hauptstadt von
Literatur
Miller, J. F., Neufang, M., Solway, A., Brandt, A., Trippel, M., Mader, I., Hefft, S., Merkow, M., Polyn, S. M., Jacobs, J., Kahana, M. J. & Schulze-Bonhage, A. (2013). Neural Activity in Human Hippocampal Formation Reveals the Spatial Context of Retrieved Memories. Science, 342, 1111-1114.
Gehirnentwicklung in den ersten Schuljahren
Die ersten Schuljahre bedeuten für Kinder eine enorme Entwicklung, denn in das zuvor eher spielerische Lernen kommt nun Struktur. Hinzu kommt, dass in diesem Alter durch die Hirnreifung die Gedächtnisleistung und die Konzentrationsfähigkeit stark zunehmen, da die verschiedenen Gehirnareale immer stärker miteinander vernetzt werden, was eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen in der Schule darstellt. Die Gehirne der Kinder machen in dieser Zeit eine gewaltige Entwicklung durch, denn alles, was ein Kind bisher gelernt und erlebt hatte, hinterließ synaptische Verknüpfungen zwischen den Nervenzellenn. Allerdings nimmt bei Kindern im Schulalter die Anzahl der Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen in manchen Gehirnregionen auch ab, was aber ein ganz entscheidender Prozess im Verlauf des Lernens ist, denn die wesentlichen Verbindungen, die Menschen später im Laufe ihres Lebens benötigen, werden verstärkt, und die, die nicht gebraucht werden, werden abgebaut.
Manfred Spitzer 2017 in einem Interview zum Thema „Schreibschrift“ (zusammengefasst): Sensorik und Motorik sind für das Lernen unverzichtbar, denn wenn diese einfachen Gehirnareale, die man für das Schreiben mit der Hand benötigt, nicht trainiert werden, dann werden auch die höheren Bereiche des Gehirns, in denen man denkt, nicht trainiert. Eine fließende Schreibschrift fordert weniger Raum fürs Denken, denn die Ausführung einer Schreibschrift folgt einem anspruchsvollen Algorithmus und funktioniert nahezu automatisch, sodass das Gehirn mehr Kapazitäten frei hat, sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Bei der Schreibschrift bewegt die Hand den Stift auf und ab und gleichzeitig von links nach rechts, wobei diese Auslenkungen zudem noch moduliert werden, d. h., das Gehirn ist dabei mehr gefordert, als wenn der Stift immer neu angesetzt und der Buchstabe aus einzelnen Strichen zusammengesetzt wird. Gerade weil die Schreibschrift so kompliziert ist, darf man sie im Unterricht nicht einfach weglassen, denn es ist ein gutes Training für das Gehirn und ein Leben lang von Vorteil.
Beim Lesenlernens etwa werden Gehirnareale, die eigentlich für das Erkennen von komplexen Objekten wie Gesichtern zuständig sind, umfunktioniert, um Buchstaben in Sprache zu übertragen, wodurch einige Gebiete des visuellen Systems sich zu Schnittstellen zwischen dem Seh- und Sprachsystem entwickeln. Dabei beschränken sich diese Veränderungen nicht nur auf die Großhirnrinde, sondern es werden auch Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen, wobei Thalamus- und Hirnstammkern der Sehrinde vermutlich auch helfen, wichtige Informationen aus der Flut visueller Reize zu filtern.
Erlernen von Sprache und Lesen
Die Entwicklung einer Sprache ist angeboren und auch Kinder, die nicht in einer Sprache unterrichtet werden und keine Erwachsene als Vorbilder haben, entwickeln mit der Zeit komplizierte Sprachsysteme. Lesen hingegen ist eine erlernte Fähigkeit, die ohne Unterricht und Praxis nicht entwickelt werden können. Beim Lernen einer Schrift mittels Lesen und Schreiben verdichtete sich die graue Substanz in bestimmten Bereichen der linken Gehirnhälfte, denn dort wird die Form der Buchstaben wahrgenommen und diese Zeichen werden dann in Laute und Bedeutungen übersetzt. Auch erhöht sich durch das Lesen die Stärke der Verbindungen zwischen den verschiedenen verarbeitenden Regionen in der weißen Substanz, wobei man schon lange weiß, dass vor allem der Gyrus angularis für das Lesen von großer Bedeutung ist, wobei dieser Gehirnbereich nach neuesten Forschungen nicht bloß die Form von Wörtern erkennt und den visuellen Eindruck in die dazu passenden Laute und Bedeutungen übersetzt, sondern vielmehr Vorhersagen liefert, was man zu sehen erwartet. Das ganze funktioniert vermutlich ähnlich wie das T9-System von Handys, das das schnelle Schreiben von Nachrichten erleichtert und bei dem das Handy Wörter anhand der ersten eingegeben Buchstaben erkennt und Vorschläge macht, welche Begriff gemeint sein könnten.
