[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Unser Gehirn ist darauf ausgelegt,
möglichst viele Informationen gleich wieder loszuwerden.

Neuropsychologische Gedächtnisstudien

Es ist eine Mär, die von Wochenendtrainern gewinnträchtig vermarktet wird, dass der Mensch nur einen ganz kleinen Teil seiner neuronalen Ressourcen nutzt. Das ist Unsinn: es gibt nirgends im Gehirn Bereiche, die brachliegen. Wäre dem so, könnte man von dort Gewebe entnehmen, ohne Funktionseinbußen befürchten zu müssen. Dem aber ist nicht so.
Wolf Singer
Kürzlich erschienene Übersichten über neuropsychologische Gedächtnisstudien mit amnestischen Patienten und unterschiedlichen Säugetieren legen nahe, dass neurologisch und anatomisch distinkte Subsysteme des Gehirns auf Prozesse des deklarativen und nicht-deklarativen Gedächtnisses spezialisiert sind. Demnach scheinen der Hippocampus und benachbarte Hirnregionen in Interaktion mit dem Neocortex für das deklarative Gedächtnis relevant zu sein. Für die eher heterogene Ansammlung nicht-deklarativer Gedächtnisfähigkeiten spielt der Hippocampus dagegen offenbar keine Rolle. Sie fungieren weitgehend separat von neokortikalen Systemen. Die neuropsychologische bzw. biopsychologische Fundierung für die Separierung von Subsystemen innerhalb des deklarativen Gedächtnisses ist weniger eindeutig. Obwohl einige Fallberichte zu Gedächtnisleistungen amnestischer Patienten die Vermutung nahelegen, dass das semantische Gedächtnis bei gleichzeitiger Beeinträchtigung des episodischen Subsystems intakt geblieben ist, können die insgesamt verfügbaren Daten einen solchen Schluß nicht stützen: in den meisten Fällen ergaben sich neben Ausfällen im episodischen Gedächtnis auch größere Beeinträchtigungen im semantischen Gedächtnis. Ähnliche Schlußfolgerungen ergaben sich aus der methodenkritischen Betrachtung der Befunde pharmakologischer Studien mit normalen Probanden, die insgesamt eine Separierbarkeit beider Subsysteme nahezulegen schienen.


Neuron [Quelle: http://linux1.pae.asn-graz.ac.at/linux2/tutor-bu/images/NEURON1.GIF]

Die Schlüsseltechnologie der Neurowissenschaften ist bei neueren Forschungen meist die funktionelle Bildgebung, die den Forschern den Blick ins menschliche Gehirn eröffnet. Mit Hilfe der Kernspintomographie werden die Gehirnstrukturen, die den mentalen Fähigkeiten zugrunde liegen, mit hoher räumlicher Auflösung direkt sichtbar gemacht. Die Gehirnforscher interessieren sich vor allem für den Ort des neuronalen Geschehens: Wo genau werden Handlungen, Bewegungen, Gefühle, Erinnerungen verarbeitet und abspeichert? Mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie (fMRT) können die Wissenschaftler sichtbar machen, wie das Gehirn vermutlich denkt. Wenn jemand nach einer Telefonnummer fragt, wird im Gehirn hierfür ein wahres Feuerwerk gezündet, sodass sich messen lässt, wo die Aktivität am stärksten sind. Da aktive Gehirnregionen mehr Sauerstoff als andere brauchen, kommt es zu erhöhter Blutzufuhr. Solche aktuellen Veränderungen kann man bis auf wenige Millimeter genau lokalisieren und erhält mehrere Querschnitte des Gehirns, die mittels statistischer Verfahren berechnet und farblich sichtbar gemacht werden können. Die funktionelle MRT (fMRT) ist also eine Weiterentwicklung der klassischen MRT, mit der Stoffwechselvorgänge sichtbar gemacht werden können, die durch zelluläre Aktivitäten entstehen. Die aktivierten Strukturen lassen sich mit hoher räumlicher Auflösung darstellen. Mit dieser Methode konnte etwa der Placeboeffekt nachgewiesen werden, da auch Probanden, die ein Schein-Schmerzmittel einnahmen, Aktivitäten in jenen Hirnarealen zeigten, die die Endorphinausschüttung steuern, und dadurch auch weniger Schmerz empfanden. Siehe hierzu die Ergebnisse neuerer Gehirnforschung
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft (idw) 2003/11/15.


