Das Bauchhirn - das enterische Nervensystem
Die Denkleistung dieses "zweiten Gehirns" im Bauch beschränkt sich vor allem darauf, die Verdauung zu steuern, wobei automatisch eine große Menge an Darmbewegungen zu koordinieren ist. Diese Koordination erfolgt weitgehend selbstständig, dennoch ist dieses System eng über das übrige Nervensystems mit dem Gehirnverbunden ist. So meldet das Gehirn dem Magen-Darm-Trakt, wenn etwas zu Essen aufgetischt wird, damit es sich darauf einstellen kann.
Das "Bauchhirn"
http://www.zdf.de/ratgeber/monalisa/archiv/45661/
Literatur
Ebbing, Tina (2008). Weihnachten, Zeit des Bauches.
WWW: http://www.welt.de/wams_print/article2874412/
Weihnachten-Zeit-des-Bauches.html (08-12-14)
Kaelberer, Melanie Maya, Buchanan, Kelly L., Klein, Marguerita E.,
Barth, Bradley B., Montoya, Marcia M., Shen, Xiling & Bohórquez,
Diego V. (2018). A gut-brain neural circuit for nutrient sensory
transduction. Science, 361, doi:10.1126/science.aat5236.
http://www.clinicum.at/dynasite.cfm? dsmid=60016&dspaid=420065 (10-01-21)
Li, Li, Solvi, Cwyn, Zhang, Feng, Qi, Zhaoyang, Chittka, Lars & Zhao, Wei (2021). Gut microbiome drives individual memory variation in bumblebees. Nature Communications, 12, doi:10.1038/s41467-021-26833-4.
Im Darm liegt mit 100 Millionen Nervenzellen ein Netz, das von der Speiseröhre bis hin zum Enddarm reicht. Evolutionsgeschichtlich betrachtet ist das Bauchhirn wesentlich älter als das Gehirn, ist diesem neurochemisch aber sehr ähnlich und wird deshalb immer wieder auch „Bauchgehirn“ oder „Little Brain“ bezeichnet.
Evolutionsgeschichtlich ist die Entwicklung des Nervensystems eng mit dem Darm verbunden, denn es besteht bei primitiven Tieren wie dem Regenwurm das Nervensystem aus einem Bauchnervenstrang, der in regelmäßigen Abständen Ganglien enthält. Das Ganglienpaar am Vorderende des Tieres ist etwas größer ausgebildet, hat es doch die Aufgabe, Nahrungssuche und -aufnahme optimal zu koordinieren. Dieses alte „Darmnervensystem“ blieb in der gesamten Evolution erhalten, und weist nach Forschungen von J.B. Furness und M. Costa einen bislang ungeahnten Grad an Eigenorganisation auf. Da eine effektive Ernährung Leben und Überleben bestimmt, besitzt der Magen- und Darmtrakt das ausgedehnteste Netzwerk von Neuronen außerhalb des Zentralnervensystems und wird von fünf verschiedenen Gruppen von Neuronen versorgt, nämlich von enteralen Neuronen, vagalen Afferenten, spinalen Afferenten, parasympathischen Efferenten und sympathischen Efferenten. Besonders wichtig ist hiebei das enterale Nervensystem, dessen Grundstruktur aus zwei netzartigen Geflechten von Ganglien und verbindenden Nervensträngen im Auerbach-Plexus (Plexus myentericus) und Meissner-Plexus (Plexus submucosus) besteht. Die Gesamtzahl der enteralen Neurone im humanen Gastrointestinaltrakt wird auf 100 Millionen geschätzt, was bedeutet, dass der Magen- und Darmtrakt ebenso viele Nervenzellen enthält wie das Rückenmark.
Dieses enterale Nervensystem von Magen und Darm koordiniert eigenständig die Verdauung, beispielsweise die Peristaltik, die die Nahrung im Zuge der Verdauung durch den Körper transportiert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts weiß man von diesem Nervensystem des Verdauungstrakts, in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die neurochemische Analogie zum Gehirn entdeckt. Dieses sogenannte Bauchhirn arbeitet unabhängig vom Gehirn, die Nervenzellen treffen alle für den Darm wichtigen Entscheidungen selbstständig, alles, was mit Verdauung und Transport zu tun hat. Der Darm, das größte Immunorgan im Körper, in dem mehr als 70 Prozent aller Abwehrzellen sitzen, die direkt mit dem Bauchhirn verbunden sind, und dessen Steuerprozesse und Reaktionen völlig unabhängig vom Kopfhirn ablaufen, spielt eine große Rolle bei der gefühlsmäßigen Erfahrung von Freud und Leid. Was das Kopfhirn wahrnimmt oder sich einbildet, bleibt auch dem Bauchhirn nicht verborgen. Die Neuralleiste, einer Zellansammlung aus dem Frühstadium der embryonalen Entwicklung teilt sich bekanntlich im Laufe der Entwicklung, wobei ein Stück vom Kopf umschlossen wird, das andere Stück wandert in den Bauchraum. Als Verbindung zwischen den verwandten Zellstrukturen entsteht der Vagusnerv (Parasympathikus) als verbindender Informationskanal.
