Joseph Bertrand
Netzwerk Gehirn und wie es sich entwickelt
Der Homunkulus ist eine somatotopische Landkarte des Körpers, die in den 1950er Jahren von Wilder Penfield entwickelt wurde, um zu zeigen, dass benachbarte Bereiche des Körpers größtenteils auch in benachbarten Bereichen des Gehirns repräsentiert sind. Die seltsamen Proportionen des Homunkulus Kommen daher, dass empfindlichere Körperteile wie die Zunge, die über viele Rezeptoren verfügen, in der Hirnrinde vergrößert abgebildet werden. Die dürren Ärmchen gehen in riesige Hände über, und das Gesicht wird von einer Zunge und riesigen Lippen dominiert, die weit hervorstehen, wobei dieser Homunkulus zeigen soll, wie ein Mensch aussähe, wenn seine Körperproportionen denen der Hirnareale entsprächen, die sie repräsentieren. Allerdings kennt die Wissenschaft bisher vor allem die männliche Version, den Homunkulus. Obwohl Penfield mindestens 107 Frauen untersuchte, fehlt jede Spur der weiblichen Anatomie, was nach Wolf (2022) zeigt, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern gerne vernachlässigt werden. Allerdings müsste es nach Ansicht von Neurowissenschaftlern Unterschiede in den Hirnkarten männlicher und weiblicher Körper geben, allein schon wegen der offensichtlichen Diskrepanzen in der Anatomie der Geschlechtsorgane. Auch wenn der weibliche Homunkulus nie systematisch erstellt wurde, sind einzelne Teile der Karte des weiblichen Gehirns bereits bekannt, doch haben Vergleiche zwischen Männern und Frauen bisher eher Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu Tage gefördert. Penfield hatte die männlichen Genitalien auf der Homunkulus-Karte unterhalb der Repräsentation der Zehen verortet, andere hingegen stellen sie neben der Hüfte dar, in Analogie zur Anatomie des Körpers, denn hier liegen Geschlechtsorgane und Hüfte nebeneinander. Neuere Forschung zeigt nun, dass die Genitalien tatsächlich sowohl bei Männern als auch bei Frauen in somatotopischer Abfolge neben der Hüfte verortet sind, also analog zur Anatomie des Körpers.
Neuronen sind anders als andere Zellarten polymorph, d.h., die Form eines Neurons bestimmt zum größten Teil, wie es sich mit anderen zur neuroanatomischen Struktur eines bestimmten Gehirnbereichs verbindet, sodass sich aus der Struktur auch seine Funktion ergibt. Die Nervenzellen des Zentralnervensystems sind derart angeordnet, dass man im Gehirn Areale oder Karten (mind maps) definieren kann, in denen nicht nur die Körperoberfläche - das findet man häufig in Lehrbüchern als eine Art Homunkulus abgebildet -, sondern auch Sinneseindrücke kartiert werden. Diese Karten stehen mit den Rezeptorzellen, etwa den Rezeptoren der Haut in Verbindung. Daneben besteht besteht aber auch eine sehr enge Verflechtung zu anderen Gehirnbereichen, also auch mit anderen Kartographierungen. Die eigentliche Neuroanatomie entsteht im Laufe der Ontogenese aufgrund dynamischer Primärvorgänge, die kein Lernprozess im eigentlichen Sinn darstellen - obwohl hier sinnhafte Zusammenhänge hergestellt werden -, sondern das Ergebnis der Selektion sind. Diese Selektion findet nicht auf der Ebene der einzelnen Nervenzellen, sondern ausschließlich im Bereich von Neuronengruppen statt, sodass die individuelle Gehirnentwicklung (man spricht auch von Gehirnreifung - so eine Art Wettbewerbsprozess darstellt. Variante Neuronengruppen, in denen sich ein solches selektiertes Nervengewebe ausbilden konnte, bezeichnet man als primäres Repertoire. Bei diesem Vorgang handelt es sich um epigenetische Prozesse, denn die DNA enthält keinen festen Bauplan für dieses primäre Repertoire. Die Gene stecken also nur den Rahmen der Entfaltung für die ontogenetische Entwicklung solcher Bereiche ab. In einem weiteren Selektionsmechanismus, der aber in den meisten Fällen auf die Anatomie des Gehirns keinen Einfluss mehr hat, werden durch das Verhalten des Lebewesens neurobiochemische Prozesse initiiert, die auch wieder selektiv zu einer Verstärkung oder Schwächung synaptischer Verbindungen führen: das sekundäre Repertoire. Nach dem Prinzip der reziproken Kopplung, das sich auf die Wechselwirkungen zwischen den entwickelten Karten des Gehirns bezieht, stimmen sich etwa evolutiv neu entstanden Gehirnbereiche miteinander ab, um neue Aufgaben erfüllen zu können. Des primären und sekundären Karten sind untereinander durch überaus starke parallele und wechselseitige Verbindungen mehrfach gekoppelt. Durch diese Kopplung vieler