[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Wer immer die Wahrheit sagt,

kann es sich leisten,

ein schlechtes Gedächtnis zu haben.

Das Vergessen - Einige Forschungsergebnisse zum Erinnern und zum "False-Memory-Syndrome"

In einer repräsentativen Untersuchung in den USA stimmten fast zwei Drittel der Aussage zu, dass das Gedächtnis wie eine Videokamera funktioniert, die alle Geschehnisse eins zu eins aufzeichnet. Etwa die Hälfte der Befragten glaubte immerhin, dass einmal gespeicherte Erinnerungen mit der Zeit unverändert bleiben, und fast vierzig Prozent hielten den Bericht eines einzigen glaubwürdigen Augenzeugen für einen ausreichenden Beleg für die Schuld eines Angeklagten. Unser Gehirn ist aber vom Aufbau her nicht auf detailliertes Erinnern angelegt und einmal dort abgelegte Informationen bleiben im Gehirn nicht unverändert. Je häufiger sich Menschen an etwas Vergangenes erinnern, desto mehr verändern sie unbewusst auch die Erinnerung. Bei jedem Erinnern wird die vorhandene Information über das Vergangene nämlich überschrieben und meist auch ergänzt, wobei sich unweigerlich Fehler einschleichen. Meist schmücken Menschen in der Erinnerung ein Erlebnis besonders aus und fügen unbewusst ein Detail hinzu, das sich so gar nicht ereignet hat, das aber in dieses Geschehen und somit in die Erinnerung "hineinpasst". Allmählich sind diese Menschen dann der festen Überzeugung, es tatsächlich so und nicht anders erlebt zu haben. Falsche Erinnerungen sind somit für den, der sie hat, nicht unbedingt "falsch". Viele psychologische Phänomene wie Aufmerksamkeit, Stress, Emotionen und vor allem bereits ähnlich Erlebtes sind dafür verantwortlich, warum sich Erinnerungen so unterschiedlich in unser Gehirn einprägen.

Erinnerungsspuren entstehen bekanntlich dadurch, dass sich Aktivitätsmuster vieler Neuronen in Raum und Zeit verändern, wobei der Output der Neuronen nicht eine einzelne Information ist, sondern eine ganze Kette von Impulsen. Erinnerungsspuren entstehen dabei auch durch eine Art Verdrängungswettbewerb zwischen den Neuronen, denn wenn ein Neuron aktiv ist, dann unterdrückt dieses die Aktivität der Neuronen in unmittelbarer Umgebung, sodass nur die am besten passende Spur, also das am besten zum Erleben passende Aktivierungsmuster der Neuronen in den Synapsen abgelegt wird. Neuere Studien haben auch gezeigt, dass Erinnerungen im Langzeitgedächtnis, die unter hoher Erregung, wie etwa in stressreichen oder angstbesetzten Situationen, entstanden sind, häufig wenig in den unmittelbaren Kontext eingebettet werden und Ereignisse weniger detailreich abbilden. Dieser Umstand macht aber auch Fehlerinnerungen wahrscheinlicher und es ist für Menschen schwer zu unterscheiden, ob eine neue Situation ähnlich einer erinnerten Situation und deshalb vielleicht gefährlich ist. Kontextinformationen sind unter anderem deshalb notwendig, um sich selbst und Ereignisse in Raum und Zeit zu verorten, daher ist es für Menschen in emotionaler Erregung mit Problemen verbunden, Kontextinformationen zu erfassen, was auch Auswirkungen auf unmittelbare Entscheidungen hat, aber auch auf das Verhalten in der erregenden Situation und die Erinnerung daran. Offenbar haben solche emotionalen Situationen Auswirkungen auch auf die Abläufe im Gehirn, die diesen Gedächtnisleistungen zugrunde liegen. Bekanntlich ist der Hippocampus als ein für die Gedächtnisbildung wichtiges Gehirnareal auch stark am Erlernen und Rekonstruieren von räumlichen und zeitlichen Details beteiligt, sodass eine Hemmung dieser Funktionen im Gehirn angesichts einer potenziell gefährlichen Situation das Gehirn davon abhält, den Kontext einer Situation voll zu erschließen und sich diesen einzuprägen.

Historisches: Kurz vor Ende einer Vorlesung am 4. Dezember 1901 im kriminalistischen Seminar der Berliner Universität wollte ein Student über christliche Moralphilosophie diskutieren, ein Kommilitone pöbelte ihn an. Aus dem Wortgefecht wurde eine Rauferei und plötzlich hielt jemand eine Pistole in der Hand. Der Professor wollte den Arm des Schützen herunterdrücken, doch als der Revolver auf Brusthöhe des Kontrahenten ist, löste sich der Schuss. Dieser "Mord" war vom Strafrechtsprofessor Franz von Liszt auf Anregung von William Stern mit einer Spielzeugwaffe inszeniert worden, um die Glaubwürdigkeit von Erinnerungen zu beurteilen. Nach diesem Experiment wurden die schockierten Studenten als Zeugen vernommen. Schon am Abend machte ein Drittel der Zeugen grob fehlerhafte Angaben, und eine Gruppe, die erst fünf Wochen später befragt wurde, brachte es auf eine Irrtumsrate von 80 Prozent, wobei es nicht nur Erinnerungslücken gab, sondern auch detaillierte Erinnerungen an Vorgänge, die gar nicht stattgefunden hatten, etwa an Worte, die nie gefallen waren, an einen Fluchtversuch des Opfers, den es nicht gab und vieles mehr. Stern und von Liszt forderten danach eine wissenschaftlichen „Aussagepsychologie“, d.h., Gerichte sollten sich in Zukunft von Sachverständigen beraten lassen, wenn es um die Glaubwürdigkeit von Zeugen geht.

Siehe zu diesem Thema auch die Arbeitsblätter zum Vergessen.

Wie kommen Erinnerungen zustande?

Fredes et al. (2020) haben die Bildung von Erinnerungen untersucht, indem sie den Signalweg im Hippocampus im Gehirn kontrollierten und zeigten, wie dieser die Bildung von Erinnerungen beim Erleben neuer Umgebungen steuert. Der Hippocampus ist bekanntlich jener zentraler Bereich im Gehirn, der eine zentrale Rolle bei der Übertragung von Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis spielt. Dabei konzentrierte man sich in dieser Untersuchung auf die Verbindung zwischen den Moos-Zellen, die Signale von Sinneseindrücken über die Umwelt empfangen, und den Granule-Zellen, an die diese Informationen weitergeleitet werden. Man verwendete für diese Studie vier verschiedene Ansätze. Als erstes untersuchte man die komplexen Strukturen, mit denen Moos-Zellen und die Granule-Zellen verbunden sind, unter dem Mikroskop. Dann maß man mithilfe gentechnisch veränderter Neurone von Live-Aufnahmen die Neuronenaktivität im Hippocampus von Mäusen, die man in eine neue Umgebung gesetzt hatte. Dabei beobachtete man, dass die Aktivität der Moos-Zellen, die die Signale an die Granule-Zellen sendeten, zunächst hoch war und dann immer niedriger wurde. Als die Mäuse nach einigen Tagen in eine andere neue Umgebung gebracht wurden, stieg die Aktivität wieder an, was zeigt, dass diese Neuronen spezifisch für die Verarbeitung neuer Umwelteinflüsse relevant sind. In einem dritten Ansatz folgte man den Signal-Spuren in Nervenzellen, wobei die Aktivität in den untersuchten Neuronen die Expression eines bestimmten Gens auslöst, was bedeutet, dass dort ein bestimmtes Protein produziert wird. Je mehr Aktivität vorhanden war, desto mehr von diesem Protein fand man danach. In den Granule-Zellen entdeckte man  dabei große Mengen des Proteins, die mit der Aktivität der Moos-Zellen korrelierten. Schließlich führte man Verhaltensstudien durch, um die Auswirkungen dieses Pfades im Hippocampus auf die Gedächtnisbildung zu untersuchen. Man kombinierte einen kleinen elektrischen Schock als negativen Reiz mit einer für das Tier neuen Umgebung, wobei die Mäuse schnell lernten, die neue Umgebung mit unangenehmen Gefühlen zu assoziieren, und sie reagierten darauf, indem sie wie festgefroren stillstanden. Diese negative Reaktion war später auch dann messbar, wenn gar kein Schock vorhanden war. Nach dieser Konditionierung verabreichte man den Mäusen Medikamente, um die Aktivität der Moos-Zellen zu hemmen. Als man dann die negative Konditionierung mit den elektrischen Reizen in der neuen Umgebung durchführte, erinnerten sich die Mäuse danach nicht an den Zusammenhang zwischen der neuen Umgebung und dem unangenehmen Gefühl. Falls man die Tiere sich zuerst an die neue Umgebung gewöhnen ließ und erst dann konditionierten, kam es auch zu keinerAktivierung der Moos-Zellen und somit auch zu keinen Zusammenhang zwischen der neuen Umgebung und den Schocks im Gedächtnis der Tiere. Als die Moos-Zellen hingegen künstlich mit Medikamenten aktiviert wurden, konnten sich diese Assoziation auch dann noch bilden, wenn die Tiere bereits an die neue Umgebung gewöhnt waren. Dies zeigt deutlich, wie die Moos-Zellen im Hippocampus auf neuen Input reagieren und bei Mäusen die Bildung neuer Langzeiterinnerungen auslösen. Ob diese Ergebnisse auf das menschliche Gehirn übertragbar sind, ist noch eine offene Frage. Diese Grundlagenforschung könnte aber dazu beitragen könnte, degenerative Hirnerkrankungen zu bekämpfen, die die Gedächtnisbildung beeinträchtigen.

