Kybernetik - die Wurzeln
König Minos hatte nach der Eroberung Athens der Stadt auferlegt, jedes Jahr 7 junge Männern und 7 junge Mädchen als Tribut zu entrichten, die dem Minotauros zum Fraße vorgeworfen werden sollten, jenem Ungeheuer, das, halb Mensch, halb Stier, im Labyrinth von Kreta lebte und sich von Menschenfleisch ernährte.
Theseus befreite sein Land von dieser Verpflichtung, indem er nach Kreta segelte und mit Hilfe Ariadnes. der Tochter des Minos, den Minotauros tötete. Als "Töter des Minotauros" wurde er der berühmteste der Könige von Athen, und wurde seit dem 6. Jahrhundert vor Christi Geburt in einem besonderen Kult verehrt. Jedes Jahr feierte man das Gedächtnis der Fahrt nach Kreta mit ausgiebigen Lustbarkeiten, die sich vom 6. bis zum 12. Pyaneprion (Oktober) erstreckten. Ihren Höhepunkt fanden diese in den "Kybernetien". In diesen Festen wurde die Lotsen-Kunst verherrlicht. Der Legende nach waren sie von Theseus selbst eingesetzt worden zu Ehren der beiden Lotsen Nausithoos und Poeax, die ihn nach Kreta geführt hatten.
Der Begriff "Kybernetik" wurzelt also in der griechischen Bezeichnung des Steuermanns, kybernetes. Im Lateinischen wurde daraus gubernare, im Englischen governor. Die Lenkung eines Schiffes, eines Staates, einer Armee oder eines Organismus lassen sich zumindest dann unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenfassen, wenn die Orientierung an einem Ziel oder einem Zweck vorhanden ist.
Immer wenn es sich darum handelt, ein Ziel zu erreichen, findet man sich unausweichlich vor einem Problemtyp, bei dem nach stets gleichem Schema die Erforschung eines Vorgehens auf die Zukunft ausgedehnt werden soll. Ein System beherrschen heißt tatsächlich, ihm in einem bestimmten Augenblick einen wohldefinierten Zustand zuzuweisen und dabei alle anderen möglichen Zustände auszuschließen. In diesem Sinne können wir den Begriff der Steuerung vor allem auffassen als eine Neutralisierung vom Zufall abhängiger Handlungen, also als einen Kampf gegen den Zufall: Während das betrachtete System unter dem Spiel des Zufalls einen "beliebigen" Zustand hätte, will ihm der Lotse einen im voraus festgesetzten Zustand anweisen.
Die moderne Kybernetik, wie sie dann Norbert Wiener 1948 in seinem berühmten Buch präsentierte, speiste sich aus drei Quellen:
- der neurobiologischen Erforschung nervlicher Mechanismen, die zum Beispiel Warren McCulloch und Arturo Rosenblueth anstellten,
- der Entwicklung der Informationstechnik, an der unter anderem Claude Shannon maßgeblich beteiligt war, und
- der Mathematik. Hier kamen Anstöße von Alan Turing und John von Neumann, aber auch von Walter Pitts, der in Chicago bei Rudolf Carnap studiert hatte und gemeinsam mit Warren McCulloch an einer Theorie der neuronalen Netze arbeitete.
Seit 1943 tauschten sie sich regelmäßig über diese unterschiedlichen Ansätze aus, auch über kriegswichtige Projekte, wie beispielsweise der Entwicklung von Feuerleitsystemen für die Flugabwehr. Nach dem Krieg zerfiel die Kooperation jedoch nicht, sondern wurde in Gestalt der von der Josiah Macy Foundation einberufenen Treffen fortgesetzt.
Siehe dazu: Das TOTE-Konzept von Miller, Galanter & Pribram
Die Zirkularität von Bewegungen wird in der Kybernetik als Selbstreferenz beschrieben. Die Lenkung eines Schiffs über ein Steuerruder wird kontrolliert am Verhalten des gelenkten Schiffes, auf das wiederum die nächsten Lenkbewegungen reagieren. Statt einer Reaktion auf die Umwelt, das Meer, die Strömung, findet eine Reaktion auf den Aufbau des Schiffes statt. Verantwortlich für die Lenkbewegungen ist nicht irgendein Wellenschlag, sondern das auf der Bauart des Schiffes beruhende Verhalten.