Karten, die ihrerseits mit der Sensomotorik des Lebewesens reziprok gekoppelt sind, kommt es zur Kategorisierung der Wahrnehmung, was durch eine übergeordnete dynamische Struktur lokaler Mehrfachkarten (globale Karten) erreicht wird, die z.B. für Sinne und für Bewegung zuständig sind. Diese entwickelten mind maps wechselwirken mit noch nicht kartierten Teilen des Gehirns, sodass etwa die sensumotorische Aktivität solche neuronalen Gruppen zu weiteren Kategorisierungen führt. Diese Kategorisierung erfolgt stets in Bezug auf interne Wertkriterien, die durch evolutionäre Selektion entstanden sind. Diese "vererbten" Kriterien sind vor allem in jenen Gehirnarealen sinnvoll, die Körperfunktion autonom regulieren, also etwa den Anforderungen lebenserhaltender Systeme angemessen sind. In einer solchen auch evolutiv frühen, einfacheren Form des Bewusstseins wird sich das Lebewesen der Umwelt mental bewusst, wobei das Gehirn im übertragenen Sinne (!) nach und nach eine Art Abbildung des Lebensraumes erzeugt. Auf dieser Ebene ist aber das Erfassen zeitlicher Abläufe, also von Vergangenheit und Zukunft, noch nicht möglich ist. Man nimmt an, dass Lebewesen, die über keine Sprache (Säugetiere, Vögel) verfügen, mit dieser Form des Bewusstseins vorlieb nehmen müssen, was aber nicht bedeutet, dass Erfahrungen, die ausschließlich aus der Vergangenheit stammen, nicht verwertet werden können. Um diese Form des Bewusstseins im Gehirn entstehen zu lassen, werden frühere Signale, die mit den von inneren Kontrollsystemen angegebenen Werten verknüpft sind, mit kategorisierten Signale aus der so entstandenen "Außenwelt" korreliert und führen in begriffsbildenden Bereichen zu dem, was man dann als Gedächtnis bezeichnet. Ein solches Gedächtnis, das zur Begriffskategorisierung fähig ist, verknüpft reziprok gekoppelte Pfade mit gegenwärtig ablaufender Wahrnehmungskategorisierung von Signalen aus der Umwelt. Dieser Vorgang läuft in jenen Systemen der Hirnrinde ab, die in der Lage sind, begriffliche Funktionen durchzuführen. Dieses primäre Bewusstsein ist demnach aufgrund der Art seiner Entstehung eine Art erinnerte Gegenwart. Ein Lebewesen mit einem solchen primärem Bewusstsein kann Dinge und Ereignisse über seine frühere, von Werten bestimmte Erfahrung durch sein Gedächtnis miteinander verbinden, wodurch ein Medium entsteht, das das gegenwärtige Handeln des Individuums zu früheren Handlungen bzw. Folgen dieses Handelns in Beziehung setzen kann.
Was passiert nun, wenn wir uns erinnern, zum Beispiel an unsere Großmutter? Die derzeitige Antwort der Gedächtnisforscher: Ein spezielles Gesicht entspricht im Gehirn einer ganz bestimmten Kombination vieler Nervenzellen (gnostic neurons), die gemeinsam feuern. Durch die gemeinsame elektrische Aktivität entsteht ein Muster im Gehirn, das die Großmutter repräsentiert. Andere Gesichter, Gegenstände, Telefonnummern - für alles gibt es ein spezielles Muster von Nervenzellen, die gemeinsam aktiv sind. Übrigens: Etwa 2,5 Prozent aller Menschen haben mit dem Erkennen von Gesichtern Probleme, d. h., sie leider unter Prosopagnosie. Zum Nachweis der Großmutterzellenareale hat David McMahon bei Rhesusaffen hunderte Gehirnzellen verdrahtet und die Aktivitäten über ein Jahr lang gemessen, wobei sich zeigte, dass es Zellen gibt, zwar nicht einzelne, aber Cluster, die auf individuelle Gesichter spezialisiert sind. McMahon vermutet, dass diese Spezialisten für Stabilität mit plastischen Zellen zusammenarbeiten, die sich in stets neue Gesichter einlernen.
Warum kann man ein solches Muster manchmal noch nach Jahrzehnten aktivieren? Oder anders gefragt: Was unterscheidet das Kurz- vom Langzeitgedächtnis? Müssen wir uns beispielsweise nur kurzfristig eine Telefonnummer merken, dann verblasst das entsprechende Muster schnell, weil nur wenige Nervenzellen beteiligt sind und die Verbindung zwischen ihnen sehr locker ist. Demgegenüber vermuten die Wissenschaftler, dass bei dauerhaften Erinnerungen zwei Faktoren entscheidend sind: Erstens sind dann mehr Nervenzellen beteiligt, das Signal ist also stärker. Und zweitens sind die Verbindungen zwischen den beteiligten Nervenzellen wesentlich stärker; denn "wichtige" Erinnerungen werden häufig aktiviert, die entsprechenden Verbindungen werden dadurch stabilisiert.
Literatur
WWW: https://www.spektrum.de/news/hirnforschung-der-raetselhafte-weibliche-homunkulus/2023378
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