Literatur

Felipe Fredes, Maria Alejandra Silva, Peter Koppensteiner, Kenta Kobayashi, Maximilian Joesch, Ryuichi Shigemoto (2020). Broadband Mie-driven random quasi-phase-matching. Current Biology, doi:10.1016/j.cub.2020.09.074.

Unvermeidlicher Selbstbetrug

Je öfter ein Angler von seinem Fang erzählt, umso größer wird der Fisch. Nicht nur beim sprichwörtlichen Anglerlatein und Seemannsgarn verändern sich die Erinnerungen an frühere Ereignisse, fast jede Begebenheit wird in unserem Gedächtnis nachträglich verfälscht. Manchmal glauben wir uns sogar an Vorgänge zu erinnern, die niemals stattgefunden haben. Erstaunlicherweise können wir dieser Selbsttäuschung nicht einmal dann widerstehen, wenn wir bewußt darauf achten, nicht hereinzufallen.
Quelle:
Spektrum der Wissenschaft-Ticker (16. November 1998)

"Selbst wenn Sie die Menschen restlos über die Möglichkeit illusorischer Erinnerungen aufklären, versetzt sie das nicht in die Lage, ihre Denkprozesse zu kontrollieren und den Fehler zu vermeiden", sagt Kathleen McDermott von der Washington University in St. Louis. "Die wichtigste Frage ist jetzt, wie und wann diese falschen Erinnerungen entstehen und vermieden werden können."

In der Oktober-Ausgabe 1998 der Zeitschrift Memory und Language beschrieben McDermott und ihre Mitarbeiter ein Experiment, aus dem hervorgeht, dass unser Gedächtnis nicht wie ein Videorecorder arbeitet. Stattdessen ist der Vorgang des Erinnerns ein konstruktiver Prozeß, bei dem einerseits Erinnerungsbruchstücke verarbeitet werden müssen und andererseits eine vollständige Handlung entstehen soll.

Sie konfrontierten Studenten, die sich als Versuchspersonen gemeldet hatten, mit Listen von Wörtern, die einen gemeinsamen inhaltlichen Kontext haben. So passen zu dem Thema "Schlaf" etwa Begriffe wie "Bett", "Traum", "Decke", Kopfkissen" und andere. Insgesamt gab es 20 Aufzählungen mit jeweils 15 Wörtern. Bei der Hälfte der Listen stand der Hauptbegriff (in dem Beispiel wäre dies "Schlaf") nicht dabei. Die Studenten wurden gebeten, eine Tonbandaufnahme anzuhören, auf welcher die Wortlisten vorgelesen wurden. Anschließend sollten sie sagen, ob das besondere Wort dabei war oder nicht.
In der Versuchseinleitung wurde den Probanden ganz genau erklärt, worum es in dem Test ging. Die Forscher erläuterten ihnen das Konzept der falschen Erinnerungen und verdeutlichten es anhand von Beispielen. Sie wurden angewiesen, sorgfältig darauf zu achten, bei den Versuchsreihen aufmerksam zu sein und falsche Erinnerungen zu vermeiden. Um die Aufgabe zu vereinfachen, fragten die Wissenschaftler direkt im Anschluß an das Verlesen einer Liste, ob der kritische Begriff aufgetreten sei. "Den Ergebnissen zufolge sind Menschen nicht sonderlich gut darin, diese einfache Aufgabe zu bewältigen, selbst wenn sie über das Phänomen der fehlerhaften Erinnerung informiert wurden", sagte McDermott.
Die Forscher haben zwei mögliche Erklärungen für den Effekt: Die Illusionen könnten auftreten, weil das nicht vorhandene, aber in den Kontext passende Wort aufgrund der Assoziation in das Bewußtsein springt, sobald die Liste den Probanden vorgelegt wird. Alternativ dazu wäre es denkbar, dass die Verarbeitung der Information unterhalb der bewußten Ebene stattfindet, wo dann die Verbindung zu eng verwandten Wörtern etabliert wird.
McDermott nimmt an, dass es uns Menschen schwerfällt, zwischen dem zu unterscheiden, was wir extern gehört, und dem, was wir intern selbst dazugedichtet haben. Selbst beim ernsthaften Versuch, beide Quellen der Erinnerung zu trennen, treten Fehler auf. Wie in diesen und anderen Versuchen gezeigt wurde, sind bei geschicktem Druck von außen auch die falschen Erinnerungen detailgenau. So glaubten einige Studenten, die Position eines Wortes in der Aufzählung angeben zu können, obwohl das Wort überhaupt nicht vorkam.
"Anscheinend handelt es sich um einen sehr natürlichen Vorgang", meint McDermott. "Ich glaube, wir sollten nicht so überrascht sein, denn das ist die Art, wie wir normalerweise die Welt wahrnehmen. Ein Film besteht zum Beispiel aus einer Reihe von Einzelbildern, aber wir nehmen sie als ein bewegtes Bild wahr. Der Geist verfährt mit dem Gedächtnis genauso: Er benutzt Schlußfolgerungen, um eine manchmal unvollständige Abbildung der Vergangenheit zusammenzusetzen."

Ist die Anfälligkeit für falsche Erinnerungen in einer Zweitsprache geringer?

Grant et al. (2023) haben jüngst untersucht, wie sich die Verwendung einer Mutter- oder Fremdsprache auf die Anfälligkeit von zweisprachigen Personen für falsche Erinnerungen auswirkt. Obwohl die Sprache in vielerlei Hinsicht einen Einfluss auf falsche Erinnerungen hat, wurde diese Studie durch neuere Arbeiten zur Entscheidungsfindung inspiriert, dass nämlich die Benutzung einer Fremdsprache Menschen zu einer sorgfältigen Gedächtniskontrolle anregt, die falsche Erinnerungen reduzieren könnte. Diese Hypothese steht im Gegensatz zu der Annahme, dass eine Fremdsprache die Zahl der falschen Erinnerungen erhöht, weil es naturgemäß schwieriger ist, Informationen in einer Fremdsprache zu verarbeiten. Grant et al. (2023) überprüften daher diese Hypothesen anhand von zwei Aufgaben zu falschen Erinnerungen. Man nutzte dafür das Deese-Roediger-McDermott-Paradigma, ein Verfahren der kognitiven Psychologie, das zur Untersuchung des falschen Gedächtnisses beim Menschen eingesetzt wird, wobei sich zeigte, dass die Probanden (Studierende in den USA, deren Muttersprache eigentlich Mandarin war) falsche Erinnerungen genauer identifizieren konnten, wenn sie ihre Fremdsprache im Vergleich zu ihrer Muttersprache verwendeten, was mit der Hypothese der Gedächtnisüberwachung übereinstimmt. Mit Hilfe der Fehlinformationsaufgabe in Bezug auf ein Video wurde in einem zweiten Experiment festgestellt, dass die Verarbeitung irreführender Informationen in der Fremdsprache falsche Erinnerungen eliminierte, was wiederum die Hypothese stützt, dass eine Fremdsprache den Einsatz der Gedächtnisüberwachung erhöht. Um sprachliche Fehler zu vermeiden, verlassen sie sich weniger stark auf die schnelle, intuitive Informationsverarbeitung, sondern setzen unbewusst eher auf langsame, rationale Denkprozesse. Diese Ergebnisse unterstützen die Überwachungshypothese, die in früheren Studien über Zweisprachigkeit und falsches Gedächtnis übersehen wurde. Allerdings muss noch überprüft werden, ob Menschen, die eine Fremdsprache perfekt beherrschen, ihre Erinnerungen ebenfalls nach dieser Hypothese rekonstruieren.
Literatur: Grant, L. H., Pan, Y., Huang, Y., Gallo, D. A. & Keysar, B. (2023). Foreign language reduces false memories by increasing memory monitoring. Journal of Experimental Psychology: General, 152, 1967–1977.

Jeder Vierte erfindet falsche "Erinnerungen"

Literatur

http://www.apa.at/scripts/depot/
swe/19970217DBI052.txt (97-03-24)

Wimber, Maria, Alink, Arjen, Charest, Ian, Kriegeskorte, Nikolaus & Anderson, Michael C. (2015). Retrieval induces adaptive forgetting of competing memories via cortical pattern suppression. Nature Neuroscience, http://www.nature.com/neuro/
journal/vaop/ncurrent/abs/
nn.3973.html#supplementary-information.

Jeder vierte Erwachsene hat bei einer amerikanischen Studie falsche "Erinnerungen" aus seiner Kindheit erfunden. Je schlechter das Gedächtnis ist, desto größer sei auch das Risiko, sich vergangene "Erlebnisse" einzubilden. Das berichteten Forscher auf der Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft (AAAS) in Seattle (US-Bundesstaat Washington).

