Individualpsychologie: Alfred Adler (1870-1937)
Kurzbiographie
Alfred Adler wurde 1870 als Sohn eines jüdischen Getreidehändlers im 15. Bezirk geboren. Er litt als Kind an Rachitis und schwerer Lungenentzündung. Bis zu seinem vierten Lebensjahr konnte Alfred Adler daher nicht laufen, mit fünf wäre er fast an einer Pneunomie gestorben. Zu dieser Zeit entschied er sich Arzt zu werden. Er war ein durchschnittlicher Student, zog es vor draußen zu sein und war für seine Mühe bekannt seinen älteren Bruder Sigmund in vielen Aktivitäten zu übertreffen. Er erreichte den Abschluss in Medizin an der Wiener Universität in 1895. Er wurde Arzt und begriff den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist, und gilt somit als einer der Pioniere der Psychosomatik.
Während seiner Studentenjahre fühlte er sich zu einer sozialistischen Studentengruppe hingezogen, wo er seine Frau Raissa Timofeyewna Epstein traf. Sie war eine Intellektuelle und sozialistische Aktivistin, die aus Russland zum Studium nach Wien gekommen war. Hochzeit 1897 und vier Kinder - zwei von ihnen wurden Psychiater. Er etablierte seine Arztpraxis in einem sozial schwächeren Viertel von Wien, gegenüber dem Prater, einem Unterhaltungspark. Zu seinen Patienten gehörten Zirkusartisten und es wird daher vermutet (vgl. Furtmuller 1964), dass ihm deren ungewöhnliche Fähigkeiten Einsichten über organische Minderwertigkeit und ihrer Kompensationen eröffneten. Im Zentrum seiner Arbeit standen daher oft die gesellschaftlich Benachteiligten, weshalb Reformen im Erziehungs-, Sozial- und Gesundheitswesen in Wien eng mit Alfred Adler verbunden waren.
1907 wurde er zu Sigmund Freuds Diskussionsrunden eingeladen. Anders als Freud, der einen Platz im reichen Wiener Bürgertum hatte, blieb Adler sein Leben lang den gesellschaftlich Benachteiligten verbunden. Er war ein Mensch mit starken Gefühlen, voller Arbeitsfreude und einer schnellen Auffassungsgabe. Freud rühmte an ihm seine Intelligenz und seine Ursprünglichkeit. Im Gegensatz zu Freud drückte sich Adler eher unbeholfen aus und konnte im Gespräch seine Ideen oft nicht deutlich genug formulieren. Auch im Gedruckten ist er weit von der literarischen Begabung Freuds entfernt. Adler lebte das Leben des kleinen Bürgers, fleissig, bescheiden, ohne groß von sich reden zu machen. Sigmund Freud rühmte nicht zuletzt deshalb Adlers Intelligenz und Ursprünglichkeit. Zwischen Freud und Adler war auch der Sozialismus Streitpunkt, den Freud weitestgehend ablehnte, während Adler ihm zugeneigt war. Zu Adlers Ansichten hat sicher seine Arbeit als Arzt in einem der ärmsten Viertel Wiens beigetragen, die ihn dazu veranlasste, eine sozialpsychologische Betreuung der Wiener Bevölkerung zu fordern, was damals geradezu revolutionär erschien.
Nach den Veröffentlichungen über organische Minderwertigkeit, die mit den Ansichten von Freud übereinkamen, schrieb er, zuerst, eine Arbeit über aggressive Instinkte, die Freud nicht billigte, dann eine Arbeit über kindliche Minderwertigkeitsgefühle. Darin wurde empfohlen, Freuds Anmerkungen zur Sexualität eher metaphorisch als literarisch zu betrachten. Außerdem ernannte Freud Adler zum Präsidenten der Wiener Gesellschaft der Psychoanalytiker und zum Co-Editor der Organisationszeitung, aber Adler beendete seine Kritik an Freuds Ansatz nicht. Eine Debatte zwischen den Anhängern Adler's und denjenigen von Freud wurde arrangiert, mit dem Ergebnis, dass Adler und weitere neun Mitglieder der Gesellschaft austraten, um 1911 die Gesellschaft Freier Psychoanalytiker zu gründen. Der heutige Verein für Individualpsychologie ist sehr sozial engagiert und widmet sich aktuell etwa der Suchtberatung mit einer speziellen Zusatzausbildung. Ebenfalls gibt es ein Krisenambulatorium für traumatisierte Kinder. Adlers Zusammenarbeit mit Otto Glöckel und seine Bemühungen, Kindern in der Schule Selbstbewusstsein zu vermitteln, hat bis heute Tradition: In der Oskar-Spiel-Schule im 15. Bezirk wird nach der Wiener individualpsychologischen Reformpädagogik unterrichtet. Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache wird hier Selbstbewusstsein für die eigenen Wurzeln vermittelt, es gibt u. a. Lehrer für Kroatisch, Türkisch und Tschetschenisch. Der Kongress der Individualpsychologen findet bis Sonntag in Wien statt (www.ip-kongress.com). Am Freitagabend diskutiert der Schriftsteller Michael Köhlmeier mit einem Individualpsychologen zum Thema "Was uns Mythen lehren".