Dieses Phänomen kann jeder Autofahrer nachvollziehen, der sein Fahrzeug bei schneller Fahrt durch eine Kurve lenkt: Entscheidend für die Lenkbewegung ist nicht die Kurve, sondern das Kurvenverhalten des Fahrzeugs, das je nach Konstruktion über den Kurve hinaustreibt oder in sie hineindreht, Eigenschaften, die Fachleute als Über- bzw. Untersteuerung des Fahrzeugs bezeichnen.
Der transzendentale Realist stellt sich also
äußere Erscheinungen (wenn man ihre Wirklichkeit
einräumt) als Dinge an sich selbst vor, die
unabhängig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren,
also auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns
wären. Dieser transzendentale Realist ist es
eigentlich, welcher nachher den empirischen Idealisten
spielt, und nachdem er fälschlich von Gegenständen
der Sinne vorausgesetzt hat, dass, wenn sie
äußere sein sollen, sie an sich selbst auch ohne
Sinne ihre Existenz haben müßten, in diesem
Gesichtspunkte alle unsere Vorstellungen der Sinne
unzureichend findet, die Wirklichkeit derselben gewiß
zu machen.
Kant, KdrV A370
Triplexität statt Monismus und Dualismus
Einer der Grundgedanken der Kybernetik ist es, die Kausalitätsvorstellung bei einem Vorgang in einem System zu relativieren. Nicht die aneinander gereihte direkte Beziehung von Ursache und Wirkung, der Kausalnexus, entspricht den meisten Naturvorgängen, sondern der Regel- oder Funktionskreis mit rückgekoppelten "Merkmalsträgern". Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit ist ein vernetztes System, das man nur als verknüpftes Geschehen begreifen kann, in das die Einzelgeschehnisse eingebettet sind. Da sich wissenschaftlich nur Einzelgegenstände untersuchen lassen, müssen bei jedem Ergebnis immer die Bedingungen, das heißt die Vernetzungen in einem Gesamtsystem berücksichtigt werden. Dazu dient das kybernetische Theoriengebäude.
Die Psychokybernetik entwickelte daraus die Theorie zu einer (neben Monismus und Dualismus) dritten Form der Beziehung zwischen physischen und psychischen Ereignissen: die Triplexität, deren Bezeichnung sich auf Aristoteles zurückführen lässt: "Demnach ergibt sich für die Seele notwendig, dass sie Substanz ist im Sinne der Form eines natürlichen Körpers, der potenziell Leben besitzt. Substanz als Form aber ist Entelechie (als geistiges Prinzip), und die Seele ist also Entelechie eines Körpers von der bezeichneten Art". Nicht das Nervengeschehen ist die "letzte Ursache" (Monismus), ebenso wenig findet ein "Darüberhinwegstreichen" des Geistes über die Hirnstrukturen (Dualismus) statt, sondern es existiert eine rückgekoppelte Beziehung zwischen physischen und psychischen Strukturen im Gehirn. Aristoteles formulierte es so: "Sich selbst vernimmt die Vernunft bei der Erfassung des Vernehmbaren, ... und das Vernehmen ist ein Vernehmen des Vernehmens." Diese Triplexität soll an die Stelle von Monismus und Dualismus treten. Die drei Instanzen der Triplexität waren bei Aristoteles Substanz, Form und Entelechie. In der Psychokybernetik stehen dafür Träger, Muster und Bedeutung.