Ein amerikanisch-australisches Team unter Leitung von Elizabeth Loftus an der Universität Washington in Seattle hatte Menschen mit der Vorstellung konfrontiert, sie hätten als Kind mit der Hand eine Fensterscheibe eingedrückt. 24 Prozent der Studienteilnehmer gaben nach den Gesprächen an, dies sei ihnen tatsächlich passiert, wie Loftus Freitag nachmittag (Ortszeit) berichtete.Beim Abspeichern von simplen Informationen spielt das Gedächtnis sogar jedem zweiten einen Streich. Loftus Kollege Henry L. Roediger fand in Studien mit Studenten heraus, dass "Illusionen des Gedächtnisses durchaus normal sind". Jeder zweite hatte behauptet, das Wort "Schlaf" gehört zu haben, nachdem eine Liste mit den Wörtern Bett, Traum, Decke, Dösen und Polster verlesen worden war. >Loftus wurde nach eigenen Angaben aufgrund von Expertenberichten auf das Thema aufmerksam, nach denen sich Erwachsene fälschlicherweise an sexuellen Mißbrauch in der Kindheit erinnerten. Für sie sei es nun auch nachvollziehbar, dass sich Erwachsene fälschlich in traumatische "Erinnerungen" aus der Kindheit zurückversetzen können.

Künftig wollen die Forscher testen, ob sich die Einbildungskraft auch positiv nutzen läßt, etwa zur Behandlung von magersüchtigen Mädchen, die ihre frühere Figur anerkennen. Zudem dürften sich bekannte, aber wenig befolgte Empfehlungen von Ernährungsexperten in das Gedächtnis "pflanzen" lassen.

Man hat in einem Versuch (Wimber et al., 2015) auch gezeigt, dass wenn sich Menschen an etwas Konkretes erinnern, ähnliche, in dem Zusammenhang störende Erinnerungen allmählich vergessen werden, indem das Gehirn aktiv die konkurrierenden Erinnerungen unterdrückt, sodass der Prozess des Erinnerns mit bestimmt, welche Aspekte der Vergangenheit zugänglich bleiben und welche nicht. Frühere Studien haben schon gezeigt, dass das wiederholte Erinnern einerseits die Gedächtnisinhalte stabilisier, aber es hat Hinweise darauf gegeben, dass Erinnern immer auch auch Vergessen auslöst. Vermutlich handelt es sich um einen hemmenden Kontrollmechanismus, der dafür verantwortlich ist, indem er Erinnerungen unterdrückt, die dazwischenfunken, wenn man sich an etwas Bestimmtes erinnern möchte, wobei nach und nach diese Unterdrückung dann zur Auslöschung der Erinnerung führt. Probanden lernten in einem Experiment zunächst, bestimmte Schlüsselwörter mit zwei verschiedenen Bildern zu verknüpfen, etwa das Wort "Sand" mit einem Bild von Marylin Monroe und mit einem Bild von einem Hut. Im eigentlichen Experiment sollten sich die Probanden dann auf das Schlüsselwort hin an das erste dazugehörige Bild erinnern, das sie gelernt hatten. Die Wissenschaftler gingen davon aus, dass das zweite Bild als Störfaktor wirken würde. Die Probanden erinnerten sich in 74 Prozent der Versuche an das richtige erste Bild. Wenn sie einen Fehler machten, erinnerten sie sich häufiger an das zweite Bild als an ein Kontrollbild, was aber im Verlauf der Versuche immer seltener geschah. Das deutet darauf hin, dass es einen hemmenden Mechanismus gibt, der nach und nach die störenden Erinnerungen unterdrückt. In weiteren Versuchen konnte man auch zeigen, dass die zu dem zweiten Bild gehörende Hirnaktivität im Laufe der Wiederholungen abnahm, wobei je stärker die Abnahme war, desto eher vergaßen die Probanden das zweite Bild vollständig. Dabei gab es einen Zusammenhang zwischen der Aktivität im präfrontalen Kortex des Gehirns und dem Auslöschen der Erinnerung, denn je stärker die Aktivität war, desto stärker war die Abnahme des Störfeuers und desto stärker das Vergessen. Diese Ergebnisse bestätigen erneut, dass Vergessen nicht etwas Passives ist, sondern dass die Menschen selber daran mitwirken, woran sie sich aus ihrem Leben erinnern. Übrigens: Journalisten wählen dann für dieses Forschungsergebnis einen kurzschlüssigen Titel wie "Für neue Erinnerungen müssen alte vergessen werden" oder "Für neue Erinnerungen müssen alte weichen", was natürlich in diesem Zusammenhang einfach falsch ist!

Erinnern ist immer auch Ergänzen

Da das menschliche Gedächtnis erfahrungsgemäß nicht in der Lage ist, sich an alle Details einer vergangenen Erfahrung zu erinnern, füllt es solche Lücken mit wahrscheinlichen Informationen auf. Um nun zu überprüfen, wie das Gehirn solche Gedächtnisinhalte beim Erinnern ergänzt, haben Staresina et al. (2019) Versuchspersonen in acht Versuchsdurchgängen jeweils zehn Landschaftsbilder gezeigt, wobei in jeder Aufnahme ein Detailfoto mit einem von zwei Objekten eingefügt war, etwa eine Himbeere oder ein Skorpion. Die Probanden - Epilepsiepatienten, denen Elektroden ins Gehirn eingepflanzt worden waren - durften jedes der zusammengesetzten Fotos drei Sekunden lang betrachten. Nach einer Pause erhielten sie in einem zweiten Durchgang nur die Landschaften zu sehen und sollten dann angeben, ob dort ursprünglich zusätzlich die Himbeere oder der Skorpion aufgetaucht waren. In der Erinnerungsphase feuerten zunächst die Nervenzellen im Hippocampus, was auch bei einer Kontrollaufgabe der Fall war, bei der die Probanden sich nur einfache Landschaftsaufnahmen einprägen mussten. Bei der Aufgabe, in der die Bilder eine zusätzliche Information enthalten hatten, dauerte die Aktivität des Hippocampus jedoch deutlich länger, wobei während dieser Verlängerung zusätzlich Neuronen im entorhinalen Cortex zu feuern begannen. Dieses Aktivitätsmuster im Cortex ähnelte stark der Erregung, die man dort in der Lernphase gemessen hatte, also bei der Betrachtung des zusammengesetzten Bildes. Diese Ähnlichkeit ging so weit, dass eine Analysesoftware aus der Aktivität des entorhinalen Cortex ablesen konnte, ob sich der jeweilige Teilnehmer gerade an einen Skorpion oder eine Himbeere erinnerte. Dabei handelt es sich um eine Re-Instanziierung, d. h., die Erinnerung versetzt die Nervenzellen in einen ähnlichen Zustand, wie sie ihn beim Betrachten des Fotos hatten. Vermutlich ist der Hippocampus für diese Re-Instanziierung verantwortlich, wobei die hippocampalen Nervenzellen, die in der Verlängerung aktiv werden, mit ihrem Erregungsmuster dem Gedächtnis möglicherweise mitteilen, wo genau der fehlende Teil der Erinnerung abgelegt ist.

Bekanntlich sind Erinnerung eine Art Rekonstruktion dessen, was unser Gedächtnis für die Wahrheit hält, d. h., Erinnerungen sind beeinflusst vom Kontext, von gesellschaftlichen Erwartungen oder individuellen Wünschen. Dieses komplexe System führt auch dazu, dass Menschen sich vermeintlich an Dinge erinnern können, die nie passiert sind, wobei solche falschen Erinnerungendas Gehirn dann trotzdem für die Wahrheit hält. Kloft et al. (2020) haben nun gezeigt, der Konsum von Cannabis ein Erinnern zusätzlich erschwert. Frühere Studien haben schon gezeigt, dass der regelmäßiger Konsum schlecht für das Langzeitgedächtnis ist. In drei Experimenten wurde nun herausgefunden, dass Marihuana auch anfälliger macht für solche vermeintlichen Erinnerungen an Ereignisse, die so nie passiert sind, sodass etwa die Bewertung im Kontext von Straftaten durch von Cannabis berauschte Verdächtige und Zeugen problematisch machen könnte. Der Cannabis-Konsum hatte in der Studie auch einen generellen Einfluss auf das Gedächtnis und sorgte für eine Vielzahl von Erinnerungsfehlern aller Art.

Literatur

Kloft, Lilian, Otgaar, Henry, Blokland, Arjan, Monds, Lauren A., Toennes, Stefan W., Loftus, Elizabeth F. & Ramaekers, Johannes G. (2020). Cannabis increases susceptibility to false memory. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1920162117.
Staresina, Bernhard P., Reber, Thomas P., Niediek, Johannes, Boström, Jan, Elger, Christian E. & Mormann, Florian (2019). Recollection in the human hippocampal-entorhinal cell circuitry. Nature Communications, doi:10.1038/s41467-019-09558-3.

Mit geschlossenen Augen erinnert man sich besser

Literatur

Nash, R. A., Nash, A., Morris, A. & Smith, S. L. (2015). Does rapport-building boost the eyewitness eyeclosure effect in closed questioning? Legal and Criminological Psychology 2044-8333, http://dx.doi.org/10.1111/lcrp.12073.