Im 1. Weltkrieg diente Adler als Arzt in der österreichischen Armee, zuerst an der russischen Front und später in einem Kinderhospital. Er sah unmittelbar die Schäden, die ein krieg anrichtet, und seine Gedanken richteten sich nun auf soziale Interessen. Er stand dem Gedanken des Sozialismus nahe, lehnte den Bolschewismus aber als untaugliches Mittel zur Erreichung des Sozialismus ab, weil er selbst auf Macht gegründet sei. In einem späten Beitrag verwies er darauf, dass der ehrliche Psychologe seine Augen nicht davor verschließen kann, dass es Zustände gibt, die das Eingehen des Kindes in die Gemeinschaft verhindern und es aufwachsen lassen wie im Feindesland. Deshalb muss er aufklärend wirken auch gegen schlecht verstandenen Nationalismus, wenn dieser die allmenschliche Gemeinschaft schädigt.
Adler war der Philosophie der Aufklärung verpflichtet. Zwar waren für ihn Erbanlagen und Umwelteinflüsse prädisponierende Faktoren des Charakters, Erfahrungen werden aber aktiv gemacht, Erlebnisse subjektiv gedeutet, und Handlungen vollzieht der Mensch weitgehend selbstbestimmt. Bei gleichen Erlebnissen wird das eine Kind mutlos, während das andere sich angespornt fühlt. Nicht die Erlebnisse eines Kindes diktieren seine Handlungsweise, sondern die Schlussfolgerungen, die es aus diesen Erlebnissen zieht. Darin zeigt sich nach Adler die Freiheit, aber auch die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln, die nicht auf andere Menschen oder das Schicksal projiziert werden kann. Er glaubte, wenn die Menschheit zu retten wäre, dann müsste sie ihren Weg verändern. Nach dem Krieg war er in verschiedene Projekte involviert, u.a. an Universitätskliniken und in der Lehrerausbildung. 1926 ging er in die USA, um Vorlesungen zu halten und nah, eine Gastprofessur am Long Island College of Medicine an. 1934 verließ er mit seiner Familie endgültig Wien. Am 28. Mai 1937 starb er - nachdem er eine Reihe von Vorträgen an der Aberdeen University gehalten hatte - an einem Herzinfarkt. Seine Urne blieb bis 2007 in Schottland und wurde erst 2011 am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Die Lehre
Adler stellt mit der Individualpsychologie, einem vor allem aus der Therapiepraxis entstandenen psychologischen System, ein erstes Gesamtpsychotherapiemodell vor, das sowohl die normale Psyche als auch Neurosen, Psychosen, Psychopathien, Prävention und Rehabilitation umfasst. Adlers Persönlichkeitstheorie, seiner Beschreibung und Erklärung des Phänomens seelischer Krankheit, der von ihm betonten Nähe seines psychologischen Systems zu anderen Wissenschaftsbereichen, vor allem zur Pädagogik und Soziologie, ist eine teleologisch-ganzheitliche und die Aktivität des Subjekts betonende Sichtweise immanent, die ebenfalls sehr aktuell anmutet. Adler hielt wenig von der Experimentalpsychologie, da er überzeugt war, dass sie den Einzelmenschen in unzusammenhängende Einzelteile zerstückelt und dass die so gewonnenen Ergebnisse für das Verstehen des Einzelnen wenig bringen können. Für ihn war klar, dass ein ,gutes' oder ,schlechtes' Gedächtnis nicht einfach eine gehirnphysiologische Angelegenheit ist (wie dies etwa Ebbinghaus glaubte), sondern seinen Sinn im Rahmen der gesamten Persönlichkeit hat. So war er beispielsweise der Ansicht, dass ein Mensch möglicherweise deshalb ein ,schlechtes' Gedächtnis entwickelt, um sich verantwortungsvollen Aufgaben entziehen zu können. Adler ging es um das Verständnis der Ganzheit des Individuums. Natürlich richtete auch Adler das Augenmerk auf Teilaspekte der Persönlichkeit, aber er war überzeugt, dass die einzelnen Züge eines Menschen wiederum nur auf dem Hintergrund seiner Ganzheit zu verstehen sind.