Die Transmitter und die im Darm maßgeblichen Transmitter-Rezeptoren finden sich auch im Gehirn, was zeigt, dass die chemische Kommunikation im enteralen Nervensystem und Gehirn sehr ähnlich organisiert ist und auf gemeinsame Ursprünge zurückgeht. Dadurch besitzen die in der Neurologie und Psychiatrie verwendete Medikamente ein beachtliches Nebenwirkungspotenzial am enteralen Nervensystem, was besonders die speziellen Opiate, Adrenozeptor-Agonisten, Acetylcholinrezeptor-Antagonisten und Psychopharmaka mit Wirkungen auf Adrenozeptoren, Serotonin- und Acetylcholinrezeptoren betrifft.
Neuronale Verbindungen zwischen Darm und Gehirn
Darm und Gehirn kommunizieren nach neueren Untersuchungen aber nicht nur über Hormone, sondern es gibt auch direkte Nervenverbindungen, die eine schnellere Informationsübertragung ermöglichen. Die Informationsübertragung über Hormone läuft dabei zwar parallel aber wesentlich, diese ist aber insgesamt nachhaltiger wirksam. Nach einer Untersuchung von Kaelberer et al. (2018) verhalten sich spezielle Zellen in der Darmwand wie Sinneszellen, die das Gehirn etwa über den Zuckergehalt im Darm informieren, indem sie den Vagusnerv stimulieren. Dadurch gelangen in Bruchteilen von Sekunden Signale in die Hirnregion, die den Appetit reguliert und die Darmtätigkeit steuert. Man vermutet, dass man damit die biologische Grundlage einer neuen Sinnesleistung gefunden hat, die das Gehirn darüber informiert, wann der Darm mit Nahrung und Kalorien gefüllt ist. In Experimenten an Mäusen konnte man zeigen, dass Signale aus dem Darm in weniger als hundert Millisekunden über Nerven ins Gehirn gelangen, während die hormonelle Übertragung hingegen mehrere Minuten benötigte. Die Zellen in der inneren Zellschicht der Darmwand (enteroendokrine Zellen) zeigen dabei eine Ähnlichkeit mit Geschmacks- oder Geruchssinneszellen, die Signale über Synapsen von Nervenzellen übertragen. Als man experimentell Darmgewebe oder endokrine Darmzellen zusammen mit sensorischen Nervenzellen des Vagus in einem Nährmedium kultivierte, bildeten sich Kontakte zwischen beiden Zelltypen, die synaptischen Verbindungen ähnelten. In vivo-Aufnahmen zeigten dabei, dass enteroendokrine Zellen notwendig und ausreichend sind, um einen Zuckerreiz in den Vagus zu übertragen, denn die Zugabe von Glukose erzeugte zusätzlich elektrische Signale in den Nervenzellen, wobei die aktivierten Darmzellen den Neurotransmitter Glutamat in den Synapsen freisetzten und damit das Feuern der Nervenzellen auslösten. Man vermutet auch, dass es verschiedene Arten dieser Zellen gibt, die auf unterschiedliche Nährstoffe reagieren. Einige der Sinneszellen könnten auch durch Stoffwechselprodukte von Krankheitserregern aktiviert werden und an deren Abwehr beteiligt sein. Diese synaptisch verbundenen enteroendokrinen Zellen werden als Neuropodenzellen bezeichnet, wobei der von ihnen gebildete neuroepitheliale Kreislauf die Darmwand mit dem Hirnstamm verbindet.
Ein Beispiel: Wenn der Anblick einer bestimmten Person unangenehme Gefühle auslösen würde, dann bedeutet das: Das Gehirn erhält über das Auge zunächst die Information und liefert gleichzeitig diese Information als Stressreiz zum Beispiel an den Darm. Der assoziiert dann etwa diese Person mit Durchfall und führt sein Programm aus. Anders gesagt: Das Auge sieht, der Darm reagiert - und zwar unabhängig vom Gehirn. Das Bauchhirn hat abgespeichert: Diese Person ist gleich Stress.