Wenn es um die Rekonstruktion von Unfällen oder Verbrechen geht, spielen Augenzeugen eine entscheidende Rolle, doch sind deren Erinnerungen oft alles andere als zuverlässig, denn ihr Gehirn speichert die Ereignisse im Nachhinein falsch ab bzw. werden diese bei jeder Aktualisierung mehr oder minder leicht verändert. Robert Nash et al. (2015) haben nach Möglichkeiten gesucht, die dem Gedächtnis von Augenzeugen helfen kannn. Für die Studie zeigten man allen Probanden zunächst einen Film, in dem ein Elektriker zu sehen war, der aus seinem Wagen ausstieg, ein Haus betrat und dort einige Arbeiten verrichtete. Dabei stahl er auch einige Objekte. Anschließend stellte man den Testpersonen einige Fragen zu Filmdetails, wobei ein Teil der Probanden während der Befragung die Augen schließen sollten, um ihre Konzentration zu fördern, während der Rest die Augen offen hielt. Die Probanden, die ihre Augen geschlossen hatten, konnten 23 Prozent mehr Fragen korrekt beantworten, erinnerten sich an mehr Details und machten auch weniger Fehler. Offenbar half ihnen das Aussperren optischer Reize dabei, sich besser in den Film zurückzuversetzen. In einem zweiten Experiment mit akustischen Elementen konnten sich die Teilnehmer mit geschlossenen Augen ebenfalls an mehr akustische und visuelle Details erinnern. Die Ergebnisse zeigen, dass das Augenschließen Augenzeugen dabei hilft, sich zu erinnern

 

Wiederholtes Warnen wird vom Gehirn als Empfehlung erinnert - "illusion of truth"-effect

Literatur

Skurnik, Ian, Yoon, Carolyn, Park, Denise C. & Schwarz, Norbert (2005). How Warnings about False Claims Become Recommendations. Journal of Consumer Research, 31, March

Da das menschliche Langzeitgedächtnis komplexe Informationen mit vorangegangen, ähnlichen Informationen verbindet, doch der Kontext und die speziellen Charakteristika einer Information nach einer bestimmten Zeit vergessen werden, bleibt oft nur die Basisinformation übrig. Darum erinnert sich der Konsument z.B. nicht an die wiederholten Warnungen vor einem Produkt, sondern nur noch an die Marke selbst. Besonders ältere Personen sind durch das Nachlassen der Gedächtnisleistung davon betroffen. Die Ergebnisse der Studie erachten die Forscher als ausschlaggebend für die Prävention von Betrügereien, denn für ältere Menschen kann die verminderte Merkfähigkeit problematisch werden. Zweifel gegenüber der Glaubwürdigkeit von Quellen, die die Annahme eines Arguments zunächst verhindern, verblassen nach einiger Zeit, das Argument selbst wird in wachsendem Grade akzeptiert (Sleeper Effect).

Die Wirksamkeit angsteinflößender Warnungen bei Gesundheitskampagnen ist in der Psychologie seit langer Zeit umstritten, denn zwar wirken angsteinflößende Warnungen und verändern Einstellungen bzw. helfen, Verhalten zu modifizieren. Dennoch sollte man auf Angstbotschaften verzichten, denn einerseits sind die Effekte eher gering, d. h., es braucht massive Drohszenarien, um das Verhalten der Menschen zu ändern, andererseits reagiert der dadurch Eingeschüchterte meist nur kurzfristig. Allerdings gibt es Nebenwirkungen wie einen ständigen inneren Alarmzustand, der das Wohlergehen unter Umständen stärker beeinträchtigt als manche der beschworenen Gefahren selbst.

"Falsche Erinnerungen" oder das "False-Memory-Syndrome"

Gekürzt nach Gresch, Ulrich (2002). Subject: Verlässlichkeit von Erinnerungen.
Online im Internet: Newsgroup: de.sci.psychologie.
Date: Fri, 20 Sep 2002 09:10:05
Date: Sat, 21 Sep 2002 10:04:52
Date: Tue, 25 Mar 2003 22:07:02

"Was ich anbieten kann, sind wissenschaftliche Verallgemeinerungen. Ich kann sagen, basierend auf der wissenschaftlichen Arbeit von mir und vielen anderen Gedächtnisforschern, dass einige Menschen dazu gebracht werden können, falsche Erinnerungen zu entwickeln. Ich kann gestützt auf Wissenschaft sagen, dass es ohne Bestätigung sehr schwer ist, zwischen wahren und falschen Erinnerungen zu unterscheiden. Und ich kann hervorheben, dass einige Anschuldigungen aus wissenschaftlicher Sicht fast unmöglich sind."
Loftus, E. F. (1999). Lost in the Mall: Misrepresentations and Misunderstandings. Ethics and Behavior, 9 (1), 51-60.
Murphy, G., Loftus, E. F., Grady, R. H., Levine, L. J., & Greene, C. M. (2019). False Memories for Fake News During Ireland’s Abortion Referendum. Psychological Science, doi:10.1177/0956797619864887.
https://www.spektrum.de/news/falsche-nachrichten-falsche-erinnerungen/1668548 (19-08-22)

Weitere Literatur zum Thema:

Loftus, G., & Loftus, E. F. (1980). On the permanence of stored information in the human brain. American Psychologist, 35, 409-420.
Loftus, E. F., & Palmer, J. C. (1974). Reconstruction of automobile destruction: An example of the interaction between language and memory. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 13, 585-589.
Loftus, E., Ketcham, K. (1995). Die therapierte Erinnerung. Vom Mythos der Verdrängung bei Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs. Stockholm: Norstedt.Murphy, G., Loftus, E. F., Grady, R. H., Levine, L. J., & Greene, C. M. (2019). False Memories for Fake News During Ireland’s Abortion Referendum. Psychological Science, doi:10.1177/0956797619864887.
https://www.spektrum.de/news/falsche-nachrichten-falsche-erinnerungen/1668548 (19-08-22)

Bei nüchterner Betrachtung kann man aber trotz der verwirrenden Befundlage mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass wohl kaum "sehr vieles bei der Erinnerung" erfunden wird. Der Mensch wäre überhaupt nicht lebensfähig, wenn er sich nicht darauf verlassen könnte, dass er die für seinen tägliche Aktivität erforderlichen Sachverhalte auch richtig erinnert - zumindest im Wesentlichen. Wer dies - z. B. aufgrund eines organischen Defekts - nicht kann, ist behindert und sehr schnell auf fremde Hilfe angewiesen. Man denke auch daran, dass unser Gedächnis die Ressourcen enthält, aus denen wir immer wieder neu unsere Persönlichkeit gestalten. Wenn wir dabei "sehr viel erfinden" würden, dann würde unsere Persönlichkeit die Fähigkeit einbüßen, in Interaktionen Komplexität zu reduzieren. Und umgekehrt natürlich auch: Wenn unsere Interaktionspartner sehr viele Erinnerungen an uns erfinden würden, dann hätte wir ebenfalls große Probleme, verlässlich mit ihnen zu kommunizieren. Es verblüfft immer wieder, mit welcher Leichtigkeit sich auch (angehende) Psychologen in Sachen "Gedächtnis" ins Bockshorn jagen lassen. Es ist ja für den Psychologie-Historiker kein Geheimnis, warum in den Medien (vor allem den amerikanischen) immer wieder groteske Behauptungen über die angebliche Fehlbarkeit des Gedächtnisses lanciert werden. Es geht um dieses kleine schmutzige Familiengeheimnis. Lügt die Tochter? Oder hat Vati wirklich ...? In den USA gibt es immer wieder Prozesse mit dieser Thematik, bei denen es um viel Geld geht. Und es gibt Interessenverbände, die sich liebevoll der Frage des "False Memory" widmen? Und es gibt "Spin Doctors".