Der Fall Clive W.

Baddely, A.D. (1990). Human Memory. Theorie and practice. Boston: Allyn and Bacon.
Die neuropsychologische Gedächtnisforschung bietet viele Belege für die separate Funktionsweise von KZG und LZG. Baddeley (1990) beschreibt den Fall des hochtalentierten Musikers und Reporters Clive W., der im mittleren Erwachsenenalter an einer Hirnhautentzündung erkrankte. Die dabei aufgetretenen Hirnschädigungen führten zu schwerwiegenden Gedächtnisverlusten (Amnesie). Wenn seine Frau den Raum für wenige Minuten verließ, wurde sie von ihm bei der Rückkehr mit großer Freude begrüßt; er ging davon aus, dass er sie für Monate nicht mehr gesehen hatte. Neue Ereignisse und Namen von neuen Bekannten konnten nicht mehr dauerhaft gespeichert werden, was zeigt, dass das episodische Langzeitgedächtnis von der Hirnläsion besonders schwer betroffen war. Zusätzlich war aber auch sein semantisches Gedächtnis, insbesondere sein Wissen über die Welt, stark in Mitleidenschaft gezogen. So erkannte er Bilder seiner Universität nicht wieder und konnte auch nicht mehr angeben, wer "Romeo und Julia" verfaßt hatte. Im Unterschied zu seinem deklarativen Gedächtnis waren seine prozeduralen Gedächtnisfertigkeiten gut erhalten. Er spielte nach wie vor sehr gut Klavier, geriet allerdings anfangs bei Stükken in Schwierigkeiten, bei denen Teile wiederholt werden mußten. Es kam hier häufig vor, dass er "Endlosschleifen" produzierte, also die gleiche Passage unendlich oft wiederholte. Hier spielte ihm also sein defizitäres LZG einen Streich. Clive gelang es später, dieses Problem zu überwinden. Es bleibt allerdings unklar, wie er dies letztendlich bewerkstelligte.

Verloren in der Zeit

Ein Mann mittleren Alters sitzt entspannt in seinem Sessel und studiert sichtlich mit Interesse ein Heft von Reader's Digest. Er erzählt seinen Besuchern, welch faszinierende Geschichte er soeben gelesen hat und berichtet verschiedene Einzelheiten des Artikels. Am nächsten Tag liest der selbe Mann die selbe Geschichte mit grossem Interesse und erzählt den selben Besuchern, welch faszinierende Geschichte er soeben zum ersten Mal gelesen hat, und das wiederholt sich Tag für Tag ... Diesem Patienten H.M. war wegen einer lebensbedrohenden Epilepsie zum ersten Mal in der Medizingeschichte der Hippocampus in beiden Gehirnhälften neurochirurgisch entfernt worden. Offensichtlich war das langdauernde Abspeichern neuer Informationen durch die Zerstörung des Hippocampus unmöglich geworden. Im Gegensatz dazu erinnerte sich H.M. aber gut an Ereignisse, die vor der Operation lagen. Somit war der Zugang zu bereits gespeicherter Information intakt geblieben.