Die neuronale Basis der Psychokybernetik
Eine neuronale Rückkopplung im Nervensystem wiesen Giuseppe Moruzzi und Horace Winchell Magoun erstmalig 1949 nach. Anatomische Grundlage ist die im Stammhirn des Gehirns liegende Formatio reticularis, ein netzartiges Geflecht von Nervenzellen. Sie erhält von den verschiedenen Sinnesorganen und Hirnzentren Nervensignale und beeinflusst ihrerseits das Erregungsniveau vieler Zellen und Zentren des Zentralnervensystems. Ein wichtiger Teil der Formatio reticularis ist das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem (ARAS), dessen Nervenfasern mit dem Thalamus und dem Zwischenhirn verbunden sind. Es enthält zwei sich ergänzende Nervenbahnungen: spezifische, die von den Sinnesorganen kommen, und unspezifische.
Die spezifischen Bahnen sind einfach aufgebaut und führen lediglich über wenige Synapsen zur Großhirnrinde, sind dafür aber ständig tätig. Die unspezifischen Bahnen verlaufen über Tausende von Synapsen, sind aber nur im bewussten Zustand aktiv. Beide können über das retikuläre System zusammengeschlossen werden. Dadurch lässt sich auch erklären, warum man durch ein Geräusch aus dem Schlaf gerissen werden kann, das man nicht bewusst gehört hat: Das Geräusch wurde registriert, weil die spezifischen Nervenbahnen auch im Schlaf tätig blieben. Ihre Alarmierung aktivierte über die von der Großhirnrinde absteigende Nervenstränge die unspezifischen Nervenbahnen. Dieser mögliche Zusammenschluss im retikulären Aktivierungssystem ist nicht die einzige Form der Rückkopplung. Bereits auf der Ebene einzelner Nervenzellen gibt es Rückkopplungen bei den Ionenströmen, die zur Weiterleitung der Aktionspotenziale führen.
Die Signalverarbeitung in den Nervenzellen arbeitet mit zwei Verfahren. Der Körper einer Nervenzelle (Neuron) produziert elektrische Potenziale, die durch das Axon (Nervenfaser) bis zu den Endverzweigungen wandern, um dort an einem Spalt zu enden. Der elektrische Impuls kann nicht direkt zur nächsten Nervenzelle weitergeleitet werden. Wie aber kommt die Nachricht zur Nachbarzelle? Die Endverzweigung der einen Nervenzelle bildet mit der anderen eine Synapse aus. An der Membran der Synapse wird das elektrische Signal in ein chemisches Signal umgewandelt und auf die gegenüberliegende Nervenzelle übertragen, wo es wiederum in ein elektrisches Signal zurückverwandelt wird. Potenzialveränderungen lassen sich durch ein EEG in großen Potenzialbereichen abgreifen. Synaptische Übersprünge, die mittels PET sichtbar gemacht werden können, geben die Arbeitszustände von großen Zellgemeinschaften wieder. Vorläufig ist es allerdings nicht möglich, diese beiden neuronalen Nachrichtenverfahren durchgängig von der Zellebene bis zum Gesamtgehirn zu beobachten.
Psychophysiologie des Bewusstseins
Die Frage, wie sich aus den rhythmischen und figuralen Strukturen der Nervenaktivitäten im Laufe von mehreren Millionen Jahren das Bewusstsein entwickelt hat, lässt sich bisher nicht klären. Theorien, die versuchen diese Frage zu beantworten, müssen durch psychophysiologische Untersuchungen bestätigt werden. Die seit Aristoteles vertretene Triplexitätsauffassung wurde unter anderem von Raimundus Lullus, Peter Abaelardus, Adam Ferguson, Albrecht von Haller, Friedrich Schiller, Lew Wygotskij und Egon Brunswik zumindest teilweise befürwortet. Ihre Neufassung, die Psychokybernetik, verneint die konkurrierenden ebenso alten, aber leichter begreiflichen Auffassungen einer Identität von Körper und Geist (vertreten unter anderem durch Demokrit und Ernst Haeckel) beziehungsweise der Dualität von beiden (durch Platon und René Descartes). Schiller formulierte als ein Anhänger der Dreistufigkeit (Triplexität): "Es muss eine Kraft vorhanden sein, die zwischen den Geist und die Materie tritt und beide verbindet. Eine Kraft, die von der Materie verändert wird und die den Geist verändern kann. Dies wäre also eine Kraft, die einesteils geistig, andernteils materiell, ein Wesen, das einesteils durchdringlich, anderenteils undurchdringlich wäre, und lässt sich ein solches denken? Gewiss nicht." Trotzdem kommt er zu dem Urteil, es müsse sie (in Berufung auf Ferguson) geben: "Ich nenne sie Mittelkraft ... Die Mittelkraft wohnet im Nerven. Denn wenn ich diesen verletze, so ist das Band zwischen Welt und Seele dahin."