Und bekanntlich schwappen die "bahnbrechenden Erkenntnisse" des US-Spins dann mit ein paar Jahren Verzögerung über den großen Teich. Nicht selten werden dann diese Erkenntnisse sogar mit Experimenten drapiert, die (für den Laien) überzeugend klingen, bei denen es sich aber fast immer um Versuche handelt, die zumindest extern (ökologisch) nicht valide sind. Laien, die sich nicht davon beeinflussen lassen, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen gebracht wird, sondern einfach nur dem "gesunden Menschenverstand" folgen, sind da mitunter sogar gegenüber "Fachleuten" im Vorteil. Jeder denke an seinen Alltag und frage sich: Wieviel erfundene Erinnerungen könnte ich mir eigentlich leisten, um hier über die Runden zu kommen? Lassen wir also die Ideologie weg: Neulich entdeckte ich eine Nazi Web Site. Deren Autoren behaupteten tatsächlich, dass die Berichte der KZ-Überlebenden auf das "False Memory Syndrome" zurückzuführen seien.
Das "False-Memory-Syndrome" ist keineswegs ein wissenschaftlicher Begriff, wie der Terminus suggerieren könnte, sondern eine PR-Erfindung. Dabei handelt es sich um eine verzerrte, höchstgradig tendenziöse und polemische Darstellung gedächtnispsychologischer Befunde. In den USA ist in den letzten Jahrzehnten ein regelrechter Wirtschaftszweig entstanden, der politische Propaganda in die Form wissenschaftlicher "Erkenntnisse" gießt. Die Absicht der Erfinder des "False-Memory-Syndromes" war es natürlich nicht, Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Leugner zu gießen. Allerdings ist es ihnen gelungen, dieses PR-Produkt als "Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis" in den Köpfen eines interessierten Laienpublikums zu etablieren. Wer "durchblickt", fabuliert bei passender Gelegenheit von "False Memories". Damit haben es die Erfinder des "False-Memory-Syndromes" den Holocaustleugnern ungewollt leicht gemacht, ihre perverse Geschichtsklitterung nun mit "psychologischen" Weihen zu veredeln.
Die ursprüngliche implizite Botschaft des "False-Memory-Syndromes" lautete: "Misstraue den Erinnerungen mutmaßlicher Opfer sexuellen Missbrauchs." Der "Erfolg" des "False-Memory-Syndromes" ist durch die Tatsache bedingt, dass es immer noch ein Tabubruch ist, über "sexuellen Mißbrauch" zu sprechen. Dieses "Syndrome" lässt sich also sehr gut integrieren in eine Strategie des Denkens, die in Orwells 1984 "Delstop" genannt wird: "Delstop bezeichnet die Fähigkeit, geradezu instinktiv auf der Schwelle jedes riskanten Gedankens haltzumachen. Es schließt die Gabe mit ein, Analogien nicht zu begreifen, logische Fehler zu übersehen, die simpelsten Argumente misszuverstehen und von jedem Gedankengang, der in eine ketzerische Richtung führen könnte, gelangweilt und abgestoßen zu werden."
Riskante Gedanken entstehen aber gerade in der Auseinandersetzung mit Bereichen, für deren Verständnis wir auf Erinnerungen angewiesen sind, weil sich diese Bereiche nur zu oft und nur zu leicht der objektiven Überprüfung entziehen (oder ihr, von interessierten Kreisen) bewusst entzogen werden. Diese Erinnerungen sind verpönt, weil sie zum Tabubruch führen oder etablierte Mächte und mächtige Interessen gefährden könnten. Also: "Delstop". Manche Nazis versuchen nun, diesen "False-Memory-Delstop" für sich arbeiten zu lassen, und zwar in dem Bewusstsein, dass die Erinnerung an den Holocaust trotz offizieller "Vergangenheitsbewältigung" immer noch Elemente des Tabubruchs enthält - vor allem, aber nicht nur in Deutschland. Die "Vergangenheitsbewältigung" wurde ritualisiert und in Formeln gegossen. Auch in des Nazismus und Antisemitismus unverdächtigen Köpfen erzeugt ein gedankliches Abweichen von diesen Formeln und Ritualen Unbehagen. Daher ist die Schwelle hoch, sich gedanklich auf die Erinnerungen von Überlebenden einzulassen. Den Nazis kann das nur recht sein. Genau diese Auseinandersetzung mit diesen Erinnerungen wünschen sie natürlich nicht. Also: False-Memory-Delstop. Die Strategie ist durchschaubar, sicher. Aber es steht zu befürchten, dass sie erheblichen politischen und moralischen Schaden anrichtet, wenn es den Nazis gelingt, die False-Memory-Ideologie in den Köpfen einer größeren Zahl von Menschen mit den Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden zu verbinden - wenn es den Nazis also gelingt, ein generelles Misstrauen gegenüber den Erinnerungen der Opfer nazistischer Gewaltherrschaft pseudowissenschaftlich zu "legitimieren".

Hans Delfs ist in seinem Buch "False Memory - Erinnerungen an sexuellen Missbrauch, der nie stattfand" der Ansicht, dass induzierte 'Erinnerungen' an sexuellen Missbrauch vor allem bei solchen Therapeuten entstehen, die sich zu der Auffassung bekennen, die meisten psychischen Probleme hätten ihre Ursache in traumatischen Kindheitserlebnissen. Die Erinnerungen an diese Ereignisse sind ihrer Ansicht nach vom Patienten verdrängt worden, aber dennoch unbewusst vorhanden, sodass es zur Genesung als erstes Behandlungsziel zwingend erforderlich ist, Erinnerungen an diese Ereignisse wiederzufinden. Speziell bei ideologisch-feministischen Therapeuten verengt sich der Fokus oft auf sexuellen Missbrauch, was Delfs anhand konkreter Fälle beschreibt, in denen betroffene Frauen und ihre Angehörigen in ein psychisches Chaos gestürzt wurden. Besonders junge Frauen mit psychischen Belastungen glauben dann, ihre Verstörtheit auf einen sexuellen Missbrauch in früheren Jahren zurückführen zu können.

Murphy et al. (2019) haben in einer Untersuchung gezeigt, dass auch Fake News im Stande sind, zu falschen Erinnerungen zu führen. Man legte dabei mehr als dreitausend irischen ProbandInnen sechs Nachrichtentexte vor, von denen zwei frei erfunden waren. Die Berichte befassten sich mit dem Thema Abtreibung, wobei das Experiment in der Woche vor dem Referendum stattfand, in dem sich die Mehrheit der IrInnen dafür aussprach, das Abtreibungsverbot im Land zu lockern. In einem der beiden Texte wurden Menschen, die sich für die Lockerung des Verbots stark machten, illegale Machenschaften unterstellt, der andere diffamierte prominente Persönlichkeiten, die sich gegen die Gesetzesänderung engagierten. Nach dem Studium jedes Textes fragten die Wissenschaftler, ob die TeilnehmerInnen schon einmal von den darin geschilderten Ereignissen gehört hatten und sich an diese erinnern könnten. Außerdem gaben alle Versuchspersonen darüber Auskunft, wie sie beim Referendum abstimmen würden, wobei auch ein Test zu den kognitiven Fähigkeiten vorgelegt wurde. Fast die Hälfte der ProbandInnen gab an, sich an mindestens ein fingiertes Ereignis zu erinnern, und schilderten dieses detailreich, wobei manche sogar Informationen erfanden, die nicht einmal in den Falschmeldungen enthalten gewesen waren. Besonders beeinflusst wurden die Teilnehmer aber durch Fake News, die die Gegner ihrer eigenen Position abwerteten. Das war vor allem bei jenen Personen der Fall, die laut Test schwächere kognitive Fähigkeiten aufwiesen, doch auch ProbandInnen, die gute Testergebnisse erzielt hatten, waren nicht gegen den Effekt immun. Ein anschließender Hinweis auf mögliche Fehlinformationen reduzierte die Rate der falschen Erinnerungen nur leicht, eliminierte diese Effekte aber nicht. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen in einer politischen Kampagne am anfälligsten dafür sind, falsche Erinnerungen für gefälschte Nachrichten zu bilden, die mit ihren Einstellungen übereinstimmen

 


Der SPIEGEL übertitelte ein Interview mit der Psychologin Julia Shaw zum Thema übrigens so:

So leicht ist es, Ihr Gedächtnis zu hacken

Julia Shaw ist Gedächtnisforscherin in London und unterstützt Ermittler und Anwälte dabei, den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen zu überprüfen. Die Wissenschaftlerin wurde jetzt sogar zur Inspiration für eine von Alexandra Maria Lara gespielte Hauptfigur der Krimiserie »8 Zeugen«, die in Potsdam-Babelsberg gedreht wurde und 2021 ausgestrahlt werden soll.


 

Einschätzung von Tatmotiven beeinflusst das Gedächtnis von Augenzeugen

Eine Studie forensischer Psychologinnen zeigte, dass die Erinnerung von Augenzeuginnen und Augenzeugen an die Details einer Straftat dadurch verzerrt sein kann, wie sie die Motive für die Tat bewerten, aber auch die Zuschreibung von Motiven hat auch einen Einfluss darauf, welches Strafmaß für angemessen erachtet wird. In zwei Experimenten brachte man Versuchspersonen durch gezielt platzierte Falschinformationen dazu, Tatmotive entweder der Persönlichkeit einer Täterin zuzuschreiben (z. B. Geldgier), oder sie in der Situation begründet zu sehen (z. B. äußerer Zwang, Notwehr). Die Versuchspersonen schauten zunächst eine sechsminütige Filmsequenz ohne Ton an, in der eine Frau vier Männer ohne ersichtlichen Grund tötet. Im Anschluss an den Film erhielten die Versuchsgruppen unterschiedliche (manipulierte) Informationen zu den mutmaßlichen Motiven der Täterin in Form einer vermeintlichen Filmkritik zum Inhalt des Films und verschiedenen Details der Sequenzen. Die eine Gruppe erfuhr, dass die Motive der Protagonistin in ihrer Persönlichkeit begründet liegen, indem sie als kaltblütig und hasserfüllt beschrieben wurde. Der Text hob ausdrücklich die Grausamkeit der Morde hervor. Der anderen Gruppe wurde suggeriert, die Täterin habe hauptsächlich aufgrund äußerer Zwänge gehandelt, etwa aus Notwehr oder Verzweiflung. Dieser Text hob besonders das Dilemma der Protagonistin hervor, das sie zu ihren Taten veranlasste. Die Versuchspersonen sollten dann eine angemessene Gefängnisstrafe (0 bis 40 Jahre) für die Täterin festlegen. Außerdem gaben sie an, ob sie die Todesstrafe in diesem Fall angebracht fänden. Im Anschluss bearbeiteten sie einen Wiedererkennungstest, in dem verschiedene Ereignisse der Filmsequenz beschrieben waren. Dieser Test enthielt sowohl wahre als auch erfundene Ereignisse. Die Versuchspersonen sollten für jedes Ereignis angeben, ob sie es gesehen hatten oder nicht. Falschinformation, die zu den Zuschreibungen der Probandinnen und Probanden über die Tatmotive passte, wurde fälschlicherweise häufiger als wahr eingestuft: Schrieben die Versuchspersonen die Taten der Persönlichkeit der Täterin zu, unterliefen ihnen gezielt solche Fehler, die diese negative Beurteilung der Persönlichkeit bestätigten. Zum Beispiel gaben die Versuchspersonen an, gesehen zu haben, wie die Täterin ihre Freundin mit einem Messer bedrohte – obwohl in der eigentlichen Filmsequenz kein Messer zu sehen war und die Täterin auch ihre Freundin nie bedroht hatte. Waren die Versuchspersonen hingegen überzeugt davon, dass die Täterin aufgrund von äußerem Zwang gehandelt hatte, gaben sie beispielsweise eher an gesehen zu haben, wie die Täterin von einem der Opfer mit einem Messer bedroht worden war – obwohl kein Messer zu sehen war und die Täterin nicht bedroht wurde. In beiden Gruppen wiesen die Probandinnen und Probanden jedoch solche Falschinformation, die ihrer eigenen Zuschreibung widersprach, korrekt als falsch zurück. Zusätzlich zeigte sich, dass Versuchspersonen für eine höhere Gefängnisstrafe und auch eher für die Todesstrafe plädierten, wenn sie annahmen, dass die Täterin aus persönlichen Motiven und nicht aufgrund von äußerem Zwang gehandelt hatte.

