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Die Schaulust

Neugier ist allerdings kein auf die Kindheit und Jugend beschränktes Phänomen. Wer kennt nicht die oft störende und manchmal belastende Anwesenheit von Zuschauern bei Unfällen und Katastrophen. Diese Personen, vielfach als "Sensationstouristen" oder "Gaffer" bezeichnet, werden von Einsatzkräften häufig als zusätzlicher Stressfaktor empfunden und erschweren damit nicht selten deren Arbeit.

Schaulust

Dieses Phänomen der Schaulust hat es zu allen Zeiten gegeben und ist in allen Kulturen zu finden, man denke nur an die Gladiatorenkämpfe, Hexenverbrennungen, den Pranger, der teilweise bis in das 19. Jahrhundert hinein eine Unterhaltung für das Volk darstellte. Heute sind Berichte von Unfällen, Katastrophen und Kriegsgreuel in Fernsehen oder Zeitungen an die Stelle von Gladiatorenkämpfen getreten, das "Reality-TV" oder Videos von entsprechenden Schreckensszenen ersparen den Gang in die Kampfarena.

Zu allen Zeiten gab es eine Unterscheidung zwischen "guter" und "schlechter" Schaulust. Die daraus resultierenden Normen variierten im Laufe der Zeit und zwischen den Gesellschaften. Schicht- und gruppenspezifische Verhaltensregeln, religiöse und philosophisch-ethische Leitlinien sowie die öffentliche Meinung schreiben vor, wieweit Interesse und Neugierde gehen und welcher Mittel sie sich bedienen dürfen. Das Betrachten grauenvoller Bilder in seriösen Nachrichtensendungen oder -magazinen gilt in unserem heutigen Normgefüge mehrheitlich als durchaus akzeptabel; dagegen verurteilt man das Verweilen auf einer Brücke bei einem Hochwasser oder Massenunfall als unmoralisch. Teilweise wird es auch nur bestimmten Personengruppen erlaubt, derartige Ereignisse oder deren Opfer anzusehen, z.B. Journalisten, Wissenschaftlern, Juristen, Medizinern etc. Dabei wird allerdings die normative Erlaubnis nur dann erteilt, wenn gesellschaftlich akzeptierte Motive dies rechtfertigen, beispielsweise Forschungsinteresse, Informationspflicht oder Wahrheitsfindung.

Nach Felix v. Cube (1990) steht bei der menschlichen Schaulust ein "Sicherheitstrieb" im Vordergrund: Durch das neugierige Erforschen von Unbekanntem gewinne der Mensch an persönlicher Sicherheit. Wenn man dieser Interpretation folgt, würden Schaulustige somit nicht den Nervenkitzel suchen, sondern Informationen (z.B. wie der Unfall passieren konnte), um die Gefahr zu verringern, einmal selbst in eine solche Situation zu geraten. Sumpf (1995) meint, dass der Mensch durch das Zuschauen bei Unfällen versucht, sich Überlebensstrategien in bezug auf die lebensbedrohenden Risiken in seiner Umwelt (z.B. Straßenverkehr) anzueignen. Dieser Zusammenhang muß den Zuschauern nicht bewußt sein. Giesers (1989) und auch Buchmann (1987) deuten den Zwang hinzuschauen als unterbewußten Wunsch nach Bestätigung der eigenen Unversehrtheit beim Miterleben des Leides anderer.

Sensationssuche beim Essen?

Byrnes & Hayes (2016) haben untersucht, inwieweit die Vorliebe für scharfes Essen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängt. Es zeigte sich, dass Menschen mit einer Vorliebe für Scharfest sich gerne in riskante Situationen begeben, also Sensationssucher sind, denn sie mögen insgesamt den Thrill bzw. das kribbelnde Erlebnis jenseits der Komfortzone. Dennoch streben solche Menschen auch nach einem positiven Feedback anderer Menschen, sodass sie ihre riskanten Aktionen auch deshalb unternehmen, um Anerkennung zu bekommen. Menschen mit einem hohen Maß an Verträglichkeit bzw. Menschen, die nach Harmonie streben, bevorzugen eher süßes Essen als Menschen mit einem niedrigen Maß an Verträglichkeit. Dabei muss man einschränken, dass der Frauenanteil unter diesen überwiegt, sodass der eigentliche Grund für die soziale Verträglichkeit eher darin liegt, dass es sich dabei vorwiegend um Frauen handelt, von denen naturgemäß Hilfsbereitschaft und Mitgefühl erwartet wird. Hingegen hat man in einem Geschmackstest an etwa tausend Männern und Frauen herausgefunden, je stärker deren Vorliebe für bittere Lebensmittel, umso mehr Merkmale eines böswilligen Verhaltens zeigten sie. Vor allem Sadismus und Psychopathie sind bei den Liebhabern des Bitteren überdurchschnittlich häufig zu finden, denn Menschen mit diesen Merkmalen benötigen extreme Reize, um überhaupt etwas zu spüren, wobei das Bittere für sie wohl einen solchen Reiz darstellt. Bekanntlich schmecken viele Gifte bitter, sodass die Reizung der Bitterrezeptoren auf der Zunge im Gehirn für Erregung sorgt.

