Ich habe herausgefunden, dass es einigen Nutzen bringt,
nachts im Bett zu liegen und in die Dunkelheit zu blicken und
dabei im Geist das zu wiederholen, womit man sich beschäftigt hat.
Dann versteht man die Dinge nicht nur besser,
sondern erinnert sich auch leichter daran
Leonardo da Vinci
Die Vergessenskurve
Schon mehr als hundert Jahre alt ist eine der merkwürdigsten Erkenntnisse der Lernforschung, die trotz ihres ehrwürdigen Alters erstaunlich wenig beachtet wird: Die Vergessenskurve. Haben wir uns endlich etwas mühsam eingeprägt und so lange wiederholt bis wir es wirklich können, dann ist dieser Inhalt leider noch nicht endgültig gespeichert. Ganz im Gegenteil: Überlassen wir ihn nun seinem Schicksal und prüfen ihn nach ca. einer halben Stunde, wird im Durchschnitt etwa die Hälfte wieder verschwunden sein: Jeder neue, frisch eingeprägte Inhalt versickert mit der beachtlichen Halbwertszeit von etwa 30 Minuten. Diese schon von Hermann Ebbinghaus beschriebene Vergessenskurve wird dann glücklicherweise bald etwas flacher, doch bleibt im Durchschnitt tatsächlich nicht mehr als etwa ein Fünftel im Gedächtnis. Da wir leider nicht wissen, welches Fünftel des gesamten Stoffes es ist, bleibt nur ein Ausweg, diesen beachtlichen Gedächtnisverlust durch geeignete Strategien wettzumachen und sich endgültig damit abzufinden, dass ein erstmals und neu gelernter Inhalt - so gut wir ihn auch zunächst beherrschen - nach einiger Zeit unweigerlich zum größten Teil verschollen sein wird.
Dieses "Verdunstungsbestreben" frisch gelernter Inhalte war wohl schon vor der wissenschaftlichen Beschreibung aus Beobachtungen alltäglicher Lernsituationen bekannt. Und so hat man eine Reihe von Strategien entwickelt, die ein Versickern neu gelernter Inhalte verhindern sollten.
Amerikanische Wissenschaftler versuchten, den optimalen Zeitabstand zwischen der ersten Lernphase, der Wiederholung des Stoffes und dem Prüfungstermin zu finden. Sie brachten ihren Versuchspersonen 32 skurrile Fakten bei (Frage: Wer erfand das Snowgolfen? Antwort: Rudyard Kipling). Anschließend wiederholten die Probanden das Material zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen drei Minuten (massiertes Lernen) und drei Monaten (verteiltes Lernen). Abgeprüft wurde das Gelernte dann an einem weiteren Termin. Fand diese Prüfung eine Woche nach dem ersten Einpauken statt, betrug der optimale Abstand für die Wiederholung einen Tag. Fand sie einen Monat danach statt, war der ideale Zeitpunkt für die Wiederholung eine Woche nach dem ersten Lernen des Stoffes. Die „verteilten Lerner“ schlugen die „massierten Lerner“ so um bis zu 110 Prozent (Römer, 2009).
Bahrick (1984) erweiterte die Befunde von Ebbinghaus, indem er die
Vergessenskurve für spanische Vokabeln prüfte, die in der Schule gelernt
worden waren. Bei einem Vergleich zwischen den Schülern, die gerade
einen High-School- oder Collegekurs für Spanisch abgeschlossen hatten,
mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern, die die Schule bereits 3 Jahre
zuvor verlassen hatten, hatten letztere vieles von dem vergessen, was
sie einmal gelernt hatten. Doch nach ungefähr 3 Jahren pendelte sich ein
bestimmtes Vergessensniveau ein: Was die Befragten zu diesem Zeitpunkt
noch behalten hatten, daran konnten sie sich auch noch 25 oder mehr
Jahre später erinnern, selbst wenn sie ihre Spanischkenntnisse nie
angewendet hatten.