Karl Lashley hat erfolglos nach dem hypothetischen einzigen Ort im Gehirn gesucht, an dem sehr spezifisch alles Gedächtnis sitzen sollte. Die Entdeckung der deklarativen Gedächtnisstörung bei H.M. nach Abtragung des Hippocampus hat vielleicht noch ein letztes Mal diese Hypothese einer einzigen Gedächtnisstruktur im Gehirn wachgerufen. Nachfolgende Untersuchungen an weiteren Patienten und an Tieren haben Orte des deklarativen Gedächtnisses in verschiedenen, weit verstreuten Strukturen des Limbischen Systems und des Inferotemporalkortex gefunden. Diese Strukturen dienen hauptsächlich als Durchgangsstationen zur langdauernden Speicherung, die vermutlich in verschiedenen Regionen der Hirnrinde stattfindet. Das Lernen und Abspeichern von Handlungsabläufen und Gewohnheiten geschieht offensichtlich in wieder anderen Strukturen. Schliesslich existieren verschiedene Formen des Kurzzeitgedächtnisses, deren Sitz wir nur teilweise kennen. Somit laufen die verschiedenen Gedächtnisprozesse in weiten Bereichen des Gehirns verteilt ab. Zudem zeigt es sich immer mehr, dass Gedächtnisprozesse an die spezifischen Funktionen einzelner Gehirnstrukturen assoziiert sind. Zum Beispiel sind manche Strukturen des deklarativen Gedächtnisses nicht nur mit der Speicherung sondern auch mit dem Erkennen komplexer Seheindrücke beschäftigt (Inferotemporalkortex), während andere bei der Orientierung im Raum eine wesentliche Rolle spielen (Hippocampus im Limbischen System). Das Kleinhirn, als Ort des motorischen Lernens und der Abspeicherung prozeduraler motorischer Handlungen, ist eine der wesentlichen Strukturen für die Kontrolle der Bewegungen. Damit ist das Speichern und Verarbeiten von Informationen über kurze und lange Zeiträume hinweg eine Leistung unseres Gehirns, die sehr eng mit dessen anderen Funktionen verbunden ist.

Scoville, W.B. & Milner, B. (1957). Loss of recent memory after bilateral hippocampal lesions. J. Neurol. Neurosurg. Psychiat. 20, S. 11-21.


Der verlorene Seemann

Sacks, O. (1987). Der verlorene Seemann. In: Der Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte (42-68).

Diesem New Yorker Neurologen gelang übrigens auch ein wichtigen Vorstoß im Umgang mit Tourette-Patienten, was er am Beispiel von Witty Ticcy Ray beschrieb, einem talentierten Jazz-Schlagzeuger. Auch dieser nahm das "Wundermittel" Haloperidol ein, das zunächst dessen Tics unterdrückte. Doch gleichzeitig verlor er auch seine schnelle Reaktionszeit beim Tischtennisspielen und seine musikalische Genialität. Auch seine Lieblingsbeschäftigung das rasche Hinein- und Herausspringen an Drehtüren führte nun zu einem Desaster. Mit einem blauen Auge und gebrochener Nase saß er eine Woche später wieder im Behandlungszimmer von Oliver Sacks mit den Worten: "Nehmen wir an, Sie könnten die Tics vollkommen wegbekommen, was würde übrigbleiben? Ich bestehe aus Tics - es würde nichts übrigbleiben. Ein amerikanischer Seemann erkennt den gegenwärtigen Präsidenten der USA nicht und beharrt darauf, dass der vor zwanzig Jahren amtierende Präsident noch immer im Amt ist, obwohl er weiss, dass die Amtszeit von Präsidenten zeitlich beschränkt ist. Er erkennt und spricht mit seinem Bruder, betont aber bei jedem Besuch, dass dieser um zwanzig Jahre gealtert sei, seit er ihn das letzte Mal gesehen habe... Der Patient hat in seiner Jugend durch Alkoholmissbrauch in der Marine einen Teil des Limbischen Systems in seinem Gehirn zerstört und damit eine schwere Gedächtnisstörung erlitten, die es ihm unmöglich macht, neue Informationen für länger als einige Minuten zu behalten, hat aber noch Zugang zu Gedächtnisinhalten aus der Zeit vor seiner Krankheit (Sacks 1987). Dieser Patient ist schwerst krank und vollständig invalide, unfähig, in seiner neuen Umgebung ohne fremde Hilfe zu überleben. Er wird für den Rest seines Lebens hospitalisiert bleiben, wobei er sich höflich beklagt, dass jeden Tag neue Krankenschwestern Dienst tun ...

Oliver Sacks beschreibt in seinem Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" zwei seiner Patienten mit Korsakow-Syndrom. In beiden Fällen treten besonders der Verlust von innerer Realität, Gefühl und Lebenssinn in den Vordergrund. Die für die Identität so wichtige Urteilsfähigkeit, die zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, wirklich und unwirklich entscheidet, ist durch das ständige Vergessen und die Unfähigkeit, Ereignisse in Relation zueinander zu setzen, verloren. Der eine Patient fällt besonders durch ständiges oberflächliches Geplapper auf. Er erfindet in seinen phantasiereichen Geschichten die Welt um ihn herum immer wieder neu. Diese hektische, verzweifelte Suche nach einem Sinn zieht sich permanent durch sein Leben, sobald er mit Menschen zusammen ist und versucht, diese in sein Leben einzuordnen und ihnen dabei in nur wenigen Minuten zahlreiche Personen und Berufe zuordnet. Nur im Garten und ohne Ablenkung kommt dieser Mensch zur Ruhe.