Gegenüberstellungen

Die praktische Relevanz der Forschung von Elizabeth Loftus untermauert eine Gruppe des Innocence Projects mit Zahlen, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Revision von Justizirrtümern einsetzt. Demnach waren für die von ihnen gesichteten Fehlurteile, die im Nachhinein durch DNA-Tests aufgeklärt wurden, zu 70 Prozent Falschidentifikationen mitverantwortlich. In rund 57 Prozent dieser Fälle gab der Zeuge vor Gericht an, sich sicher zu sein, obwohl er das in der ersten Gegenüberstellung nicht gewesen war. Meist hatte er sogar zunächst niemanden oder jemand anderen als Täter wiedererkannt. Bereits 2017 und 2020 hatte die Gruppe deshalb neue Richtlinien für die Befragung von Augenzeugen gefordert: »Wir müssen wiederholte Gegenüberstellung des Zeugen und Verdächtigen verhindern.« Das gelte ebenso für eine Gegenüberstellung per Bild. »Auch ein schlechtes Foto kann das Gedächtnis kontaminieren, solange der Verdächtige darauf zu erkennen ist.« Eine zweite Gegenüberstellung sei hingegen kein Problem, wenn keine der Personen aus der ersten Runde erneut auftauche. Im Polizeibericht müsse außerdem stehen, wie sicher sich der Zeuge bei der ersten Gegenüberstellung war. Das gesamte Prozedere sollte überdies auf Video aufgezeichnet werden, damit das jeder auch im Nachhinein noch prüfen könne. Denn ist der Zeuge sich nicht sicher, sei das ein Warnsignal – egal, ob er die Sicherheit mit eigenen Worten ausdrückt oder in Prozent. Eine langsame Reaktion könnte ebenfalls ein Warnsignal sein. Studien zeigten: Eine schnelle Identifikation innerhalb von 5 bis 10 Sekunden war in der Regel korrekt. Dauerte die Entscheidung mehr als 30 Sekunden, erwies sie sich als weniger verlässlich.

Nach Ansicht von Wixted et al. (2021) liegt das Problem in der weithin verbreiteten Fehlannahme, dass spätere Gegenüberstellungen ebenso viel oder sogar mehr Informationen brächten. Besonders problematisch ist dabei eine Identifikation vor Gericht, denn diese Situation ist hochsuggestiv, da die verdächtige Person bereits auf der Anklagebank sitzt. Man konnte in Experimenten zeigen, dass Gegenüberstellungen eine Quelle von Verfälschungen darstellt. Zum Beispiel sollte der Zeuge noch keine Medienberichte gesehen haben, die Hinweise auf das Aussehen des Verdächtigen geben könnten. Er muss darüber informiert werden, dass der Täter vielleicht gar nicht unter den Personen ist. Und die durchführenden Ermittler dürfen selbst nicht wissen, welche Person die verdächtige ist, um den Zeugen nicht unbewusst zu beeinflussen. Doch selbst, wenn die Gegenüberstellung nach allen Regeln der Kunst verläuft, kann das Ergebnis falsch sein, denn eine Gegenüberstellung hinterlässt eine Erinnerungsspur von allen Gesichtern, auch dem der verdächtigen Person. In der Folge wird das Gedächtnis auf sein Gesicht bei der nächsten Gegenüberstellung stärker reagieren, auch wenn die Person unschuldig ist. Je öfter der Zeuge den Verdächtigen sieht, desto größer das Risiko einer falschen Identifikation und desto mehr glaubt er zugleich, sich richtig zu erinnern, was vor Gericht oft als Indiz für eine verlässliche Aussage gewertet wird. Es gibt aber keine Möglichkeit, das Gedächtnis wieder zu dekontaminieren (Gelitz, 2021).

Literatur

Gelitz, C. (2021). Fehlurteile: Wann Zeugen einen Unschuldigen als Täter identifizieren.
WWW: https://www.spektrum.de/news/fehlurteile-wann-zeugen-die-falsche-person-identifizieren/1961461 (21-12-18)

Hellmann, D. F. & Memon, A. (2016). Attribution of crime motives biases eyewitnesses' memory and sentencing decisions. Psychology, Crime and Law, doi: 10.1080/1068316X.2016.1207768.

Wixted, J. T., Wells, G. L., Loftus, E. F. & Garrett, B. L. (2021). Test a Witness’s Memory of a Suspect Only Once. Psychological Science in the Public Interest, 22, doi:10.1177/15291006211026259.

Das betrogene Ich

Aus Erzählungen, Familienfotos und Fernsehbildern bastelt sich das Gehirn Erinnerung zusammen. Das Ich muss sich selbst täuschen, um die Gegenwart zu bewältigen

Unter diesem Titel fasst Andrea Schuhmacher einige spektakuläte Ergebnisse zu neueren Ergebnissen der psychologischen und neurobiologischen Gehirnforschung zusammen - insbesondere verweist sie auf die Forschungen von Elizabeth Loftus, wohl die bedeutendste Forscherin zum Phänomen des "False Memory Syndroms". Sie schreibt: "Auf irgendeinem Wege musste der Hase mit dem grauen Fell und den albernen Schneidezähnen in das Gehirn des Studenten gelangt sein. Denn auf Nachfrage konnte sich dieser plötzlich erinnern, wie er als Kind in Disneyland Bugs Bunny begegnet war. Er berichtete sogar, wie ihm die Comicfigur die Hand geschüttelt und eine Karotte präsentiert hatte. Es war mit Sicherheit eine falsche Erinnerung: Als Geschöpf des Entertainment-Konzerns Warner Brothers hatte Bugs Bunny schon immer striktes Hausverbot im Disneyland der Konkurrenz. Mit einem schlichten Trick hatte das Team von Elizabeth Loftus, Psychologin an der University of Washington in Seattle, den Hasen in das Gedächtnis des Studenten geschleust. Die Forscher hatten ihm eine fingierte Werbeannonce des Disney-Konzerns gezeigt, in der er als Kind neben Bugs Bunny abgebildet war. Anderen ging es ähnlich: 16 Prozent der 167 Versuchspersonen entdeckten in diesem Experiment plüschige Hasenerlebnisse in ihrem Gedächtnis, in einer Folgestudie waren es sogar 35 Prozent. Noch erfolgreicher manipulierten die Psychologen mit gefälschten Fotos. So montierte Loftus ein Kindheitsporträt des jeweiligen Probanden mit seinem Vater in das Bild eines Heißluftballons. Jeder zweite Befragte erinnerte sich daraufhin an eine Himmelfahrt, die nie stattgefunden hatte. Anderen Versuchsteilnehmern suggerierte Loftus mit ähnlich schlichten Mitteln, dass sie als Kinder beim Ballspiel ein Fenster eingeschlagen oder bei einer Hochzeit den Punsch über die Festtagskleidung der Gäste gegossen hätten. "Eines sollten wir uns klarmachen", sagt Loftus, "unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren."

Mehr unter Das betrogene Ich in der Zeit

Phillip Isola et al (2011) konnten in einem Art Memory-Versuch an Hand von Fotos zeigen, welche Merkmale eines Bildes seinen Erinnerungswert bestimmen. Dabei zeigte sich, dass Attraktivität und Erinnerungswürdigkeit nicht dasselbe sind. Es waren meist doe abgebildeten Personen, die den Betrachtern im Gedächtnis hängen bleiben, selbst wenn sie diese zuvor nie gesehen hatten. Es zeigte sich auch, dass es Szenen im Innenraum und Motive im menschlichen Größenmaßstab waren, die deutlich besser erinnert werden als die schönste Landschaft oder Stadtansicht. Überraschende Elemente sorgen zusätzlich für ein besseres Erinnern, etwa wenn eine Landschaft ungewöhnlich geformte Hecke aufwies.