Adler entwickelte übrigens auf Basis von Beobachtungen des Ausdruckspsychologen Ludwig Klages ein frühes Konzept der Psychosomatik, denn diesem war aufgefallen, dass zahlreiche psychologische Phänomene durch körperbezogene sprachliche Bilder erklärt werden, etwa bei »nicht auf den Mund gefallen« oder »linkisch«.
Schon in der Zeit vor seiner Zusammenarbeit mit Freud trat Adler für die Sozialmedizin ein und machte auf die gesellschaftlichen Faktoren der Krankheitsentwicklung aufmerksam. In den 20er Jahren im sozialistisch regierten Wien haben er und seine Schüler die Individualpsychologie explizit zu einer Praxis ausgebaut, die sich der Prophylaxe von Entwicklungsbehinderungen verschrieben hat. Adler vertritt eine ganzheitliche Sicht des Menschen. Körper, Seele und Geist sind danach untrennbar miteinander verbunden. Mit der Entwicklung dieses Ansatzes hat er Freuds Vorstellung vom Menschen als einer Zusammenballung gegensätzlicher Triebe und Instanzen hinter sich gelassen, und entsprechend weichen auch seine Schlussfolgerungen von Freuds Theorien ab. Während die Psychoanalyse sich auf die mühsame Suche nach den Ursachen seelischen Leidens begibt, betont Adler die "Zielstrebigkeit", die Intention oder Absicht des Individuums. Jeder Mensch kann in seinem Wesen als eine aufwärts gerichtete Spirale gesehen werden, deren Ziel die Vollkommenheit ist. Jedes Individuum strebt danach, von einer minderwertigen zu einer mehrwertigen Existenz zu gelangen. Im Menschenbild Adlers wird das Individuum von einem Gemeinschaftsgefühl geleitet. Deshalb widmet ein Therapeut der Adlerschen Schule den interpersonellen Bezügen des Patienten viel Aufmerksamkeit, während der Freudianer sich mit den intrapsychischen Konflikten beschäftigt. Adler weist auf den Einfluß der Geschwister auf die Entwicklung des einzelnen hin. Das Individuum existiert nicht isoliert in einer statischen Umgebung, sondern es agiert und reagiert auf sie und steht mit ihr in einer permanenten Wechselbeziehung. Adler glaubte im Sinne des Präventionsgedankens, dass man Gemeinschaftsgefühl methodisch trainieren könnte und müsste. Viele Konzepte von Verhaltensänderungen, die die Identifizierung mit sozialen Zielen zum Inhalt haben, haben ihre theoretischen Wurzeln in den Intentionen Adlers, auch wenn deren Verfasser sich selten direkt auf ihn beziehen. Mit der Akzentuierung sozial-praktischer Ideale in seiner Individualpsychologie kann Adler als früher Anmahner des in der heutigen Psychologie häufig fehlenden Theorie-Praxis-Bezugs angesehen werden.
Der Name "Individualpsychologie" betont die unteilbare Einheit von Körper, Seele und Geist des "Individuums", was auch als Abgrenzung gegenüber dem Freudschen Persönlichkeitsmodell gedacht, das mehrere miteinander in Konflikt liegende psychische Instanzen postuliert. Bei Adler zieht das gesamte seelische Geschehen an einem Strang. Zwar unterscheidet er wie Freud zwischen bewussten und unbewussten Vorgängen, aber das Unbewusste führt kein den Tendenzen des Bewusstseins entgegengesetztes Eigenleben. Auch die verschiedenen psychischen Funktionen wie Denken, Fühlen, Handeln, Wahrnehmen, Lernen stehen alle im Dienst einer einheitlich ausgerichteten Motivation. Die Individualpsychologie geht nicht von einzelnen Elementen aus, sondern vom Menschen als einem organischen Ganzen. Die Nähe der Ideen Adlers zur Ganzheits- und Gestaltpsychologie wird häufig hervorgehoben.