Siehe auch Das Korsakow-Syndrom


Das perfekte Gedächtnis

James McNaugh (University of California, Irvine) fand eine Patientin mit einem hyperthymestischen Syndrom. Die 40-jährige Frau wird vom Forscher beispielsweise nach allen Osterfeiertagen seit 1980 gefragt. Binnen zehn Minuten schreibt die Patientin die Datumsangaben und ihre Erlebnisse an diesen Tagen nieder. Auch zwei Jahre später liefert sie identische Resultate. Ihre Erinnerungen sind sehr persönlich, also auf das eigene Leben und auf für sie interessante Erlebnisse bezogen. Allerdings tut sich die Patientin mit dem Auswendiglernen schwer und erbrachte auch in der Schule keine überdurchschnittlichen Leistungen. Ihr Leben mit diesem perfekten Gedächtnis beschreibt die Frau als "endlosen Film in meinem Kopf".

Quelle: Neurocase, Vol. 12(1), pp 35-49.

Die Bedeutung des präverbalen Zahlensinns

Starr et al. (2013) haben übrigens herausgefunden, dass nicht nur Fleiß allein für die mathematischen Fähigkeiten von Kindern verantwortlich ist, sondern dass auch die Gene einen großen Anteil daran haben, wobei sich schon bei Babys erkennen lässt, wie gut die künftigen mathematische Fähigkeiten ausgeprägt sein können. In der Studie wurden Kleinkinder von sechs Monateen mit einer einfachen Versuchsanordnung konfrontiert: Auf weißem Untergrund befanden sich schwarze Punkte, die sich in Anordnung und Anzahl veränderten, wobei man beobachtete, wie schnell die Kinder auf solche Änderungen reagierten. Bei einem weiteren Test im Alter von dreieinhalb Jahren wurde das Verständnis von Zahlen und Mengen an praktischen Beispielen erhoben. Es zeigte sich, dass schon Kleinkinder einen mehr oder minder ausgeprägten Zahlen- und Mengensinn haben, woraus sich Prognosen über die künftigen mathematischen Fähigkeiten ableiten ließen. Offenbar ist der präverbale Zahlensinn bei Säuglingen ein konzeptueller Vorläufer, der die menschliche mathematische Entwicklung begründet. Dieser präverbale Zahlensinn kann als ein Entwicklungsbaustein für die einzigartige menschliche Fähigkeit zur Mathematik dienen. Allerdings gibt es noch keinen direkten Beweis dafür, dass die numerischen Fähigkeiten von Säuglingen mit den mathematischen Fähigkeiten im späteren Kindesalter korreliert sind. Sicher ist, dass der präverbale Zahlensinn den Erwerb von numerischen Symbolen und mathematischen Fähigkeiten später erleichtert, wobei diese Beziehung auch nach der Kontrolle der allgemeinen Intelligenz Bestand hatte, was darauf hindeutet, dass der präverbale Zahlensinn einen einzigartigen Beitrag zu den mathematischen Fähigkeiten leistet. Diese Ergebnisse stützen die Hypothesen früherer Untersuchungen, dass die Mathematik auf einem intuitiven Zahlensinn beruht, der der Sprache vorausgeht.