Ist dieser Automatismus also unsere Intuition? Ja, aber nur, wenn man ihn wahrnimmt und für sich nutzt. Es ist vorstellbar, das es bei einigen Menschen zu einer ausgeprägten Sensibilisierung gegenüber diesen Informationen kommt, während andere ihrem Bauch gegenüber völlig insensitiv sind, dafür möglicherweise stärker aufs Herz oder andere Körperempfindungen hören. Wieder andere ignorieren ihren Körper komplett und reagieren überhaupt nicht auf Signale, sondern entscheiden nur im Kopf. Menschen, die auf ihren Bauch hören, nutzen ihr Gedächtnis insofern, als es greift auf Erfahrungen zurückgreift, die es bereits gemacht hat, Faustregeln nutzt und soziale Heuristiken. Wenn man in einer Entscheidungssituation ein schlechtes Bauchgefühl hat, dann weil Intuition stark mit Emotionen zusammenhängt, die Warnsignale sind, die mit körperlichen Veränderungen einhergehen. Intuition ist also ein Prozess, der aus neuen Fakten und im Gedächtnis gespeicherten Informationen gute Interpretationen bildet und so etwas wie Stimmigkeit herstell, damit Menschen in komplexen Situationen unbewusst eine Vielzahl von Informationen schneller integrieren können als durch rein bewusstes Nachdenken und Entscheiden.
Doch nicht der Bauch allein bestimmt unsere Intuition. Auch unsere anderen Sinne liefern uns wichtige Informationen. Sie spielen bei intuitiven Entscheidungen eine wichtige Rolle. So interpretiert auch die Psychologie das Phänomen "Intuititon". Man ist leicht geneigt, Intuition oder Gefühl im Bauch anzusiedeln, den Verstand dagegen im Gehirn. Intuition zeigt, dass alles miteinander vernetzt ist. Intuition ist in jeder Faser unseres Wesens verankert. Selbst wenn wir nicht sehen oder hören, nur fühlen, riechen, schmecken oder einen trockenen Hals bekommen, kann auch das der Motor unserer Entscheidung, unseres Verhaltens sein. Es kann wesentlich mitbestimmen, was wir für richtig und falsch halten. Und das kann uns vielleicht sogar das Leben retten. Die Empfindungen aus dem Bauch sind also nur ein Teil dessen, was wir als den sechsten Sinn bezeichnen. Aber dennoch: Ob bei lebenswichtigen oder alltäglichen Entscheidungen, diese Gefühle aus dem Bauch bleiben für uns wichtige Wegweiser.
Die Neurogastroenterologie erklärt, wie
das sprichwörtliche Bauchgefühl, das unser Handeln oft wesentlich
intensiver bestimmt als der Verstand, funktioniert. So speichert der
Bauch etwa zur Weihnachtszeit Emotionen, mit denen wir
auf bestimmte spezifische Festtage reagieren, um diese unbewusst in
vergleichbaren Momenten wieder abzurufen. Die Erinnerung des Bauches an
das wohlige Gefühl beim Verzehr eines Bratapfels in unserer Kindheit
kann dafür verantwortlich sein, dass wir in der Adventszeit immer wieder
diese Süßspeise genießen (Ebbing 2008). Was das Wohlbefinden
angeht, sind Gehirn und enterales Nervensystem eng miteinander
vernetzt, sodass Stress Einfluss auf die Verdauung hat und diese
gestörte Verdauung verursacht Unwohlsein, woraus sich für manche
sensible Menschen ein Teufelskreis entwickelt.
