Gehirn von Wildtieren
Relativ wenig weiß man über die Gedächtnisleistungen bei Wildtieren,
also über deren Welt von Erfahrung, Lernen und Erinnern, denn das meiste
stammt aus Beobachtungen und Erfahrungen beim jagdlichen Erleben oder
sehr wenigen Studien der Wildbiologie. Die Voraussetzung jeder höheren
Leistung ist das Gedächtnis, zumindest bei allen Tieren mit
zentralisiertem Nervensystem, denn selbst so einfache Formen wie
Pantoffeltierchen sammeln sich um einen Platindraht, der wiederholt
beködert wurde, d. h., diese mussten gelernt haben, dass es dort mehr
Nahrung gibt als anderswo. Die Lernleistung von Wirbeltieren ist
bekanntlich grundsätzlich mit der Gehirngröße korreliert, wobei die
absolute Gehirngröße und die Anzahl der Verknüpfungen von größerer
Bedeutung ist als die systematische Stellung des Tieres. Arten auf einer
niedrigeren Entwicklungsstufe, aber mit einem größeren Gehirn, können
lernfähiger sein als höher entwickelte Arten mit kleinerem Gehirn. Die
Speicherung von Erfahrungen erfolgt bei Säugern in der Regel im
Neocortex, einem Teil der Großhirnrinde.
Früher nutzte man als Indikator für die Lern- und Gedächtnisfähigkeit
eines Lebewesens seine Gehirn-/Körper-Relation, doch stieß man
allerdings bei genauerem Hinsehen auf Ungereimtheiten, denn das
Mäusehirn nimmt ein Gewicht von 3,2% ein und Menschen bringen es gerade
einmal auf knapp über 2%, und auch der Hund liegt mit knapp 0,59 % noch
vor dem Wolf mit 0,52 %, wobei aber bekannt ist, dass mit zunehmender
Domestizierung von Lebewesen deren Gehirnleistungen abnehmen. Geeigneter
ist daher der Cebralisationsindex, also das Verhältnis zwischen
stammesgeschichtlich jüngeren, hochentwickelten Gehirnbereichen und
älteren, ursprünglichen Gehirnteilen. Hier liegt etwa der Kolkrabe mit
18,95 deutlich vor der Stockente mit 6,08 und dem schon fast als
dümmlich anmutenden Fasan mit 3,18. Der Fuchs liegt mit 16,8 deutlich
vor Wildschwein (14,1) und Iltis (12,9). Menschenaffen bringen es auf
49, indische Elefanten auf 104 und knapp hinter dem Menschen mit 170,
rangiert der Delphin mit 121.
Das Gedächtnis ist dabei ein zentraler Faktor für die
Überlebensfähigkeit eines Lebewesens, denn nur wenn es einmal Gelerntes
auch behält, kann es dieses in Zukunft in sein Handeln integrieren und
msine Überlebensfähigkeit damit erhöhen. Günstige Nahrungs- und
Überwinterungsplätze, tradierte Wanderwege, die wiederkehrenden
Jahreszeiten, Erfahrungen mit Feinden oder gefährlichen Orte sind ohne
ein funktionierendes Gedächtnis gar nicht denkbar.
Am Anfang ihres Lebens übernehmen Jungtiere oft die Verhaltensweisen
ihrer Eltern, d. h., sie lernen überwiegend durch Nachahmung. Später
kommen eigene Erfahrungen hinzu, die mit dem nachgeahmten Verhalten
kombiniert werden. Vieles aus dem so erlernten Verhalten wird irgendwann
zum Automatismus, der ohne große Reflexion einfach abläuft. Je länger
der Erfahrungszeitraum andauert, d.h. je älter ein Tier ist, desto
optimaler kann es auf die verschiedensten Situationen reagieren, da es
schon viele oder ähnliche durchlebt hat. Vor diesem Hintergrund ist es
auch klar, dass nur ältere Tiere Leittiere in Gruppen sein können, denn
Jungtieren fehlt der Erfahrungsschatz und das könnte für die gesamte
Gruppe fatal enden.