Überlernen, Overlearning
Hier genügt ein Blick in die Literatur des 19. Jahrhunderts, um zu sehen, dass diese für Laien naheliegende Strategie nicht anzuraten ist. Zwar konnte Ebbinghaus zeigen, dass bei überlerntem Material für ein Behaltensintervall von 24 Stunden ein Ersparniswert (64,1 Prozent gegenüber 33,8 Prozent) zu erreichen ist, also zusätzlichen Lerndurchgänge somit bei einem nachfolgenden Behaltenstest zu einer erhöhten Ersparnis führten, allerdings gilt dies nur für sinnloses Silben-Material. Bei späteren Versuchen zum Behalten unterschieden sich eine Versuchsgruppe, die einen Stoff nur so lange lernen musste, bis sie ihn gerade beherrschte, von einer Vergleichsgruppe, die im Anschluss an das Erlernen noch eine große Zahl von zusätzlichen Wiederholungen vornahm, am nächsten Tag kaum voneinander. Mit massierten Wiederholungen im Anschluss an eine Lernphase können wir die Vergessenskurve nicht überlisten. Im Gegenteil: Viel besser ist es, nur so lange zu lernen, bis man einen neuen Inhalt gerade eben beherrscht. Dann überlässt man ihn am besten eine Zeit lang seinem Schicksal.
Wie lässt sich aber der beachtliche Vergessensverlust eines neu gelernten Inhaltes verhindern? Hier hilft nur eine Strategie, die zwar lange bekannt ist aber selten befolgt wird:
Repetitio est mater studiorum! |
Ohne Ungeduld überlassen wir den neu gelernten Inhalt zunächst seinem Schicksal und nehmen bewusst in Kauf, dass ein Teil davon verloren geht. Nach einer geeigneten Zeit führen wir aber eine erste Wiederholung durch und holen den gesamten Stoff wieder auf das Niveau der 100%-igen Beherrschung - um ihn sogleich wieder beiseite zu legen. Denn nun kommt uns eine angenehme Gesetzmäßigkeit entgegen. Zwar werden abermals einige Teilinhalte des eben Wiederholten verlorengehen. Doch der Abfall der Vergessenskurve ist nun nicht mehr so steil wie nach dem ersten Lernen. Die Halbwertszeit ist wesentlich länger geworden und wir können einen viel längeren Zeitraum verstreichen lassen, ehe wir wieder mit einer weiteren Wiederholung die verloren gegangenen Inhalte einfangen. Und so können wir in immer längeren Zeitabschnitten ganz kurze Wiederholungsphasen einblenden und den auf jede andere Weise unvermeidbaren Gedächtnisschwund verhindern.
Siehe dazu Benjamins & Werners Praktischen Lerntipp: Mein Gedächtnis ist ein Sieb!
Hermann Ebbinghaus
(1850 - 1909) gilt als Pionier der experimentellen psychologischen
Gedächtnisforschung. Für das Gedächtnis gilt nach Ebbinghaus folgendes
Gesetz: Die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhalten sich
etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichenen Zeit.
1885 veröffentlichte er die Ergebnisse seiner experimentellen
Gedächtnisforschungen. Die Darin dargestellten Untersuchungen waren
wahrscheinlich die ersten systematischen Experimente zum menschlichen
Gedächtnis. Ebbinghaus arbeitete allerdings nicht mit Stichproben,
sondern er selbst war sein einziger Proband. Er brachte sich Serien
sinnloser Silben bei, und zwar Konsonant-Vokal-Konsonant-Trigramme wie
DAX, BUP und LOC. In einem seiner zahlreichen Experimente lernte
Ebbinghaus Listen von 13 Silben auswendig, bis er sie zweimal
hintereinander fehlerlos wiedergeben konnte. Nach unterschiedlichen
Zeitspannen überprüfte er dann, wie gut er diese Listen behalten hatte.
Er maß die Zeit, die er brauchte, um die Listen erneut so gut zu
beherrschen, dass er sie wieder zweimal fehlerlos aufsagen konnte.
Ebbinghaus wollte wissen, um wieviel schneller der zweite Lerndurchgang
im Vergleich zum ersten war. Beispielsweise benötigte er einmal für das
erste Lernen einer Liste 1156 Sekunden, aber für das erneute Lernen
lediglich 467 Sekunden: er hatte also beim erneuten Lernen 1156 - 467 =
689 Sekunden eingespart. Diese Ersparnis läßt sich als Prozentsatz
gegenüber der ursprünglichen Lernzeit ausdrücken: 689/1156 = 59,6
Prozent. Solche prozentuale Ersparniswerte benutzte Ebbinghaus als
Standardmaß für seine Behaltensleistung.
Nach Jürgen Sandkühler ist daher die Wiederholung nur die „Schwiegermutter allen Lernens“, denn damit etwas dauerhaft in den Köpfen verankert bleibt, brauchen Dinge eine Bedeutung. Nichtssagende Fakten vergessen Menschen ganz schnell, denn einen Namen, den man als nicht wichtig erachtet, löscht man sofort aus dem Gedächtnis. Ähnliches gilt für Gesichter. Durch die Wiederholung gaukelt man dem Gehirn nur vor, dass Begriffe und Wörter wichtig sind, denn durch die Wiederholung gewinnen sie nur scheinbar an Bedeutung.
