Selektive Erinnerung und Wahrnehmung
Selektive Erinnerung
In einer Studie von Wimber, Heinze & Richardson-Klavehn (2010) wurde die Gehirnaktivität von Probanden mittels funktioneller Magnetresonanztomographie gemessen, während diese sich lange Wortlisten einprägten. Diese Lernphase wurde gefolgt von einem zweistufigen Gedächtnistest. Dabei blitzten sukzessive Wörter für nur extrem kurze Zeit (33-66 msec) auf dem Bildschirm auf, und die Probanden sollten zunächst versuchen, diese Wörter zu identifizieren. Danach sollte zudem angegeben werden, ob es sich bei dem eben gezeigten Wort um ein zuvor gelerntes oder um ein neues Wort handelt. Zuvor gelernte Wörter konnten wesentlich besser identifiziert werden als neue Wörter. Diesen Effekt bezeichnet man als implizites (unbewusstes) Gedächtnis, weil er unabhängig davon auftritt, ob sich die Probanden bewusst daran erinnern konnten, das entsprechende Wort zuvor gelernt zu haben (explizites oder bewusstes Gedächtnis).
Die Forscher analysierten nun die Gehirnaktivität der Probanden während des Lernens und zwar getrennt nach Wörtern, die später bewusst, unbewusst oder überhaupt nicht erinnert werden konnten. Es zeigte sich zum einen, dass ein bereits bekanntes Netzwerk aus Hippocampus, unterem Stirnlappen und oberem Scheitellappen späteres bewusstes (explizites) Erinnern vorhersagte. Zum anderen fand sich aber auch ein unabhängiges Netzwerk von Hirnregionen des oberen Stirn- und unteren Scheitellappens, in dem erhöhte Aktivität die spätere erfolgreiche Identifikation der Wörter, also das unbewusste Gedächtnis, vorhersagte. Erstaunlicherweise entsprach dieses Netzwerk exakt den Hirnregionen, die typischerweise auch Vergessen im expliziten Gedächtnis vorhersagen. Die Magdeburger Forscher vermuten, dass dieses Netzwerk immer dann aktiv ist, wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit auf die eher oberflächlichen Merkmale (z.B. das Aussehen) einer Information richten. Diese Arte der Verarbeitung wirkt sich positiv auf die spätere Identifikation, aber negativ auf das bewusste Erinnern aus.
Beim Lernen scheinen also unterschiedliche Netzwerke in Gehirn qualitativ unterschiedliche Aspekte von Gedächtnisinhalten zu verarbeiten und abzuspeichern. Aktivität in denjenigen Regionen, die typischerweise späteres bewusstes Erinnern vorhersagen, spiegelt vermutlich das Verarbeiten der Wortbedeutung wieder. Dies wirkt sich zwar einerseits positiv auf das explizite Gedächtnis, gleichzeitig aber auch negativ auf das unbewusste, visuelle Verarbeiten einer Information aus. Ebenso gibt es Hirnregionen, die die visuellen Aspekte einer Information verarbeiten und eine eher oberflächliche Gedächtnisspur hinterlassen, deren Aktivität aber negative Konsequenzen für das spätere bewusste Erinnern dieser Information haben kann.
Ein Streit auf der Straße kann unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte der Szene lenken: Konzentriert man sich auf das, was dort geschrien wird, kann man sich später vermutlich an das Thema des Streit erinnern, vielleicht aber nicht an die Kleidung der Streitenden. Konzentriert man sich dagegen sehr auf das Aussehen, kann man später wohl eher Details über die Farbe der Kleidung als über den Inhalt des Streits wiedergeben. Erfolgreiches Erinnern hängt also immer auch davon ab, welcher Teil eines Gedächtnisinhaltes (z. B. oberflächliche oder inhaltliche Merkmale) aktuell von Bedeutung ist.
Wir färben Erinnerungen nach Gefühl
Siehe auch Selektive und ungerichtete Aufmerksamkeit, Vigilanz und Konzentration
Oszillationen zur Steuerung der selektiven Wahrnehmung
Die selektive Wahrnehmung ist jenes
psychologische Phänomen, dass bei der Wahrnehmung nur bestimmte Aspekte
der Umwelt aufgenommen und andere ausgeblendet werden. Selektive
Wahrnehmung kann durch Priming, Framing oder vergleichbare Effekte
hervorgerufen werden. Selektive Wahrnehmung beruht grundsätzlich auf der
Fähigkeit, Muster zu erkennen, einem grundlegenden Mechanismus des
menschlichen Gehirns. Das Gehirn ist ständig auf der Suche nach Mustern,
um neue Informationen in bereits vorhandene besser eingliedern zu
können. Dabei ist die selektive Wahrnehmung die eine unbewusste Suche
nach einem bestimmten Muster. Dies ist erforderlich, um die Fülle an
Informationen überhaupt bewältigen zu können. Argumente, die die eigene
Position stützen, werden dabei meist stärker wahrgenommen als solche,
die sie beschädigen. Umwelten, die es Menschen nicht möglich machen,
darin Muster zu erkennen, führen in der Regel zu einer großen Irritation
bzw. auch dazu, dass das Gehirn beginnt, Muster auf diese Umwelt zu
projizieren, die dann wenig bis nichts mit einer objektiven Betrachtung
zu tun haben (Stangl, 2018).