Diese Erkenntnisse erklären auch teilweise, warum das Lesen eines "Buchstabensalats" so flüssig von statten geht, denn wir lesen weniger das, was uns an Informationen in Form von einzelnen Buchstaben entgegen schaut, sondern das, was wir auf Grund der Anfangs und Endbuchstaben bzw. der Wörtersequenz erwarten.
Ncah der Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät, ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wort setehn. Das ezniige Wcthiige ist, dsas der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Slelte snid. Der Rset knan ein ttoaelr Slaat von Bestachubn sien, tedztorm knan man ihn onhe geößrre Pemoblre lseen. Das ist daleshb so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems.
Im Original:
Aoccdrnig to a rsceearh at Cmabirgde Uinervtisy, it deosn't mttaer in waht oredr the ltteers in a wrod are, the olny iprmoatnt tihng is taht the frist and lsat ltteer are at the rghit pclae. The rset can be a taotl mses and you can sitll raed it wouthit porbelm. Tihs is bcuseae the huamn mnid deos not raed ervey lteter by istlef, but the wrod as a wlohe.
Ähnliches gilt für den folgenden Text:
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Erfahrungsheischendes und erfahrungsabhängiges Lernen
Der Entwicklungspsychologe John T. Bruer unterscheidet erfahrungsheischendes und erfahrungsabhängiges Lernen. Beim erfahrungsheischenden Lernen spielen kritische Phasen eine wichtige Rolle (etwa wenn es um binokulares Sehen oder andere grundlegende sensorische Vorgänge geht). Erfahrungsabhängiges Lernen ereignet sich das ganze Leben lang. Eine ähnliche Sichtweise vertritt die Psychologin Elsbeth Stern, die zwischen priviligierten und nicht-priviligierten Lernprozessen unterscheidet.
Zeitpunkt des Spracherwerbs entscheidend
Bei zweisprachigen Menschen entscheidet der Zeitpunkt des Spracherwerbs darüber, wie im Gehirn das Sprachzentrum organisiert wird. Menschen, die von Geburt an zweisprachig aufwachsen, nutzen für beide Sprachen im Wesentlichen die gleiche Gehirnregion. Menschen, die aber erst später im Schulalter eine zweite Sprache erlernen, bilden im Gehirn zwei Aktivitätszentren aus, die eng nebeneinander liegen.
Nach neueren Forschungen (Reich et al., 2011) benötigt das Gehirn zum Lesen gar keinen visuellen Reiz, denn Gehirntomographien an Blinden beim Lesen von Wörtern in Braille zeigten Aktivitäten in exakt denselben Bereichen des Gehirns - im visuellen Wortformareal - die auch dann vorhanden sind, wenn Sehende Leser lesen. Diese Erkenntnisse widersprechen der bisherigen Auffassung, nach der das Gehirn in Bereiche unterteilt ist, die jeweils für die Verarbeitung von Informationen eines Sinnesorganes zuständig sind. Das Gehirn ist also keine Sensormaschine, sondern es ist eine Aufgabenmaschine, d.h., ein Gehirnbereich kann unabhängig von der Form des Sinnesreizes eine spezifische Funktion erfüllen, in diesem Fall Lesen. Vergleiche der Gehirnaktivität bei Blinden und Sehenden zeigten außerdem, dass sich die Muster in den relevanten Bereichen im Gehirn bei beiden Gruppen nicht voneinander unterscheiden. Die funktionalen Haupteigenschaften bei Sehenden sind offensichtlich dieselben wie bei Blinden und somit unabhängig von der sensorischen Modalität des Lesens. Dieses Forschungsergebnis ist ein Beleg für die metamodale Theorie der Gehirnfunktionen, dass die Regionen des Gehirns durch die Aufgaben, die sie durchführen, definiert werden, und nicht durch das Sinnesorgan.
Ford Ebner (Vanderbilt-Universität, Nashville) hat mit Hilfe eines Tomographen bei blinden Probanden untersucht, wo diese im Gehirn die Braille-Schrift entziffern. Die Probanden, die von Geburt an blind waren, nutzten genaus so wie die Spät-Erblindeten beim Lesen jene Hirnareale, die normalerweise für das Sehen reserviert sind allerdings unterschieden sich jedoch die jeweiligen Zentren mit der stärksten Aktivität, sodass offensichtlich auch der individuelle Werdegang bestimmt, welche Hirnteile an einer Sinneswahrnehmung beteiligt sind.
Quellen:
Reich, L., et al. (2011). A ventral visual stream reading center independent of visual experience. Current Biology, DOI: 01.1016/j.cub.2011.10.040.
Human Brain Mapping 2001, Bd. 14, S. 186.
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