Buchstaben- und Zahlenerkennen in beiden Hemisphären lokalisiert

Im menschlichen Gehirn übernehmen unterschiedliche Areale in der Regel unterschiedliche Aufgaben, denn während etwa Wörter und Sprache vorrangig in der linken Hemisphäre verarbeitet werden, ist für das Zahlenverständnis überwiegend die rechte Gehirnhälfte zuständig. Bisher vermutete man, dass die grundlegenden Prozesse des Erkennens von Buchstaben und Zahlen unterschiedlich in den Hirnhälften lokalisiert sind, doch konnte nun in eine Untersuchung zur visuellen Verarbeitung von Zahlen im menschlichen Gehirn konnte gezeigt werden, dass dabei beide Hirnhälften aktiv sind. In der Studie wurden den Versuchsteilnehmern jeweils für Sekundenbruchteile Zahlen, Buchstaben und Abbildungen von Alltagsgegenständen gezeigt und währenddessen ihre Hirnaktivität im Magnetresonanztomographen aufgezeichnet. Dabei konnten man die Region, in der die visuelle Verarbeitung von Zahlen abläuft, eindeutig eingegrenzt werden, denn das kleine Areal an der Unterseite des linken und rechten Schläfenlappens reagiert bei der Präsentation von Ziffern mit erhöhter Aktivität. Buchstaben oder andere Abbildungen, aber auch verfremdete Zahlen führen zu einer deutlich geringeren Hirnaktivität in diesem Bereich. Dieses Areal war bisher eine Art blinder Fleck im menschlichen Gehirn, denn es liegt unter Ohr und Gehörgang, umgeben von Knochen und Luft. Übrigens werden in diesen Arealen nicht nur Zahlen erkannt, sondern auch Gesichter und Objekte. Siehe dazu Lesenlernen reduziert Gehirnareale zur Gesichtserkennung.

Literatur
Grotheer, M., Herrmann, K. H., and Kovács, G. (2016). Neuroimaging Evidence of a Bilateral Representation for Visually Presented Numbers. The Journal of Neuroscience, 36, 88-97.

Gehirn und Zahlenverständnis

Die bildhafte Vorstellung von Zahlen und die abstrakte Fähigkeit, zwei Zahlen zu addieren, beanspruchen völlig unterschiedliche Areale im Gehirn und erst die Kombination der beiden Zahlenmodule ermöglicht das Rechnen. Ein Areal des Gehirns führt exakte Berechnungen durch und gibt den Zahlen Namen, ist also mit Sprache verknüpft. Im anderen Areal befindet sich der eher intuitive Zahlensinn, eine Art mentale Zahlenreihe, mit dem Grössenordnungen abgeschätzt werden. So können manche Patienten nach einem Gehirnschlag nicht mehr entscheiden, ob 9 näher bei 10 oder 5 liegt, und dies, obwohl ihnen einfache Additionen wie 7 plus 3 gleich 10 überhaupt keine Probleme bereiten. Andere Patienten können sich hingegen nicht entscheiden, ob 2 plus 2 eher 3 oder 4 ergibt. Werden sie jedoch gefragt, ob sie als Ergebnis eher 3 oder 9 vorziehen würden, wählen alle die 3.

Stanislas Dehaene (Institut National de la Santé et de la Recherche Medicale, Orsay) überprüfte diese Hypothese gemeinsam mit Elizabeth Spelke (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge) in einem Rechenexperiment. Dafür wählten sie zweisprachige Studenten (Englisch und Russisch), die in einem ersten Experiment einfache Rechenaufgaben lösen mussten ("Ist 53 plus 68 gleich 121 oder 127?"), also eine Aufgabe, die die exakte Kalkulation erfordert. Eine Schätzung erfordert hingegen die Frage, ob das Ergebnis von 53 plus 68 eher bei 120 oder 150 liegt. Man instruierte die Studenten entweder auf Englisch oder Russisch und testete sie danach in derselben oder in der anderen Sprache. Keine Rolle spielte die Sprache bei der zweiten Kategorie von Aufgaben, wo die Studenten nur abschätzen mussten, welche Antwort zutrifft: Egal ob der Test in der gleichen oder in der anderen Sprache wie die Instruktion durchgeführt wurde, benötigten die Studenten etwa gleich lang für die Lösung.

Wurden die Studenten auf Englisch instruiert und auf Englisch getestet, antworteten sie rund eine Sekunde schneller als wenn die Sprache gewechselt wurde. Auch als die Forscher den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben erhöhten, änderte sich nichts: Mussten die Studenten das Resultat einer Wurzelgleichung nur abschätzen, spielte die Sprache keine Rolle; bei komplizierten exakten Additionen hingegen war die Sprache der entscheidende Faktor, wie lange sie zur Lösung brauchten. Das Lösen von exakten Aufgaben scheint daher eng mit sprachlichen Fähigkeiten gekoppelt, , während die Fähigkeit, Grössenordnungen zu schätzen, unabhängig von der Sprache ist.