Neugier und das Phänomen des Katastrophentourismus

Menschen sind vermutlich genetisch so veranlagt, dass sie ihre Aufmerksamkeit leichter auf Negatives als auf Positives lenken, d. h., Menschen erinnern sich an etwas Erschreckendes länger als an etwas Freundliches. Bei einem Unfall etwa versuchen sie, durch das Schauen an Informationen zu kommen und zu erfahren, was da los ist, um sich gegebenenfalls selbst in Sicherheit bringen zu können oder etwas daraus zu lernen. Insgesamt gehört das zur Strategie von Menschen aus Situationen zu lernen, damit ihnen das Gleiche erspart bleibt. Bei Katastrophen gaffen Menschen aber eher in einer Mischung aus Sensationsgier, Schadenfreude und der Suche nach einem emotionalen Kick (sensation seeking). Sie erleben dabei Emotionen anderer Menschen aus der sicheren Distanz heraus, ohne selbst betroffen zu sein, etwa wie ein Fernsehzuschauer. Spricht man solche Menschen an, geben sie vor, dass sie sich ja nur über die aktuelle Lage informieren wollten. Einige blenden dabei vermutlich ihr durchaus vorhandenes schlechte Gewissen völlig aus, weil sie meinen, sie hätten das Recht dazu. Manchen Katastrophentouristen fehlt auch die Empathie, denn wenn sich jemand in die Situation der Flutopfer echt einfühlen kann, dann fährt er nicht hin, sondern spendet, oder er fährt hin, um zu helfen.

Erstarren in der Schaulust

Aus Sicht der Notfallpsychologe gibt es viele verschiedene Ansätze, die erklären sollen, weshalb Bilder von Unfällen oder Katastrophen Menschen faszinieren. Eine Grund ist, dass der Mensch schlicht in diesem Augenblick seine Sinne nutzt, wobei zusätzlich angesichts eines Unglücks auch der Instikt greift: "Besteht für mich eine Gefahr?" Außerdem sind Menschen soziale Wesen und merken, wenn es einem Artgenossen schlecht geht. Aber auch individuelle Motive spielen eine Rolle, etwa Neugier oder Lustgewinn. Beim Sensation Seeking wird Adrenalin ausgeschüttet, wobei es auch um das Lernen aus solchen Beispielen geht, denn es ist für Menschen wichtig zu sehen, dass geholfen wird. Manche Menschen erstarren angesichts des Anblicks wie dem eines Unfalls vor Schreck, und können nicht wegsehen. Evolutionsbedingt muss sich der Mensch entscheiden, ob er angesichts einer Gefahr kämpft oder flieht. Das Erstarren oder auch Totstellen zählt dabei als eine Art zu kämpfen. Hinzu kommt heute auch die Faszination, die die Medien wecken, wenn sie Unfallbilder zeigen.

Immer wieder erstarren Menschen kollektiv, die einen dramatischen Vorfall wie eine zusammenbrechende Person, einen Verkehrsunfall oder einen Überfall beobachten, und tun nicht, wobei oft nicht einmal die Polizei gerufen wird. Menschen werden vor allem in der großen Menge zu passiven Zuschauern anstatt zu aktiven Helfern. In der Psychologie und Soziologie nennt man vom "non-helping-bystander-effect" (Zuschauereffekt), bei dem die Bereitschaft etwas zu tun geringer ist, je mehr Menschen anwesend sind. Eine neue Untersuchung (Philpot et al., 2019), bei der man Überwachungsbilder von Gewaltsituationen im Vereinigten Königreich, Südafrika und den Niederlanden auswertete, stellte aber fest, dass in 90 Prozent der Fälle mindestens eine Person (typischerweise jedoch mehrere) intervenierte und versuchte zu helfen. Auch nahm die Wahrscheinlichkeit einer Intervention mit der Anzahl der Zuschauer zu, was dem Zuschauer-Effekt widerspricht. Die Wahrscheinlichkeit einer Intervention war in allen drei Ländern ähnlich, obwohl Südafrika im Durchschnitt deutlich niedrigere Wahrnehmungen der öffentlichen Sicherheit und ein höheres Maß an Gewalt aufwies. Es zeigt sich in dieser Untersuchung, dass Menschen eine natürliche Neigung haben zu helfen, wenn sie jemanden in Not sehen. Man will nun untersuchen, wie spezifische Faktoren wie die Größe des Täters oder ob sie eine Waffe haben, die die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens beeinflusst.