Der Kerngedanke von Adlers Persönlichkeitstheorie ist das Konzept eines einheitlichen, zielgerichteten, schöpferischen Individuums, das in gesundem Zustand in einer positiven, konstruktiven, ethischen Beziehung zu seinen Mitmenschen steht. Die Einheit der Persönlichkeit ist eine souveräne und selbstbestimmende Macht, die durch innere und äußere Einflüsse mitgeformt wird. Alles Seelenleben ist zielgerichtet. Der Mensch ist weder durch seine Erbanlagen, noch durch frühkindliche Umwelteinflüsse vollständig kausal determiniert. Die Ursachenforschung erfasst nur einen zweitrangigen Aspekt des Lebensgeschehens, nämlich seinen physikalisch-chemischen Teil. Die eigentliche Ordnung des Lebendigen ist das ziel- und zweckgerichtete Handeln, das sich nur einer teleologischen Betrachtungsweise erschließt. Dieser teleologische Ansatz unterscheidet die Individualpsychologie von allen anderen psychologischen Theorien. Bereits 1912 wies Adler darauf hin, dass das Individuum aus dem Gefühl der Minderwertigkeit, der Unterlegenheit heraus, das durch die Kleinheit und Schwäche eines Kindes gegenüber dem Erwachsenen entsteht, meist unbewusst, aber sicher unverstanden, ein Persönlichkeitsideal, eine "Fiktion persönlicher Überlegenheit" schafft. Die Einheit der Persönlichkeit ist in der Existenz jedes Menschenwesens angelegt. Jedes Individuum repräsentiert gleichermaßen die Einheit und die Ganzheit der Persönlichkeit wie die individuelle Ausformung dieser Einheit. Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit.
Adlers Lehre ist zudem eine Sozialpsychologie der Persönlichkeit, denn der Charakter bildet sich als Resultat der Begegnung mit anderen Menschen, das ganze seelische Geschehen ist darauf ausgerichtet, einen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Die Gemeinschaft ist andererseits zu ihrer Verwirklichung und Entfaltung auf das Individuum genauso angewiesen, wie das Individuum zu seiner Selbstentfaltung der Gemeinschaft bedarf. Damit leugnet Adleraber nicht, dass es Widersprüche zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungengeben kann.
Schlüsselbegriffe der Individualpsychologie
Das Minderwertigkeitsgefühl gehört nach Adler zur Grundsituation jedes Menschen. Adler lehnte die Möglichkeit der individuellen Vererbung ab und anerkannte bloß die Umwelteinflüsse als prägende Kräfte. Aber er sah natürlich auch, dass Menschen in einer relativ homogenen Umwelt (z.B. in derselben Familie) sich sehr verschieden entwickeln können, und so fragte er sich, wie diese individuellen Unterschiede zu erklären seien. Da machte er als Arzt eine interessante Entdeckung, die ihm eine schlüssige Antwort auf diese Frage zu geben schien: Er stellte nämlich fest, dass es gewisse Menschen mit geschädigten oder geschwächten Organen ('Organminderwertigkeit') ausgerechnet auf den durch die Schädigung betroffenen Gebieten zu überdurchschnittlichen Leistungen bringen können. Ein Musterbeispiel war für ihn der griechische Redner Demosthenes, der von Natur aus eine schwache Stimme hatte und erst noch an einem für eine Rednerlaufbahn höchst hinderlichen Tic litt. Bekanntlich konditionierte er sich den Tic weg, indem er ein Schwert mit der Spitze nach unten an die Decke über seine nackte Schulter hängte, so dass er jedesmal gestochen wurde, wenn seine Schulter unnötigerweise nach oben zuckte. Und um seine Stimme zu stärken, stellte er sich an die Meeresküste und schrie seine Reden gegen die tosende Brandung. Nach Adler überwand auch Van Gogh seine Sehschwäche dadurch, dass er Maler wurde. Später hielt er Fehlhaltungen in der Erziehung, die Geschwisterkonstellation, die Geschlechtszugehörigkeit und die sozioökonomischen Bedingungen für mindestens ebenso wichtige Faktoren wie eine Organminderwertigkeit.