Träger - Muster - Bedeutung
In der heutigen Formulierung der Triplexität von Aristoteles (Substanz Form Entelechie) lautet sie: Träger Muster Bedeutung. Ein materieller Trägerprozess, gleichgültig ob biologisch oder technisch, bietet die Möglichkeit, Muster zu transportieren. Diese Muster können nachfolgend auf andere Träger (oft in gewandelter Form) "übertragen" werden. Die Muster sind also "mehr und anderes" als bloße Aktionsformen der Trägerprozesse, nämlich die "Mittelkraft" im Sinne Schillers oder das Verbindungsglied zwischen physischen und psychischen Ereignissen, ohne mit ihnen identisch zu sein. Werner Heisenberg schrieb 1973 über diese Vermittlerfunktion: "Wir erwarten nicht, dass etwa ein direkter Weg des Verständnisses von der Bewegung der Körper in Raum und Zeit zu den seelischen Vorgängen führen könnte, da wir auch in den exakten Naturwissenschaften gelernt haben, dass die Wirklichkeit für unser Denken zunächst in getrennte Schichten zerfällt, die erst in einem abstrakten Raum hinter den Phänomenen zusammenhängen."
Die Vermittlerfunktion der Muster ergibt sich aus der psychophysischen Merkmalsentsprechung. Beispielsweise fiel auf, dass bestimmte Rhythmusmerkmale wie die Frequenzerhöhung und die Amplitudenreduzierung sowohl bei den EEG-Wellen als auch beim Sprachrhythmus eine Erhöhung der Erregung wiedergeben. Somit lag der Schluss nahe, die Muster in ihrer Eigenschaft als "Bedeutungsträger" als den Übergang zur geistigen Kategorie anzusehen. Sie sind die "Form" bei Aristoteles oder die "Mittelkraft" bei Schiller, sowohl materiell (als neuronale Muster, Sprachmuster oder elektronisches Muster) wie immateriell, wenn man sie ausschließlich als "Medien", das heißt als Formgebungen, betrachtet, die von einem materiellen Träger auf den nächsten übertragen werden.
Die Bedeutung als dritte Stufe umfasst die Gesamtheit geistig-seelischer Werte (bei Aristoteles Entelechie genannt, bei Schiller gleichbedeutend mit Geist). Das Wort "Bedeutung" ist treffender, da es von der irrigen Auffassung abrückt, "Seelisches" sei eine Art Organ in uns. Gleichzeitig ist dieser Begriff universeller und kann die ganze Fülle der psychischen Inhalte repräsentieren. Er umfasst sowohl Wahrnehmungen wie Gedächtnis, Denken, Fühlen, Lernen, Kreativität und Leistung als auch geistige Tätigkeiten wie Problemlösen, Meditieren, Dichten und vieles andere mehr.
Auch die Äußerung und Wiedergabe des Seelischen wird als "Bedeutung" auf andere Menschen übertragen. Die Verbindung der chemisch-physikalischen Vorgänge im Nervensystem mit den "Bedeutungen" geschieht über die rhythmischen und figuralen Muster, die wie bei allen technischen und biologischen Nachrichtensystemen durch die Prozesse der Musterbildung mehr oder weniger festgelegt sind. Die "Mustererkennung" als Forschungsgebiet hat das Ziel, die Übereinstimmung aller geistig-seelischen Bedeutungsinhalte mit bestimmten formalen Mustern nachzuweisen. Oder anders ausgedrückt: Sie erstellt ein Vokabular für die Entsprechung von Mustermerkmal und Bedeutungsinhalt, ähnlich wie Wörterbücher zwischen zwei Sprachen vermitteln.