In einem zweiten Experiment wurden die Freiwilligen gleichzeitig mit einem Kernspintomographen untersucht. Mussten die Studenten exakte Additionen ausführen, war jene Region im linken Stirnlappen besonders aktiv, wo das Gehirn auch Tätigkeits- und Hauptwörter verarbeitet. Hatten die Freiwilligen hingegen eine Schätzaufgabe zu lösen, leuchtete in beiden Hirnhälften eine Region im Scheitellappen auf, die das Gehirn für räumliche und visuelle Aufgaben nutzt, wo es geistig Objekte rotiert, es die Aufmerksamkeit lenkt und Finger- und Augenbewegungen gesteuert werden.

Dass Fingerbewegungen und der nichtsprachliche Zahlensinn am gleichen Ort gespeichert sind, erklärt, warum Säuglinge ab einem Alter von sechs Monaten ihre Finger benutzen, um Änderungen in der Anzahl von Objekten festzustellen. Sie besitzen also einen Zahlensinn, lange bevor sie sprechen können, und sind in dieser Phase Rhesusaffen, Schimpansen, Vögeln und Ratten ähnlich, die solche einfachen "Rechnungen" ebenfalls beherrschen. Erst mit dem Sprechenlernen kommt beim Kind das exakte Rechenmodul hinzu, das sich der Mensch im Verlauf der Evolution mit der Sprache angeeignet hat. Erst die Kombination der beiden gaben dem Menschen schliesslich die Fähigkeit, mit Zahlen zu jonglieren und komplizierte mathematische Probleme zu lösen.

Die neuen Erkenntnisse von Dehaene und Spelke könnten auch den Matheunterricht beeinflussen. Denn in jenen Schulen, wo Schüler immer noch ein Stöckli nach dem anderen rechnen müssen, wird nur die sprachabhängige, eher mechanische Mathefähigkeit trainiert. Die Entwicklung des Zahlensinns hingegen wird durch das drillmässige Pauken vernachlässigt. Spelke fordert daher, in der Ausbildung mehr Wert auf die mathematische Intuition zu legen. Einstein würde es ihr danken.

Dehaene, Stanislas (1999). Mathematik und Hirn: Der Zahlensinn". Birkhäuser Verlag.