Übrigens spielt auch bei Insekten die Darmflora eine erstaunlich vielschichtige Rolle für den Organismus, denn Li et al. (2021) haben bei Hummeln spezielle Vertreter von Darmbakterien identifiziert, die ihre Gedächtnisleistungen beim Nektar-Sammeln fördern. Hummeln besitzen im Vergleich zu Säugetieren eine eher einfach zusammengesetztes Darmmikrobiom, was sie zu einem idealen Modell macht, um die Rolle spezifischer Darmbakterien bei der Kognition zu untersuchen. In dieser Studie fanden die WissenschaftlerInnen mithilfe der metagenomischen Sequenzierung einzelner Hummelhinterteile eine positive Korrelation zwischen der Häufigkeit des Lactobacillus Firm-5-Clusters und der Gedächtnisleistung bei einer visuellen Diskriminierungsaufgabe (verschiedenfarbige Kunstblumen). Bei fünf Farben fanden die Insekten eine süße Zuckerlösung, bei fünf anders gefärbten Blüten war der Saft mit einer bitter schmeckenden Substanz vergällt. Wie sich zeigte, konnten die Versuchstiere die Bedeutung der Farbe lernen, denn sie flogen zu den positiv assoziierten Kunstblumen und mieden Blumen mit einer Farbe, bei der sie zuvor negative Erfahrungen gemacht hatten. Drei Tage später konfrontierten man die Hummeln erneut mit dem Kunstblumen-Sortiment und erfasste, inwieweit sie sich an das Erlernte noch erinnerten. Je stärker der Darm einer Hummel von einer speziellen Art aus der Gruppe der Laktobazillen besiedelt war, desto besser war ihre individuelle Gedächtnisleistung. Wenn man dann den Hummeln gezielt die Laktobazillen über die Nahrung verabreichte, um deren Anteil an der Darmflora zu erhöhen, erhöhte sich auch deren Gedächtnisleistung. Diese Ergebnisse ergänzen die wachsenden Belege für die Relevanz der Wechselwirkungen zwischen Darm und Gehirn bei tierischen Lebewesen.
Kurioses: Pillen zur Motivation für sportliche Betätigung?
Dohnalová et al. (2022) haben am Mausmodell eine Verbindung zwischen
Darm und Gehirn gefunden, die die sportliche Leistung durch eine
Verstärkung der Dopamin-Signalisierung während der körperlichen
Betätigung erhöht. Dafür züchtete man Labormäuse, die nicht nur
möglichst große genetische Unterschiede aufwiesen, sondern auch bei
ihrem Laufpensum, denn während einige der Tiere in zwei Tagen mehr als
dreißig Kilometer im Laufrad oder auf dem Laufband zurücklegten,
schafften andere nur fünf Kilometer. Man fand heraus, dass die
mikrobiomabhängige Produktion von Endocannabinoid-Metaboliten im Darm
die Aktivität von TRPV1-exprimierenden sensorischen Neuronen stimuliert
und dadurch den Dopaminspiegel im ventralen Striatum während des
Trainings erhöht. Die Stimulierung dieses Weges verbessert die
Laufleistung, während die Verarmung des Mikrobioms, die Hemmung der
peripheren Endocannabinoidrezeptoren, die Ablation der spinalen
afferenten Neuronen oder die Dopaminblockade die Leistungsfähigkeit
beeinträchtigen.
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Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Belohnungseigenschaften von
körperlicher Betätigung durch interozeptive Schaltkreise im Darm
beeinflusst werden, und liefern eine vom Mikrobiom abhängige Erklärung
für die interindividuelle Variabilität der körperlichen
Leistungsfähigkeit. Diese Studie deutet auch darauf hin, dass
interozeptomimetische Moleküle, die die Übertragung von aus dem Darm
stammenden Signalen an das Gehirn stimulieren, die Motivation für
körperliche Betätigung erhöhen könnten. Möglicherweise könnte man bei
der Übertragung diese Ergebnisse auf den Menschen Pillen entwickeln, mit
denen man die Motivation zu sportliche Betätigung fördern kann.
Literatur
Dohnalová, Lenka, Lundgren, Patrick, Carty, Jamie R. E., Goldstein,
Nitsan, Wenski, Sebastian L., Nanudorn, Pakjira, Thiengmag, Sirinthra,
Huang, Kuei-Pin, Litichevskiy, Lev, Descamps, Hélène C., Chellappa,
Karthikeyani, Glassman, Ana, Kessler, Susanne, Kim, Jihee, Cox, Timothy
O., Dmitrieva-Posocco, Oxana, Wong, Andrea C., Allman, Erik L., Ghosh,
Soumita, Sharma, Nitika, Sengupta, Kasturi, Cornes, Belinda, Dean,
Nitai, Churchill, Gary A., Khurana, Tejvir S., Sellmyer, Mark A.,
FitzGerald, Garret A., Patterson, Andrew D., Baur, Joseph A., Alhadeff,
Amber L., Helfrich, Eric J. N., Levy, Maayan, Betley, J. Nicholas &
Thaiss, Christoph A. (2022). A microbiome-dependent gut–brain pathway
regulates motivation for exercise. Nature,
doi:10.1038/s41586-022-05525-z. (Stangl, 2022).
https://bemerkt.stangl-taller.at/pillen-zur-motivation-fuer-sportliche-betaetigung.
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