Rhythmische und figurale Mustersprache
Die Rhythmusmerkmale gelten seit langer Zeit als primäres Regelsystem für emotionale Inhalte, die figuralen Merkmale bestimmen dagegen den kognitiven Gehalt. Ähnlich wie Rhythmus und periodische Melodieführung in einem Musikstück dessen Gefühlswerte repräsentieren, dienen die elektrischen Bewegungsmuster im Zentralnervensystem als Träger zur Wiedergabe von Erregungen im weitesten Sinn.
In den Figurenmustern stecken als Prinzip die bereits von Aristoteles entdeckten Assoziationsgesetze: "Immer muss, wenn das Gedächtnis arbeitet, ein Früher (an Vorstellungen) mitempfunden werden, in dem man dieses gesehen oder gehört oder gelernt hat." Vorstellungen sind die einfachste Verbindung von Denken und Sinnestätigkeit; sie fußen im neuronalen Träger auf "zeitweiligen Verbindungen", wie sie Iwan Pawlow als bedingte Reflexe nachgewiesen hat. Auf logischer Ebene ist die einfachste Form der Verbindung der von Aristoteles beschriebene Syllogismus. Das syllogistische Figurenmuster in seiner einfachsten Gestalt bildet die Grundlage des Denkens. Solche Figurenmuster lassen sich beliebig kompliziert gestalten. Entsprechend ist das Geistige im Hirngeschehen bei jedermann entwicklungsfähig.
Bewusstsein ist ein zusammengesetztes Phänomen
Die psychokybernetische Kohärenztheorie gestattet es unter anderem, die vorher nicht erklärbare Wechselwirkung zwischen Körperlichem und Psychischem in beiden Richtungen theoretisch abzuleiten. Der Anlass hierfür ist die Triplexitätstheorie (Dreiheitlichkeit), die zwischen dem Körper (neuronale Trägerprozesse) und der Psyche beziehungsweise dem Geist (seelische Funktionen) die Musterinstanz als unterscheidbares Drittes sieht. Diese vermittelt als formale Formgebung zwischen den Trägerprozessen sowie den psychischen Begebenheiten und Erlebnissen. Sie ist gegenläufig durchlässig, das heißt, psychische Wirkungen können über die Vermittlungsinstanz der Muster auf körperliche Prozesse ausstrahlen und umgekehrt. Beispielsweise kann ein Hypnotiseur durch eine getragene Sprachrhythmik körperliche Entspannung bewirken und umgekehrt durch die Beeinflussung der Atemrhythmik psychische Wirkungen erzielen. In der Psychotherapie ist diese Wechselwirkung zwischen seelischen und körperlichen Ereignissen eine Selbstverständlichkeit: Seelische Befindlichkeiten nehmen oft Einfluss auf den Körper, wie auch eine körperliche Erkrankung seelisches Befinden erheblich belasten und verändern kann.
Um die Millionen Jahre währende Evolution des menschlichen Bewusstseins (Phylogenese) und die über viele Monate andauernde Entwicklung des Eigenbewusstseins im Individuum (Ontogenese) zu erklären, ist zusätzlich zu der Kohärenztheorie der Psychokybernetik die Theorie der Systemkybernetik nötig. Ausgangspunkt ist die allgemein akzeptierte Annahme, dass das Bewusstsein ein zusammengesetztes Phänomen ist. Strittig bleibt vorläufig die Aufteilung der Bewusstseinsanteile. In diesem vorbereitenden Kapitel genügt es, die unbestrittene Tatsache einer Trennung von "bewusst" (Wachbewusstsein) und "nicht-bewusst" (zum Beispiel als Traumschlaf oder als Rapport in der Hypnose) zu betrachten. Seitdem 1951 der deutsche Psychologe Hans Thomae vorschlug, Bewusstsein als "aktuelle Subjekt-Objekt-Beziehung" zu definieren, lässt sich eine psychophysiologische Entsprechung zu unspezifischen und spezifischen Nervenbahnen herstellen, wobei den unspezifischen die bewusste und den spezifischen die unbewusste Aktivität zukommt.