Klugheit aus dem Bauch

Mit immer raffinierteren Methoden versuchen Psychologen unser Unterbewußtsein zu ergründen. Thomas Hill und Pawel Lewicki von der amerikanischen University of Tulsa haben jetzt bei Experimenten herausgefunden, dass es unsere (Vor-)Urteilsbildung entscheidend beeinflussen kann und dabei mitunter "schlauer" ist als unser Bewußtsein. Besonders deutlich zeigt dies ein Versuch, bei dem Probanden die Aufgabe hatten, nach Abschluß eines kurzen Trainings "intuitive" Urteile über den Charakter von Personen abzugeben, deren Portrait ihnen jeweils präsentiert wurde. Zur Vorbereitung wählten Hill und Lewicki aus einer amerikanischen Tageszeitung neun Portraits von etwa gleichaltrigen und vom Gesichtsausdruck her ähnlichen Männern aus. Sie achteten dabei darauf, dass bei allen Köpfen der Abstand zwischen Kinn und Augen genauso groß war wie der zwischen Augen und dem im Bild sichtbaren oberstem Haar-Rand - nämlich jeweils zehn Längeneinheiten. Dies sind die Proportionen eines durchschnittlichen Gesichts. Von jedem dieser Portraits erzeugten die Psychologen nun mit Computerhilfe eine "gestauchte" und eine "gelängte" Variante: Nach dem "Stauchen" entstanden "Kurzgesichter" mit einem Längenverhältnis von neun zu elf. Nach dem "Strecken" ergaben sich "Langgesichter" mit einem Verhältnis von elf zu neun. Die Deformationen waren klein genug, dass sie nicht bewußt als solche wahrgenommen werden konnten. Auch waren alle Gesichtsvarianten mit jeweils insgesamt 20 Einheiten gleich lang. Mit diesem Bildmaterial führten Hill und Lewicki zunächst ein Training durch: Sie zeigten 22 Probanden jeweils zwei kurze, zwei normale und zwei lange Gesichter, die nach einem Zufallsverfahren aus dem Material ausgewählt waren, und behaupteten, die Bilder stellten College-Professoren dar. Während die Probanden die Portraits begutachteten, gaben die Forscher jeweils einen kurzen Kommentar zu der Persönlichkeit des "Professors" ab, der angeblich von deren "Studenten" stamme: Einige seien in der Bewertung der Studienleistungen großzügig, andere normal, andere streng. Die Zuordnung dieser Attribute erfolgte jedoch nicht wahllos. Hill und Lewicki unterteilten ihre Prüflinge vielmehr in zwei Gruppen: Den einen erzählten sie jeweils beim Betrachten der Kurzgesichter, diese seien streng, und attestierten jeweils den Langgesichtern Großzügigkeit. Den Probanden der anderen Gruppe erzählten sie genau das Gegenteil - nämlich dass die Langgesichter streng und die Kurzgesichter großzügig seien. Den Normalgesichtern sprachen sie in beiden Gruppen jeweils durchschnittlich faires Benotungsverhalten zu. Nach diesem Vortraining zeigten die beiden Psychologen ihren Prüflingen nun jeweils ein von diesen bislang noch nicht gesehenes Kurz-, Normal- und Langgesicht und baten sie, ihrer "Intuition" folgend ein Urteil über den Charakter dieser Personen abzugeben. Der vermuteten "Benotungsfairness" sollten sie dabei einen Wert zwischen "Eins" (sehr unfair) und "Zehn" (sehr fair) geben. Die Ergebnisse bestätigten Hills und Lewickis Vermutung aufs beste: Diejenigen Probanden, denen Kurzgesichter als großzügig vorgestellt worden waren, bewerteten das neue Kurzgesicht im Durchschnitt mit 7,1, das neue Langgesicht hingegen mit 3,4. Die Probanden der anderen Gruppe hingegen gaben dem neuen Kurzgesicht eine Durchschnittsnote von 5 ,3, dem Langgesicht hingegen von 7,0. Die neuen Normalgesichter erhielten in beiden Gruppen fast die gleiche Durchschnittsbewertung von 6,0. Als die Forscher die Teilnehmer im Anschluß fragten, worauf sie ihr Urteil gegründet hätten, sagten die meisten: "Ich habe einfach nur geraten." Sie ahnten nicht im geringsten, kommentiert Lewicki, "dass sie Regeln gelernt hatten". Auch bei anderen Versuchen - etwa beim Verfolgen und Vorhersagen eines komplizierten Bewegungsmusters, das eine Figur auf einem Bildschirm beschrieb - konnten die Psychologen ihre These erhärten: Unser Unterbewußtsein ist in der Lage, Bewertungskriterien zu "erarbeiten", die so komplex sein können, dass wir diese rational kaum zu verstehen vermögen.
Quelle: GEO 2009/92, S. 190.

Negatives wird automatisch im Gedächtnis gespeichert

Eine mögliche Erklärung für das Phänomen, warum sich die Menschen viel häufiger an negative Erfahrungen erinnern als an positive, erbrachten zwei Gedächtnisforscherinnen aus Cambridge. Elizabeth Kensinger und Suzanne Corkin zeigten 28 Teilnehmern einer Versuchsanordnung jeweils zwei Sekunden lang Begriffe, die nach ihrer Wirkung auf Menschen in drei Gruppen eingeteilt waren:

  • Emotionsgeladene Reizwörter wie "Entführung" oder "Raubmord".
  • Negativ beetzte Wörter wie "Kummer" oder "Sarg", die aber nicht schockieren sollten,
  • Neutrale Wörter, die keine Gefühlsregung auslösen.

Zehn Minuten später wiederholten sie diese Wörter gemischt mit einigen neuen Begriffen. Die Versuchspersonen sollten nun angeben, welche davon sie wieder erkannten und ob diese Begriffe sie persönlich berührten. Mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomographie machte man dabei die neuronalen Aktivitäten im Gehirn sichtbar, die nötig sind, Begriffe dauerhaft im Gedächtnis zu verankern. Außer dem Areal des Hippocampus, das an einer Gedächtnisleistung stets beteiligt ist, wurde abhängig von der Art des Begriffes auch die Amygdala, die für die emotionale Bewertung von Eindrücken zuständig ist, aktiviert. Bei negativ besetzten Begriffen beobachteten sie eine Aktivierung des präfrontalen Cortex, der für das bewusste Auswendiglernen wichtig ist.