Nun ist in gewissem Sinne jeder Mensch bei der Geburt als minderwertig zu bezeichnen, da ihm der noch unreife Organismus die Äusserungen der spezifisch menschlichen Verhaltensweisen noch nicht gestattet. Der Anthropologe Arnold Gehlen bezeichnet darum den Menschen als "Mängelwesen". Adler ist davon überzeugt, dass das Kleinkind diese "objektive Minderwertigkeit" fühlt, da es sich unvermeidlich mit den älteren Kindern und Erwachsenen vergleicht. Es entsteht aus dem Erleben des kleinen Kindes, im Vergleich zu seiner Umgebung, der Erwachsenenwelt, hilflos, schwach und abhängig zu sein. Bestimmte Erfahrungen in der frühen Kindheit können dieses Gefühl, das zu negativer Selbstbewertung führt, zu einem Minderwertigkeitskomplex verstärken, der dann den Grundstock zu neurotischen Entwicklungen legt.
Andererseits bezeichnet Adler das Minderwertigkeitsgefühl auch als treibende Kraft: Wer sich vollkommen fühlt, ist nicht motiviert zu lernen. Das Minderwertigkeitsgefühl steht in einem Spannungsverhältnis zum Streben nach Überlegenheit bzw. der Überwindung von Mangellagen. Im "Sinn des Lebens" (1933a, 1973) führt Adler sogar allen Fortschritt in der Kultur und Zivilisation auf die menschliche Ausgangsposition der Minderwertigkeit zurück: So wie der Säugling in seinen Bewegungen das Gefühl seiner Unzulänglichkeit verrät, das unausgesetzte Streben nach Vervollkommnung und nach Lösung der Lebensanforderungen, so ist die geschichtliche Bewegung der Menschheit als die Geschichte des Minderwertigkeitsgefühls und seiner Lösungsversuche anzusehen. Einmal in Bewegung gesetzt, war die lebende Materie stets darauf aus, von einer Minussituation in eine Plussituation zu gelangen.
Ausgangspunkt der Individualpsychologie war die Entdeckung der organischen Minderwertigkeit und ihrer möglichen Kompensation durch die Verstärkung der Funktionsfähigkeit anderer Organe, durch intensives Training, durch eine bestimmte seelische Einstellung. Adler stellte fest, dass auch im psychischen Bereich der Kompensationsvorgang eine große Rolle spielt und übertrug das Modell des physiologischen Ausgleichs eines Defekts auf das Seelenleben, was zum Begriff der "seelischen Kompensation" führte.
Die Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl und dessen Kompensation im Sicherungs- und Machtstreben wurde zum Kernstück der Adlerschen Persönlichkeits- und Neurosentheorie. Die Mittel, mit denen Sicherungen zum Erhalt des Selbstwertgefühls getroffen werden, können aktiver oder passiver Art sein. Die aktive Form der Kompensation kann im Geltungs- und Machtstreben gesehen werden, aber sie ist für Adler nur eine Kompensationsform unter mehreren.
Noch unter dem Eindruck der Schrecken des 1. Weltkriegs spricht Adler vom "Gemeinschaftsgefühl" im Sinn eines psychologischen Fachbegriffs und bezeichnet es als den wichtigsten Teil der Persönlichkeitsstruktur und ist ein Kennzeichen von Adlers optimistischem Menschenbild, allerdings gehört dieser Begriff mit seiner Verschmelzung von Psychologie und Ethik auch zu den problematischsten. Zunächst wird das Gemeinschaftsgefühl als eine Gegenkraft zum Egoismus gesehen, die dem Willen zur Macht Grenzen setzt, wenn es nicht von äußeren oder inneren Kräften unterdrückt wird, später sieht er es als angeborene, latente Kraft, die bewusst entwickelt werden muss. Die Fähigkeit zu mitmenschlichen Beziehungen wird durch Erfahrungen in der Interaktion der frühen Kindheit gebahnt, der Grad an Gemeinschaftsgefühl ist das Kriterium für psychische Gesundheit.