Beim täglichen Erwachen (noch dramatischer nach Vollnarkosen) "vergegenwärtigt" sich der Mensch. Der morgendliche Selbstfindungsprozess, Primordium genannt, kann blitzschnell erfolgen, oder es kann mehrere Sekunden oder Minuten, im Extrem sogar Stunden dauern, "ehe man ganz da ist". Was dabei geschieht, ist im Einzelnen noch nicht geklärt. Jedoch dürften sich zumindest sieben Teilvergegenwärtigungen für das volle Wachbewusstsein zusammenschließen.
Psychisches ist zwar, wie die Psychophysiologie zeigt, von dem Instrument Gehirn abhängig, aber wie etwa der Geigenvirtuose ein Meisterstück auf seinem Instrument spielen kann, während andere nur stümperhafte Melodien zuwege bringen, so sind wir alle gehalten, mehr aus unserem Instrument Gehirn herauszuholen. Psychisches ist unser Eigentum an "Selbst". Unser Denken ist kein bloßes Erzeugnis unseres Gehirns, das wie die Melodie eines Geigenautomaten mechanisch hergestellt wird, sondern wir sind die selbstverantwortlichen Schöpfer unseres Psychischen. Im besten Fall ist der Mensch ein Virtuose an einer Hirn-Stradivari, im schlechtesten Fall ein Versager an einem Massenprodukt der Geigenbauindustrie, wobei immer schwer zu sagen ist, wer Schuld ist, der Spieler oder das Instrument.
In der amerikanischen Wissenschaftspraxis der fünfziger Jahre war die Kybernetik schließlich kaum etwas anderes als eine auf lebende Organismen angewandte Steuerungstheorie. Die Vertreter von Konzepten der Künstlichen Intelligenz - wie Seymour Papert und Marvin Minsky - warfen ihr eine romantische Sichtweise und das Fehlen einer mathematischen Fundierung vor.
Quellen:
Benesch, Hellmuth (2002). Psychophysiologische Grundlagen
geistiger Prozesse. Bibliographisches Institut &
F. A. Brockhaus AG
Rotermund, Hermann (1997). Wir sehen nicht, dass wir nicht
sehen". Heinz von Foerster: Ein Portrait des
Mitbegründers der Kybernetik.
WWW:
http://www.radiobremen.de/rbtext/rb2/_wissen/w70626d.htm
(00-10-16)
Moser, Heinz (o.J.). Das Erforschen der eigenen Praxis als
Möglichkeit kritischer Unterrichtsreflexion.
WWW:
http://www.schulnetz.ch/unterrichten/fachbereiche/medienseminar/kridida.htm
(03-03-10)
Heinz von Foerster
geboren 1911 in Wien, lehrte ab 1949 als Professor für Informatik und ab 1958 als Professor für Biophysik und Physiologie an der University of Illinois. 1958 Gründer und bis zu seiner Emeritierung Leiter des Biologischen Computer Laboratoriums, eines interdisziplinären wie internationalen Forschungsinstitut für das Studium der Physiologie, Theorie, Technologie und Epistemologie kognitiver Prozesse. Er starb am 2. Oktober 2002 in Pescadero nahe San Francisco.
Ernst von Glasersfeld
geboren 1917 als Österreicher in München, entwickelte Anfang 1970 die Zeichensprache "Yerkish" und gemeinsam mit Piero Pisani das Computersystem, das am Yerkes Institute in Atlanta für Verständigungsexperimente mit der Schimpansin Lana verwendet wurde. Zugleich begann er Kognitive Psychologie zu lehren; seit 1978 ist er dort Professor für Psychologie.
Bildquellen:
http://www.iserp.lu/etudiants/2a/Even_Wojsischowski/glasersfeld.jpg
http://www.iserp.lu/etudiants/2a/Even_Wojsischowski/foerster.jpg
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