Auch wenn man Gewalt "nur beobachtet" versetzt das viele Menschen in Angst und zwar so sehr, dass sie die Situation falsch wahrnehmen und beurteilen, d.h., sie sind unfähig zu denken und zu handeln. Manchmal ist das eine Abwägung, was bringt mir das, wenn ich bleibe? Was habe ich für Einbußen, für Verluste? Was gewinne ich davon auch? Viele Menschen glauben, das Einzige, was sie tun können ist, sich wie ein Held zwischen Täter und Opfer zu werfen, aber die meisten Menschen trauen sich das nicht zu. Wer sich zwischen Täter und Opfer stellt, läuft schließlich Gefahr, selber Opfer der Aggression zu werden.

Die Psychologie rät, in solchen Situationen ruhig zu bleiben, andere mit ins Boot holen, sich zusammen zu schließen, denn einer allein kann wenig ausrichten. Je mehr Menschen sich für die Situation interessieren, desto besser. Es wird auch empfohlen, statt sich einzumengen, eher Verwirrung zu stiften., indem man eine Arie singt, immer wieder nach der Uhrzeit oder nach dem Weg fragt.

Die Neugier

Förderung von Neugier und kognitiven Kompetenzen

Klassifikation des Neugierverhaltens

Siehe dazu ergänzend:

Mackowiak, Katja & Trudewind, Clemens (o.J.). Die Bedeutung von Neugier und Angst für die kognitive Entwicklung. In Wassilios E. Fthenakis & Martin R. Textor (Hrsg.), Online-Familienhandbuch.
WWW: http://www.familienhandbuch.de/cms/Kindliche_Entwicklung-Neugier_und_Angst.pdf (02-07-29)


Literatur

Belsky, J., Goode, M. K., & Most, R. K. (1980). Maternal stimulation and infant exploratory competence: Cross-sectional, correlational, and experimental analyses. Child Development, 51, S. 1163-1178.

Berg, C. A. & Sternberg, R. J. (1985). Response to novelty: Continuity versus discontinuity in the developmental course of intelligence. Advances in Child Development and Behavior, 19, S. 1-47.

Byrnes, N. K. & Hayes, J. E. (2016). Behavioral measures of risk tasking, sensation seeking and sensitivity to reward may reflect different motivations for spicy food liking and consumption. Appetite, 103, 411-422.

James, William (1890). The principles of psychology (Vol. 2). New York: Holt, Rinehart & Winston.

Mackowiak, Katja & Trudewind, Clemens (2001). Die Bedeutung von Neugier und Angst für die kognitive Entwicklung.

WWW: http://www.familienhandbuch.de/cms/Kindliche_Entwicklung-Neugier_und_Angst.pdf (99-11-17)

Lorenz, Konrad (1943). Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung. Zeitschrift für Tierpsychologie, 5, S. 235-409.

Philpot, R., Liebst, L. S., Levine, M., Bernasco, W., & Lindegaard, M. R. (2019). Would I be helped? Cross-National CCTV Shows That Intervention Is the Norm in Public Conflicts. American Psychologist.

Roth, Gerhard (2002). Warum sind Lehren und Lernen so schwierig?
WWW: http://www.uni-koblenz.de/~odsssfg/seminar/wahlmodule2003/unterlagen/b07/b07.4.pdf (03-07-11)

White, Burton & Held, Richard (1966). Plasticity of sensorymotor development in the human infant (S. 60-70). In J.F. Rosenblith & W. Allinsmith (Eds.), The causes of behavior. Bosten, MA: Allyn and Bacon.

Wood, D. J., Bruner, J. S. & Ross, G. (1976). The role of tutoring in problem-solving. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 17, S. 89-100.

Zuckerman, M. (1979). Sensation seeking: Beyond the optimal level of arousal. Hillsdale: Erlbaum.
http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/LERNTECHNIKORD/Motivation.html (99-11-17)

http://oe1.orf.at/highlights/144718.html (09-10-07)

http://www.fireworld.at/Themen/Schaulustige/Umgang.htm (02-01-13)



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