Quelle

Schuhmacher, Andrea (2005). Das betrogene Ich.
WWW: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2005/05/Autobiographisches_Gedaechtnis.xml (05-12-12)

Literatur

Loftus, Elizabeth F. (2003). Make-believe memories, American Psychologist (November 2003).
http://faculty.washington.edu/eloftus/Articles/AmerPsychAward+ArticlePDF03%20(2).pdf (05-12-12)

Loftus, E. F. (1996). Eyewitness testimony. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Loftus, E. F. (2002). Memory faults and fixes. Issues in Science and Technology, 18(4), pp. 41–50.

Loftus, E. F. (2003). Our changeable memories: Legal and practical implications. Nature Reviews: Neuroscience, 4, pp. 231–234.

Isola, P., Xiao, J., Torralba, A. & Oliva, A. (2011). What makes an image memorable? IEEE Conference on Computer Vision and Pattern Recognition (CVPR). pp 145-152.


Eine eher harmlose Form von falschen Erinnerungen betrifft den Mythos "Weiße Weihnachten", von denen man meteorologisch dann spricht, wenn an allen Festtagen (Heiliger Abend, erster und zweiter Weihnachtsfeiertag) morgens um 7 Uhr mindestens ein Zentimeter Schnee liegt. Viele Menschen haben Erinnerungen daran, dass sie in ihrer Kindheit am Heiligen Abend durch verschneite Straßen zur Kirche gingen, Schneemänner bauten und sich Schneeballschlachten lieferten. Heute dagegen schneit es nur noch selten, grüne Weihnachten sind nach Ansicht vieler deutlich häufiger geworden. Allerdings zeigt ein Blick in den Hundertjährigen Kalender, dass es um Weihnachten herum schon seit langer Zeit eher mildes Wetter gab und diese Periode als Weihnachtstauwetter bezeichnet wird. Es ist aus meteorologische Sicht falsch, den Dezember als sehr schneereichen Monat anzusehen. Zwar gibt es abhängig von der jeweiligen Lage auch hie und da  schneereichere Weihnachtstage, doch diese waren früher nicht häufiger als heute. Das bedeutet, dass man am Heiligen Abend Schnee eher nicht erwarten sollte. Im episodischen Gedächtnis speichern Menschen jene Informationen ab, wie etwas genau gewesen ist, d,. h., man weiß dann noch, wie das Wetter konkret zu Weihnachten war, wer zu Besuch war und was es zu essen gab. Allerdings wird wegen der begrenzten Kapazität des Gehirns solche Erinnerungen jedoch schnell gelöscht werden, und es bleibt das semantische Gedächtnis, wobei hier aber auch Einschätzungen, Urteile und fremde Informationen eine Rolle spielen, aber vor allem, wie etwas sein sollte. Daraus ergibt sich, dass Menschen nicht nur daran glauben, das es früher zu Weihnachten immer Schnee gab, sondern sie erinnern sich sogar ganz genau daran.

Literatur

https://www.infranken.de/ratgeber/feiertage-tradition/weihnachten/weisse-weihnachten-faktencheck-schnee-niederschlag-klimawandel-dwd-schneehoehen-mythos-art-1469078 (20-12-20)


Vergessen als Akutmaßnahme zur Verdrängung und Ablenkung

Quelle: http://www.focus.de/
gesundheit/ratgeber/ psychologie/news/
psychologie-vergessen-statt-aufarbeiten_aid_335567.html (08-08-09)

Wer sich aufregt, ärgert oder deprimiert ist, neigt dazu, die Umstände des emotionalen Aufruhrs immer wieder durchzukauen, in Gedanken, in Selbstgesprächen oder in Gesprächen mit FreundInnen.

Ethan Kross (Universität Michigan) und Ozlem Ayduk (Universität Kalifornien) ließen 141 VersuchsteilnehmerInnen sich an eine besonders schmerzliche Erfahrung aus der jüngeren Vergangenheit erinnern. Eine Gruppe sollte sich intensiv vorstellen, diese Situation erneut zu erleben, eine andere Gruppe sollte sich zwar auch zurückversetzen, aber das Erlebnis wie eine andere Person beurteilen (“Warum hat er/sie sich so schlecht gefühlt“). Eine dritte Gruppe sollte sich neben der negativen Erinnerung mit völlig neutralen Sätzen beschäftigen und ablenken. Nach dem Experiment fühlten sich jene TeilnehmerInnen am besten, die die Situation von außen betrachtet hatten, die Ablenkung half etwas weniger gut. Am schlechtesten ging es den ProbandInnen, die voll in die damalige Situation eingetaucht waren. Noch eine Woche später hatte diese letzte "Distanz-Gruppe" die wenigsten negative Gefühle.

Psychologen raten daher, sich erst mit etwas Distanz ans Aufarbeiten der negativen Erfahrung zu machen, denn Menschen sind nicht besonders gut darin, konstruktiv über eigene Fehler, unangenehme Gefühle und Stimmungen nachzudenken. Dabei drehen sich die meisten nur im Kreis. Es bringt im Akutfall mehr, eine Art mentale Auszeit zu nehmen.

Bereits vor einigen Jahren haben Untersuchungen der Universität Colorado gezeigt, dass es in den Gehirnprozessen so etwas wie Verdrängung tatsächlich geben dürfte, was jedoch immer wieder vor Gericht ein umstrittenes Thema darstellt. Karl-Heinz Bäuml und Simon Hanslmayr (Institut für Psychologie der Universität Regensburg) wiesen nach, dass Erinnerungen willentlich unterdrückt werden können, was sogar zu einem vollständigen Vergessen von Erfahrungen führen kann. Verantwortlich dafür sind „vorgreifende“ bzw. antizipierende Kontrollmechanismen im Gehirn, die eine Unterdrückung von Erinnerungen unterstützen. So zeigte man ProbandInnen verschiedene Fotos mit menschlichen Gesichtern und ordneten jedem Gesicht ein bestimmtes Wort zu, das sich die Versuchspersonen einprägen sollten. Danach wurden die Versuchspersonen dazu aufgefordert, die Erinnerungen an das jeweils gesuchte Wort während der Darstellung des Fotos mit dem Gesicht entweder zu aktivieren oder bewusst zu unterdrücken. Diese Anweisung zum Erinnern oder Unterdrücken erhielten die Probanden aber bevor sie die Fotos präsentiert bekamen. Mit steigender Zahl von Wiederholungen konnten sich die Probanden immer weniger an die Gesicht-Wort-Kombinationen erinnern.

In den gleichzeitig beobachteten Gehirnaktivitäten der Versuchspersonen entdeckte man zwei verschiedene Mechanismen, um Erinnerungen zu unterdrücken: zum einen den normalen Verarbeitungsprozess, der nach der Präsentation eines Gesicht-Wort-Paares abläuft aber auch einen vorauslaufenden Prozess, der schon vor der Präsentation eines Gesichts wirksam wird. Dieser „vorausschauende“ Kontrollmechanismus ist vermutlich die Ursache dafür, dass Erinnerungen und Erfahrungen absichtlich unterdrückt oder vergessen werden.

Es sollte bei der Interpretation der Ergebnisse beachtet werden, dass "willentliches Vergessen" auch eine Art Schutzmechanismus sein kann, etwa dass man traumatische Ereignisse verdrängt, um zu überleben. Verdrängen ist oft eine lebensrettende Maßnahme des Gehirns. Traumatische Erlebnisse kommen nämlich immer wieder zurück, oft zu einem ungünstigsten Zeitpunkt, auch wenn man denkt, sie für immer weggeschlossen zu haben.

Bei einem traumatisches Erlebnis wird das Gehirn von Stresshormonen überschwemmt, wobei diese Hormone mit ihren Rezeptoren genau in den Hirnbereichen andocken, die Emotion und Kognition zusammenschalten. Wenn die Hormone massiv aktiv sind, blockieren sie dort die normale Speicherung und den Abruf von Informationen. Wenn man dann später an die Information heran will, die unbewusst eingespeichert ist, werden abermals die Stresshormone ausgeschüttet, die den bewussten Abruf unterbinden. Diese Schutzfunktion löscht mit der Zeit entweder die Spuren oder diese werden tief ins Unterbewusste verbannt. Allerdings ist es selten, dass eine Information gar nicht mehr vorhanden ist, meist existiert die Erinnerung irgendwo im Gehirn, nur der Zugang dazu ist verschüttet. An solche Erinnerungen heranzukommen kann relativ spontan geschehen, wenn man in einer normalen, gelockerten Atmosphäre ist, mann kann aber auch mittels Hypnose an die Informationen gelangen. Auch eine Psychotherapie, die eventuell mit Medikamenten kombiniert wird, kann mittel- oder langfristig solche verdrängten Informationen wieder ans Tageslicht geholt werden. Allerdings leistet das Gehirn häufig massiven und langfristigen Widerstand, sodass es auch nach jahrelanger Therapie nicht möglich ist, einen Zugang zu diesen Erinnerungen zu finden. Manche Amnesie-Patienten bekommen ein mulmiges Gefühl, wenn sie in bestimmten Situationen sind oder mit bestimmten Personen zusammentreffen, können aber nicht erklären, woran es genau liegt. Wenn im alltäglichen Lebensvollzug solche traumatischen Ereignisse im Hintergrund immer mitschwingen, die man nicht bewusst fassen kann, kann sich dadurch langfristig auch die Persönlichkeit verändern, etwa dass man anfälliger für Depressionen wird. Vermutlich ist es in manchen Fällen auch gut, all den verdrängten Seelenmüll nicht zu aktivieren. Wissenschaftler der Universität Bern haben jüngst in den Neuronen des Gehirns einen Mechanismus nachgewiesen, der möglicherweise für das Vergessen mitverantwortlich ist, wobei ein vom Gehirn selbst produzierter Stoff eine wichtige Rolle spielt. Bestimmte Sternzellen greifen nämlich durch einen körpereigenen Stoff, der Cannabis ähnlich ist, in die Chemie des Gehirns ein, wobei die Verbindung zwischen den Nervenzellen schwächer wird.