Bekanntlich ist der Sehsinn für bis zu achtzig Prozent der Informationen zuständig, die ein Mensch über seine Umgebung erhält, wobei weit über einhundert Millionen lichtempfindliche Zellen in der Retina die Signale in ein komplexes Netzwerk von Nervenzellen einliefern. Rosón et al. (2019) haben am Mausmodell untersucht, wie es das Gehirn es schafft, diese optischen Signale in sinnvolle Informationen zu übersetzen, und zeigten, dass schon in der ersten neuronalen Schaltstation zwischen Retina und Großhirn eine Verarbeitung und Gewichtung der Signale stattfindet, wobei das Sehen der Maus auf der parallelen Ausgabe von mehr als dreißig funktionellen Typen retinaler Ganglienzellen basiert. Nun konnten die Antworten einer spezifischen Gruppe von Neuronen als lineare Kombination von Eingaben von durchschnittlich fünf Typen von Neuronen vorhergesagt werden, wobei aber nur zwei von ihnen einen starken funktionellen Einfluss aufweisen, d. h., dass also schon auf dieser niederen Ebene eine deutliche Informationsreduktion stattfindet.
Gehirnaktivitäten zeigen sich auch in Form von Oszillationen, die synchron die Neuronen nach einem Impuls zeigen, wobei diese wiederum durch gegenläufige Oszillationen, gehemmt werden. Oszillationen bestimmen, wann was wahrgenommen wird, d.h., sie sind für unsere selektive Wahrnehmung verantwortlich, sie steuern die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis und zwar sehr individuell, da Menschen alle ihre eigenen subjektiven Erfahrungen, Interessen und Erwartungen haben, die zu einem großen Teil erlernt sind und bereits im frühen Kindesalter als Grundprinzip angelegt werden. Die Wellenberge der Schwingungen geben die Zeitspanne vor, in der Erregungen auftreten, wobei das Prinzip der Oszillation auf zwei Gegenpolen beruht: Erregung und Hemmung.
Wären die Neuronen immer in einem erregten Zustand, würden Menschen ständig alles, was um sie herum passiert, wahrnehmen, und es käme zu einem Wahrnehmungskollaps, denn die Informationsflut wäre einfach nicht verkraft- und verarbeitbar. Um die sinnvollen und lebensnotwendige Informationen selektiv verarbeiten zu können, gibt es hemmende Oszillationen, die Neuronen vorübergehend und zeitlich getaktet lahmlegen, sodass nur mehr die wichtigsten Neuronen in der Lage sind zu feuern. Die oszillatorische Hemmung hilft, den Fokus auf die situationsbezogen relevante Information zu legen, wobei es bedeutend mehr Oszillationen mit hemmenden Eigenschaften gibt als mit erregenden. Die Alpha-Oszillationen mit sechs bis zwölf Hertz treten etwa bei einer Meditation auf, oder generell bei Gehirnprozessen, bei denen die Aufmerksamkeit bewusst gesteuert wird. Die Hemmleistung der Alpha-Schwingung besteht nun darin, durch die bewusst gesteuerte Aufmerksamkeit viele andere Prozesse im Gehirn zu unterdrücken. Der Schlüssel der selektiven Gehirnprozesse ist daher die Hemmung.
Literatur
Paumkirchner, Petra (2010). Schwingungen im Gehirn. Die Presse vom 1.8.2010.
Rosón, Miroslav Román; Bauer, Yannik; Kotkat, Ann H.; Berens,
Philipp; Euler, Thomas; Busse, Laura (2019). Mouse dLGN Receives
Functional Input from a Diverse Population of Retinal Ganglion Cells
with Limited Convergence. Neuron, 102, 462-476.
Stangl, W. (2018). Stichwort: 'selektive Wahrnehmung'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/1708/selektive-wahrnehmung/ (2018-08-31)
WWW: https://lexikon.stangl.eu/4909/selektive-aufmerksamkeit/ (2018-08-31)
Wimber M., Heinze H.J. & Richardson-Klavehn A. (2010). Distinct
fronto-parietal networks set the stage for later perceptual
identification priming and episodic recognition memory. Journal of
Neuroscience, 30(40), 13272-13280.
https://www.tagblatt.ch/leben/kolumnen/kolumne-beziehungen-warum-sie-sich-wie-durch-eine-rosarote-brille-erinnern-ld.2311807
(22-07-02)
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