Adler formuliert das kompensatorische Streben nach Geltung und Macht um in ein Streben nach Vollkommenheit. Durch das Gemeinschaftsgefühl wird das Streben nach Macht zum Streben nach Vollkommenheit modifiziert, zur "sozial nützlichen Seite" gelenkt, während der Mangel an Gemeinschaftsgefühl mit persönlichem Machtstreben und einer Ausrichtung nach der "sozial unnützlichen Seite" des Lebens verbunden ist. Als letztlich utopischer Begriff wird das Gemeinschaftsgefühl aus der Ebene der konkreten Beziehungsbeschreibung herausgehoben und als "Fühlen mit der Gesamtheit sub specie aeternitatis" beschrieben.
Nach Adler bringen die Erfahrungen in der frühen Kindheit das Kind dazu, dieses Höherstreben (Kompensieren) mit bestimmten, sich stets wiederholenden Verhaltensmustern zu realisieren. Das Kind legt sich schon früh einen persönlichen Leitlinien zurecht, von dem es annimmt, dass er ihm das Erreichen der erwähnten Ziele (Anerkennung und Geltung, vielleicht auch Überlegenheit und Macht) garantiert. Adler spricht in diesem Zusammenhang von einem "geheimen Lebensplan" und drückt damit aus, dass diese Zusammenhänge dem Kind unbewusst sind. Leitlinien können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Je größer die Minderwertigkeitsgefühle sind, desto tyrannischer ist die Leitlinie und desto mehr wird sie auch vom Individuum als innerer Zwang erlebt. Dieses Zwanghafte der Leitlinien kommt in den Formulierungen durch das "Ich muss ..." zum Ausdruck:
- "Ich muss stets der Erste sein, wenn ich angenommen sein will."
- "Ich muss durch Clownerie, durch Witz, durch Charme usf. im Zentrum stehen."
- "Ich muss mich selbst aufgeben und mich ganz für andere aufopfern."
- "Ich darf nicht auffallen und muss mir meinen Platz durch zurückhaltendes Wesen und durch Schweigen sichern."
- "Ich muss stets dagegen sein."
- "Ich muss mich stets anpassen und unterziehen."
- "Ich muss immer angreifen und darf mich nie in die Defensive drängen lassen."
- "Ich muss Besitztümer anhäufen und vorzeigen können."
- "Ich muss mich stets klein machen und meine Schwächen hervorstreichen."
- "Ich darf mir niemals eine Blöße geben."
- "Ich muss leiden."
- "Ich muss mich pflegen lassen."
- "Ich muss mich in jeder Situation in der Gewalt haben."
- "Ich muss immer die Verantwortung tragen."
- "Ich muss stören."
Man kann nach Adler das Wesen eines Menschen erst verstehen, wenn man dessen Leitlinie erkannt hat, denn erst dann ist man auch in der Lage, dessen Verhalten in einer bestimmten Situation vorherzusagen. Es ist daher die Hauptaufgabe der Psychotherapie, die Leitlinie aufzudecken und den Menschen von ihrem tyrannischen Einfluss zu befreien.
Aus diesen Leitlinien ergibt sich daher der "Lebensstil" eines Menschen, also die gleichmäßige, zielgerichtete Bewegung, die Ausdruck der individuellen Auseinandersetzung in der frühen Kindheit mit den angeborenen Anlagen und den umweltbedingten Anforderungen des Lebens ist: Jeder trägt eine 'Meinung' von sich und den Aufgaben des Lebens in sich, eine Lebenslinie und ein Bewegungsgesetz, das ihn festhält, ohne dass er es versteht, ohne dass er sich darüber Rechenschaft gibt. Im Vergleich zum statischen Zielbegriff ist der des Lebensstils ein mehr feldtheoretischer und dynamischer. Ausgehend von einem Minderwertigkeitsgefühl oder einer subjektiv empfundenen Mangellage, die der Mensch durch Kompensation überwinden will, entwickelt er eine eigene unverwechselbare Art und Weise, durch Bewegung und Handlung seine fiktiven Ziele zu erreichen. Der Lebensstil als weithin unbewusstes (unverstandenes) Programm umfasst sowohl das Selbstkonzept (die Meinung von sich selbst), die Ziele des Individuums (die Vorstellungen darüber, was es meint, erreichen zu sollen), die Meinung von der Welt und Verhaltensstrategien, die es für geeignet hält, von seinem subjektiven Ausgangspunkt zum Zielpunkt zu gelangen. Nach Adler kann man den Lebensstil bereits im Alter von vier bis fünf Jahren deutlich erkennen, und mit den durch ihn ausgeprägten und eintrainierten Verhaltensmustern liegt der individuelle Charakter im wesentlichen fest. Richtig deutlich wird er meist erst, wenn der Mensch einer neuen oder schwierigen Lebenssituation ausgesetzt wird. Er lässt sich höchstens durch pädagogische oder psychotherapeutische Korrekturen mit der Forderung nach Selbsterziehung umfinalisieren.