Vergessen unter Hypnose

Grundsätzlich ist es möglich eine Amnesie mittels Hypnose herbeizuführen, wobei eine Amnesie ja ein gängiges hypnotisches und auch posthypnotisches Phänomen darstellt. Hypnoseinduzierte Amnesien halten typischerweise nur über kurze Zeit während einer Hypnosesitzung bzw. bei einer starken Suggestibilität und Überzeugung, dass Hypnose wirksam sein kann. Die Amnesie ist eine Form der Dissoziation, die mit Verdrängung zu tun hat. Suggeriert man beispielsweise unter Hypnose, die Hälfte aller zuvor gelernten Wörter einer Liste zu vergessen, so fallen hauptsächlich die emotional belasteten unter die Amnesie. Nachhaltiges Vergessen von elementaren Inhalten wie dem eigenen Namen oder traumatische Ereignisse ist dabei eher schwierig bzw. nicht ungefährlich, denn bei der Hypnose werden die zu vergessenden Inhalte mit anderen verknüpft, sodass diese dann später spontan erinnert werden können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Erinnerungen larviert wiederkommen, was zur Folge hat, dass sich neue Empfindungen im Gedächtnis entwickeln, die psychische Nebenwirkungen haben können, die dann u. U. noch schwieriger aufzuarbeiten sind, als die ursprünglichen Erinnerungen, die gelöscht werden sollten. Zwar kann im therapeutischen Zusammenhang eine spezifische Amnesie kurzfristig durchaus sinnvoll und beabsichtigt sein, um von diesen ungestört an einer anderen Thematik zu arbeiten, als langsfristige Verarbeitung bzw. eben Verdrängung ist eine Hypnose ungeeignet.

Vergessen bei Depressionen

Ein zentraler Faktor bei Depressionen sind spezifische Störungen des Gedächtnisses, denn so erinnern sich depressive Menschen vor allem an Negatives, während nicht-depressive sich vor allem an positive Dinge erinnern. Dadurch haben depressive Menschen Schwierigkeiten sich an spezifische Ergebnisse aus ihrem Leben zu erinnern, also etwa konkrete Ereignisse, die an einem Tag und an einem Ort stattgefunden haben, wobei ihre Erinnerungen dann häufig vage und unkonkret sind. Michalak et al. (2018) haben nun untersucht, wie sich das Gedächtnis von depressiven Menschen in dieser Hinsicht wieder normalisieren lässt, indem sie auf Qi Gong, Bewegungsübungen aus dem Bereich der Traditionellen Chinesischen Medizin, zurückgegriffen haben. Vierzig Probanden in einer psychiatrischen Klinik führten für einige Minuten entweder eine öffnende, nach oben gerichtet Qi Gong Bewegung aus oder eine nach unten gerichtete schließende Qi Gong Bewegung. Normalerweise zeigen Depressive nämlich eher eine zusammengesunkene Körperhaltung und fühlen sich auch körperlich niedergeschlagen, sodass man davon ausging, dass die Betroffenen von einer Bewegung, die diese Tendenz ausgleicht, etwa einer nach oben gerichteten Qi Gong Bewegung, profitieren sollten, nicht jedoch von einer nach unten gerichteten. Dieser Ansatz entsprang einer Vielzahl von Forschungsarbeiten aus der Grundlagenforschung, die zeigen, dass Körperhaltung oder -bewegung und psychische Prozesse sich wechselseitig beeinflussen können. Es zeigte sich erwartungsgemäß, dass Depressive, die die nach oben gerichtete Qi Gong Bewegung ausgeführt hatten, sich vermehrt an positive Gedächtnisinhalte erinnerten und auch besseren Zugriff auf spezifische Erinnerung aus ihrem Leben hatten. Bestimmte aufrichtende Bewegungen wirken sich demnach günstig auf das depressive Gedächtnis auswirken. Ohne nun aus solchen Bewegungen konkrete Behandlungen abzuleiten, sind es doch erste Befunde, die nahelegen, dass man die Rolle des Köpers und von antidepressiven Bewegungen als möglichen therapeutischen Zugang erforschen sollte.

Literatur

Michalak, J., Chatinyan, A. , Chourib, H. & Teismann, T. (2018). The impact of upward vs. downward movement patterns on memory characteristics of depressed individuals. Psychopathology, 51, 326-334.

Gedächtnis durch spezielle Neuronenverbindungen leistungsfähiger

Quelle

Schott, Björn H., Niklas,Christoph, Kaufmann, Jörn, Bodammer, Nils C., Machts, Judith, Schütze, Hartmut & Düzel, Emrah (2011). Fiber density between rhinal cortex and activated ventrolateral prefrontal regions predicts episodic memory performance in humans. PNAS 2011 : 1013287108v1-201013287.

Schott et al. (2011) haben mittels Magnetresonanztomographie einen möglichen Hinweis entdeckt, warum manche Menschen ein hervorragendes Gedächtnis besitzen, während andere Probleme beim Erinnern haben. Bei der Untersuchung, welche Gehirnregionen aktiviert werden, während sich Studenten eine Liste von Wörtern einprägten, zeigten bei allen Studienteilnehmern mehrere Regionen im Vorderhirn eine stärkere Aktivität bei Wörtern, die später erinnert werden konnten, und zwar im Vergleich zur Aktivität bei jenen Wörtern, die später vergessen wurden. Zwei der aktivierten Vorderhirnregionen waren dabei mit den inneren Anteilen des Schläfenlappens verbunden, wobei die Stärke dieser Verbindung eine enge Beziehung zur individuellen Gedächtnisleistung aufwies. StudienteilnehmerInnen, die über eine stärkere Verbindung zwischen diesen Gehirnstrukturen verfügten, zeigten überdurchschnittliche Gedächtnisleistungen. Offenbar gibt es große Unterschiede zwischen Menschen hinsichtlich der Verbindungsmuster zwischen diesen Hirnregionen, wobei diese Unterschiede sehr spezifische Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses haben.

Auch Insekten können sich falsch erinnern

Untersuchungen haben gezeigt, dass auch das Gedächtnis von Hummeln für das Vergessen anfällig sind. Zwar funktioniert das Kurzzeitgedächtnis von Hummeln gut, doch Probleme gibt es bei den Insekten ähnlich wie beim Menschen beim Langzeitgedächtnis. Hunt & Chittka (2015) trainierten die Hummeln darauf, eine süße Belohnung zu erwarten, wenn sie nacheinander verschiedene künstliche Blumen anflogen. Eine Gruppe von Hummeln bekam Zuckerwasser, wenn sie zuerst eine gelbe Blume anflogen und danach eine schwarz-weiß geringelte, während die zweite Gruppe in umgekehrter Richtung konditioniert wurde. Danach wurden den Hummeln drei Blumen vorgestellt, von denen zwei gelb und eine schwarz-weiß geringelt waren, wie sie sie schon kannten, die dritte Blume war hingegen gelb und weiß geringelt, war also eine Kombination der vorherigen Blumen. Wenige Minuten nach dem Training flogen fast achtzig Prozent der Hummeln die Blumen an, auf die sie konditioniert worden waren, d. h., ihr Kurzzeitgedächtnis funktionierte. Nach einem Tag veränderte sich die Reaktion der Hummeln, denn jene Hummeln, die auf die gelbe Blume konditioniert worden waren, flogen diese zwar zunächst mit großer Sicherheit an (78 Prozent), doch gegen Ende des ersten Tages flogen sie zu fast fünfzig Prozent die Blume mit den gelb-weißen Ringen an, obwohl sie diese im Training nie gesehen hatten. Drei Tage später schienen sich die Tiere zunächst an die richtige Blume zu erinnern, bevor sie dann zur falschen flogen. Offensichtlich vermischte sich die Erinnerung an die richtige Blume mit der Erinnerung an die falsche Blume, sodass die Hummeln sie letztlich nicht mehr unterscheiden konnten, d. h., dass die Gedächtnisspuren für zwei Reize im Gedächtnis der Tiere kombiniert wurden. Man bezeichnet dieses Phänomen als "Erinnerungs-Verknüpfungs-Fehler", d. h., dass verschiedene Erinnerungen nicht nur mit der Zeit verblassen, sie können sich auch überlagern und zu neuen Erinnerungen zusammenfügen.

Literatur

Hunt, K. L. & Chittka, L. (2015). Merging of Long-Term Memories in an Insect. Current Biology; DOI: 10.1016/j.cub.2015.01.023.

Siehe dazu auch die Ausführungen zum

Literatur zum Vergessen



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