Siehe dazu "Falsche Lernstrategie: Wiederholtes Lesen".
Mit dieser Lerntrommel ließ Ebbinghaus nicht-zusammenhängende Wortpaare erlernen, wobei nach jedem Durchgang geprüft wurde, wieviele der Paare bereits behalten wurden.
Suggestopädie bzw. Superlearning - zwei seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts propagierten Lernmethoden - vergleichen die damit angeblich erzielbaren Erfolge gerne mit dieser Vergessenskurve:
14 Minuten oder 160 Wiederholungen zum Erlernen einer neuen Vokabel
Nach einer von Yury Shtyrov et al. (2010) muss man, um sich ein neues Vokabel einzuprägen, es nur 14 Minuten lang laut wiederholt hören, denn in diesem Zeitraum bildet sich im menschlichen Gehirn ein stabiles Netzwerk an Nervenzellen, das das neue Wort repräsentiert und von bestehenden Netzen nicht zu unterscheiden ist. Für diese Studie wurde die Gehirnaktivität von 16 Probanden gemessen, und zwar beim Hören bekannter Wörter und beim Erlernen zufällig ausgewählter, neuer Wörter, wobei nach einer Viertelstunde bzw. 160 Wortwiederholungen die Aktivitätsmuster nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren.
Neuere Untersuchungen (Brodt et al., 2016) konnten darüber hinaus nachweisen, dass sich langfristige, neocortikale Gedächtnisspuren bereits beim ersten Eintreffen neuer Informationen ausbilden, sodass der Hippocampus schon nach relativ kurzer Zeit nicht mehr am Lernen beteiligt ist. In dieser Studie versetzte man Probanden am Bildschirm in ein virtuelles Labyrinth, in dem diese versteckte Gegenstände finden mussten. Je länger sich die Versuchspersonen durch das Labyrinth bewegten, desto besser lernten sie seinen Aufbau und die Positionen der Gegenstände kennen. Während die Studienteilnehmer diese räumliche Lernaufgabe durchführten, wurde ihre Hirnaktivität mittels Magnetresonanztomografie aufgezeichnet. Um die Hirnareale für das räumliche Gedächtnis zu identifizieren, bedienten man sich eines Tricks: In einem Teil des Experiments war das Labyrinth unveränderlich, dadurch konnten die Teilnehmer nach und nach eine räumliche Repräsentation im Gedächtnis aufbauen. In einem zweiten Teil veränderte sich das Labyrinth ständig, sodass die Probanden nichts wiedererkennen oder lernen konnten. Der Vergleich der Tomografiebilder aus diesen beiden Labyrinthen offenbarte, welche Hirnregionen zur Bildung des räumlichen Gedächtnisses beitragen. Dabei stieg die Aktivität des Precuneus, einer Region im hinteren Neocortex, mit dem Lernen kontinuierlich an, während die Aktivität im Hippocampus kontinuierlich abfiel, und auch die Kommunikation zwischen diesen beiden Regionen nahm im Laufe des Lernens immer weiter ab. Das bedeutet, dass sich die langfristigen, neocortikalen Gedächtnisspuren bereits beim ersten Eintreffen neuer Informationen ausbilden Die Zahl der Lernwiederholungen hatte daher offenbar einen entscheidenden Einfluss darauf, wie schnell sich ein langfristiges und stabiles Gedächtnis im Neocortex ausbildet.
Literatur
Römer, Anke (2009). Ebbinghaus’ Erben: Vor über 100 Jahren entdeckte
Hermann Ebbinghaus grundlegende Prinzipien des Lernens. Psychologie
heute, 36, Heft 7.
Shtyrov, Yury, Nikulin, Vadim V. & Pulvermüller, Friedemann (2010). Rapid Cortical Plasticity Underlying Novel Word Learning. Journal of Neurosciences, 30,16864 - 16867.
Svenja Brodt, Dorothee Pöhlchen, Virginia L. Flanagin, Stefan Glasauer, Steffen Gais, & Monika Schönauer (2016). Rapid and independent memory formation in the parietal cortex. Proceedings of the National Academy of Sciences, dos 10.1073/pnas.1605719113.
Der Verlauf der Vergessenskurve ist abhängig vom Inhalt des Gelernten:
Siehe dazu auch die Ausführungen zum