Anders als Freud hat Adler kein eigenes Entwicklungsmodell vorgelegt, allerdings weist der Begriff der "Entwicklungsaufgabe" (Havighurst 1972) theoretisch und praktisch einige Ähnlichkeit mit Adlers Konzept der "Lebensaufgaben" auf. Entwicklung beinhaltet sowohl nach Adler als auch nach Havighurst ein lebenslanges Überwinden von Problemen, das dem Individuum eine aktive Rolle bei der Gestaltung einräumt. Verschiedene Entwicklungsaufgaben oder entwicklungsspezifische Varianten der Lebensaufgaben werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Entwicklung eines Individuums aufgrund kultureller Anforderungen relevant. Das Meistern der Aufgaben gelingt am besten, wenn die der vorangehenden Phase bewältigt wurden. Eine Systematisierung von Entwicklungsaufgaben ist praktisch sehr bedeutsam, weil Entwicklung präventiv und interventiv in Richtung auf die Bewältigung gefördert werden kann. Die Themen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung anstehen, können nur auf der Basis bewältigter Aufgaben der vorausgehenden Phase erfolgreich in Angriff genommen werden.
Im Wesentlichen ist Alfred Adlers Psychologie eine Metapsychologie, d. h., er will den Menschen in seiner Gesamtheit verstehen, denn in der Individualpsychologie betrachtet man die Seele selbst, den Geist an sich, man prüft den Sinn, den der Mensch der Welt und sich selbst gibt, seine Ziele, die Richtung seiner Bestrebungen und die Art, wie er an die Lebensfragen herangeht. Ganzheit ist in Adlers Individualpsychologie aber nichts Statisches, denn im Vordergrund steht das aktive, auf ein Ziel ausgerichtetes dynamische Handeln. Bei Adler ist daher das Ich immer zur Handlung fähig und willig, es ist Akteur, nicht wie etwa bei Freud von übermächtigen Trieben überwältigt. Adlers Psychologie dreht sich im Verlauf der Entwicklung seines psychoanalytischen Systems zunehmend um Sicherheit und Anerkennung, sozialen Status, auch Männlichkeit und Selbstbehauptung, also um das Verhalten in der Welt und um das Verhalten zur Welt. Dabei taucht bei manchen Menschen irgendwann auch die Angst auf, zu wenig zu sein und anderen und sich selbst nicht genügen zu können, wobei es aus Adlers Sicht immer darum geht, welchen Gebrauch ein Mensch wenigstens von jenen Möglichkeiten macht, die ihm geboten werden bzw. gegeben sind.
Heute ist gelegentlich auch noch Adlers Betrachtung der Aggression als ein Trieb oder Instinkt zum Kämpfen, der auf einer allgemein biologischen Grundlage alle Bereiche motorischen Verhaltens beherrscht, von einiger Bedeutung. Im Gegensatz zu Freud, der den Aggressionsinstinkt der "Libido", also dem LustprinzIndividualpsychologie zuschreibt, bedeutet er für Adler eine zentrale Rolle innerhalb der individuell- dynamischen Prozesse. Wird dieser Aggressionstrieb durch Einflüsse der Umwelt unterdrückt, entsteht beim Individuum Angst. Beim durchschnittlichen Menschen zeigt sich, laut Adler, dieser Aggressionsinstinkt meistens in veränderter Form, beispielsweise als Sport, aber auch, nach kultureller Transformation, als Hilfsbereitschaft oder Altruismus. In späteren Theorien Adlers kommt der Aggression nur mehr eine untergeordnete Stellung zu. Sie wird nicht mehr als rein biologischer Instinkt betrachtet. Adler versteht nun vielmehr darunter eine teilweise bewusste teilweise unbewusste Tendenz zur Bewältigung alltäglicher Schwierigkeiten und Konflikte. Dadurch erhält Aggression in Adlers Theorie rein reaktiven und instrumentellen Charakter.