Der Dehnel-Effekt
Um im Winter Energie zu sparen, schrumpfen Europäische Maulwürfe ihr Gehirn sogar ihren Schädel, d. h., ihre Köpfe sind in der kalten Jahreszeit um elf Prozent kleiner als im Sommer und wachsen erst im Frühjahr wieder nach. Anders als bei Menschen sind demnach Gehirn und Schädelknochen des Maulwurfs selbst bei ausgewachsenen Exemplaren noch enorm regenerationsfähig. Das liegt daran, dass Maulwürfe im Winterschlaf durchhalten müssen, denn ihr Stoffwechsel ist einer der aktivsten unter den Säugetieren und fährt auch im Winter nicht herunter, d. h., trotz Kälte und Futtermangel müssen die Maulwürfe ständig fressen, um ihren hohen Energiebedarf zu decken. Wenn die Nahrungsquellen deutlich eingeschränkt sind, findet eine Gewichtsreduktion (Winterdepression) wesentlicher Organe statt, um so den Energiebedarf während der nahrungsarmen Zeit zu drosseln. Dies geschieht, indem die Masse fast aller Organe, auch beim Gehirn, Teile des Skeletts und des Schädels periodisch im Laufe des Jahres durch komplizierte Umbauprozesse deutlich verringert wird. Sogar die Schädelkapsel wird unter dem Einfluss von knochenreduzierenden Zellen kleiner. Nur das Herz bleibt unverändert und ist nun leistungsfähiger, da es kleinere Organe versorgen muss. Dieses Dehnel-Phänomen nutzen neben dem Europäischen Maulwurf auch die Spitzmäuse, die Hermeline und Wiesel. Entdeckt wurde diese physiologische Anpassung 1949 vom polnischen Biologen August Dehnel.Das Gehirn bei Arthropoden
Tiere bilden Erinnerungen und nutzen sie, um künftige Verhaltensweisen zu steuern, wobei die im Gedächtnis gespeicherten Informationen so ausgewählt werden, dass sie nur Details enthalten, die zu einer adaptiven Entscheidungsfindung führen. Arthropoden wie Insekten und Spinnen bilden ihre detaillierte Erinnerungen daher mit sehr unterschiedlichen Mechanismen als Menschen, denn diese orientieren sich an Ortszellen im Hippocampus, die Arthropoden fehlen, doch diese besitzen offenbar Gehirnregionen, die sich entwickelt haben, um die gleiche Funktion zu erfüllen. Übrigens zählen zu den Arthropoden neben Spinnentieren auch Krebstiere, Tausendfüßler sowie die Insekten, deren größte Gruppe die Käfer sind. Mit etwa einer Million beschriebenen und neun Millionen geschätzten Arten sind die Arthropoden der bei weitem erfolgreichste Tierstamm. Bei Spinnen zeigen sich etwa zwei Gruppen von Neuronen (Ganglien), eine oberhalb der Speiseröhre und eine unterhalb. Kritischer Input für dieses Gehirn kommt von den Tausenden von Sensoren, die sich entlang des Exoskeletts der Spinne befinden, das als sensorische Spalte bezeichnet wird, der sich verformt, wenn Vibrationen über den Körper der Spinne streichen. Spinnengehirne unterscheiden sich dabei deutlich von menschlichen Gehirnen, denn ihre Sinneswelt orientiert sich am Leben in Netzwerken und dunklen Ecken. Während Menschen visuelle Tiere sind, fehlt es netzbildenden Spinnen an großem Sehvermögen, und obwohl sie Augen haben, um Licht und Bewegung wahrzunehmen, kommt die Wahrnehmung hauptsächlich von Schwingungen, wobei die Beine wie Ohren fungieren, die Vibrationen durch das Netz aufnehmen. Sergi et al. (2022) haben einen Test über das Suchverhaltens entwickelt, um den Inhalt des Gedächtnisses der Schwarzen Witwe aufzudecken, indem sie Beute in zwei Hauptbestandteilen von Schwarze Witwe-Netzen bereitgestellt und dann die Beute gestohlen haben, um ein Suchverhalten auszulösen. Anhand des Suchaufwands, d. h. der Wahrscheinlichkeit der Suche und der Anzahl der Suchvorgänge, konnte man feststellen, ob die Spinnen ein Gedächtnis für ihre Beute entwickeln und ob ihr Gedächtnis bestimmte Merkmale ihrer Beute enthält. Schwarze Witwen suchten deutlich häufiger, nachdem sie einen Beutediebstahl erlebt hatten, was zeigt, dass die Spinnen Erinnerungen an ihre Beute entwickeln. Schwarze Witwen suchten auch eher nach relativ großen Beutetieren, aber dieser Effekt hing von der Stelle ab, an der die Beute im Netz gefangen wurde. Dies deutet darauf hin, dass Schwarze Witwen auch ein Gedächtnis für die relative Größe ihrer Beute und deren Fangort entwickeln. Darüber hinaus lässt sich aus ihrer natürlichen Geschichte ableiten, wann diese Details gespeichert oder verwendet werden und wann nicht.
Lernen ohne Gehirn
Literatur
Sergi, Clint, Schlais, Audrey, Marshall, Martie & Rodríguez, Rafael L. (2022). Western black widow spiders (Latrodectus hesperus) remember prey capture location and size, but only alter behavior for prey caught at particular sites. Ethology, doi:10.1111/eth.13328. (Stangl, 2022).
Stangl, W. (2022, 2. November). Gehirn. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/15297/gehirn
https://bemerkt.stangl-taller.at/gehirnschrumpfung-zum-energiesparen-der-dehnel-effekt.
Stangl, W. (2023, 22. März). Ist Lernen ohne zentrales Nervensystem im Sinne eines Gehirns möglich? Psychologie-News.
https://psychologie-news.stangl.eu/4466/ist-lernen-ohne-zentrales-nervensystem-im-sinne-eines-gehirns-moeglich.
Stöcker, B. (2021). Gedächtnisleistungen bei Wildtieren. Erfahrene Alttiere, Schlaue Füchse, Heimliche Böcke.
WWW: https://www.natuerlich-jagd.de/news/gedaechtnisleistungen-bei-wildtieren.html (21-02-16)
https://jagenlernen.com/component/seoglossary/18-biologie/dehnel-phaenomen
(19-11-21)
https://www.scinexx.de/news/biowissen/maulwuerfe-schrumpfen-im-winter-ihr-gehirn/ (22-09-22)
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