Er leugnet nicht, dass in seiner Psychologie "ein Stück Metaphysik" zu finden ist (z.B. in Bezug auf das Gemeinschaftsgefühl sub specie aeternitatis). Heute besteht der Drang, die Metaphysik aus dem wissenschaftlichen Denken zu verbannen, obwohl die Analyse wissenschaftlicher Konzepte beweist, dass metaphysische Prämissen als unbemerkte Leitlinien den wissenschaftlichen Prozess strukturieren. Adlers moralische Imperative sind unübersehbar, was nicht unproblematisch ist. Andererseits wird immer unüberhörbarer auch von Wissenschaftlern soziale Verantwortung, wenn nicht sogar Anleitung zum Handeln in einer Welt gefordert, die wegen der Tatsache, dass keine Philosophie, kein Wertsystem die Menschen unserer Tage eindeutig verpflichtet, eine tiefe Krise durchschreitet.
Nach seinem Tod und vor allem nach der fast vollständigen Auflösung der Individualpsychologie in den deutschsprachigen Ländern während des 2.Weltkriegs (Adler war bereits 1935 in die USA emigriert) geriet seine Schule zunehmend in Vergessenheit und/oder in Misskredit und ist länger als die Psychoanalyse stumm geblieben. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch entwickeln seine Anhänger neues Selbstbewusstsein, publizieren und institutionalisieren sich.
Hauptwerke chronologisch
Studie über die Minderwertigkeit der Organe - 1907
Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens - 1911
Über den nervösen Charakter - 1912
Heilen und Bilden - 1913
Praxis und Theorie der Individualpsychologie - 1920
Menschenkenntnis - 1927
Die Technik der Individualpsychologie - 1928/1930
Individualpsychologie und Schule - 1929
Die Seele des schwererziehbaren Kindes - 1930
Das Problem der Homosexualität - 1930
Der Sinn des Lebens - 1933
Religion und Individualpsychologie - 1933
Empfehlenswerte tiefergehende Darstellungen der Lehre Adlers, an
denen sich auch diese Darstellung orientierte, finden sich im web
unter
Brühlmeier, Arthur (o.J.). Die
Individualpsychologie Alfred Adlers. Einführender
Lehrtext über Adlers Individualpsychologie.
WWW: http://www.bruehlmeier.info/adler.htm (03-07-12)
Schallehn, Renate (1996). Alfred
Adlers Individualpsychologie heute: eine
Weiterentwicklung in Theorie und psychotherapeutischer Praxis?
WWW: http://www.goldgrubenverlag.de/schallehn-adler1.htm
(03-07-11) LEIDER NICHT MEHR AKTIV!
http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/PSYCHOLOGIEORD/PsychologieSchulen.html
http://www.4real.ch/psy-thrp.html (01-11-17)
http://bidok.uibk.ac.at/texte/aggressionen-3.html (02-01-25)
Norbert Hartkamp (1997). Psychoanalytische Therapie: Ergebnisse und Prozesse. Was wissen wir - wonach müssen wir fragen? In Volker Tschuschke, Claudia Heckrath & Wolfgang Treß (Hrsg.) Zwischen Konfusion und Makulatur. Zum Wert der Berner Psychotherapie-Studie von Grawe, Donati und Bernauer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
WWW: http://www.psychotherapie.org/norbert/ergpsy01.html (01-11-26)
Schallehn, Renate (1996). Alfred Adlers Individualpsychologie heute:
eine Weiterentwicklung in Theorie und psychotherapeutischer
Praxis?
WWW: http://www.goldgrubenverlag.de/schallehn-adler1.htm
(03-07-11)
Brühlmeier, Arthur (o.J.). Die Individualpsychologie Alfred
Adlers. Einführender Lehrtext über Adlers
Individualpsychologie.
WWW: http://www.bruehlmeier.info/adler.htm (03-07-12)
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