Die Probanden dieser Gruppe erinnerten sich an die negativ besetzten genau so gut wie an die emotionsgeladenen, obwohl hier die Verstärkung durch die Amygdala fehlte. Diese Erinnerungsfähigkeit wurde aber deutlich geschmälert, wenn die Probanden nicht ihre volle Aufmerksamkeit auf die Begriffe lenken konnten. Das Gedächtnis, das von der Amyddala kontrolliert wird, wird offensichtlich nahezu unbewusst gebildet, möglicherweise wird diese Gedächtnisleistung durch die Ausschüttung von Stresshormonen des limbischen Systems begünstigt. Dabei wirkt diese Region als "innere Alarmanlage" für Gefahren, die sogar funktioniert, wenn die Probanden zwischendurch immer wieder abgelenkt werden.

Das Sprachhirn unterscheidet zwischen Wortarten

Wiener Wissenschaftler am Institut für Hirnforschung wiesen nach, dass Abstrakta und Konkreta nicht nur sprachwissenschaftliche Kategorien sind, sondern dass diese Unterscheidung auch neuronale Grundlagen hat. Die Verarbeitung konkreter Wörter beruht demnach auf einer anderen Art von Gehirnaktivität als die von abstrakten Wörtern, indem an der kognitiven Verarbeitung von Konkreta mehr Gehirnbereiche beteiligt sind als an der Verarbeitung von Abstrakta. Bei Konkreta liegen die beteiligten Gehirnbereiche bisweilen weit auseinander, sodass eine synchrone Arbeitsweise verschiedenster Hinnbereiche vorliegt, insbesondere findet ein Austausch zwischen linker und rechter Gehirnhälfte statt. Abstrakta hingegen lösen nur lokal begrenzte Aktivitäten im Gehirn aus und die Information fließt im Wesentlichen nur von der linken in die rechte Gehirnhälfte.

Daraus ergibt sich auch eine praktische Konsequenz für das Lernen: Wörter, die einen regen Austausch zwischen den beiden Gehirnhälften auslösen, kann man sich leichter merken. Konkreta werden in unserem Gehirn meist auch mit Bildern verbunden. Tatsächlich stellt sich ja bei Wörtern wie Maus, Mann, Schiff sehr leicht ein passendes Bild ein, während ein Abstraktum wie Sehnsucht oder Freiheit bildlos bleibt oder bestenfalls durch Symbole repräsentiert werden kann,.

Es wurde auch festgestellt, dass die Verarbeitung von bildhaften Zeitwörtern zu mehr Austausch zwischen den Gehirnhälften führt als die Verarbeitung von nicht bildhaften Zeitwörtern. Abermals wurde bestätigt, dass die alte Vorstellung, die sprachliche Aktivität finde in exakt lokalisierbaren Zentren statt, nicht haltbar ist. Zwar finden die Basisaktivitäten in den schon lange bekannten Zentren statt, allerdings müssen für komplexere Verarbeitungsprozesse weit voneinander entfernte Gehiruregionen ihre Aktivitäten synchronisiere, wobei diese kurzlebigen funktionellen Netzwerk nur etwa 200 Millisekunden lang existieren.

Gestörte Gehirnentwicklung in der Pubertät

Nach Beverley A. Wright & Steven G. Zecker (Northwestern University) sind Legasthenie oder andere Sprachbehinderungen möglicherweise die Folge einer Verzögerung der Gehirnentwicklung. Sie beobachteten, dass sich die für manche Sprachkompetenzen zuständigen Regionen im Gehirn ab der Pubertät bei manchen Kindern nicht mehr weiterentwickeln. Zahlreiche sprachliche Defizite, die bei Erwachsenen mit Lernproblemen beobachtet wurden, könnten daher auf abnormale Verteilungen in der weißen Gehirnsubstanz zurückgeführt werden. Die Forscher stellten fest, dass Kinder mit Beeinträchtigungen zunächst drei Jahre zurück waren, sich aber soweit bessern konnten, dass sie Kindern ohne Behinderung gleich kamen. Jedoch um das zehnte Lebensjahr herum bemerkt man einen Stillstand in der weiteren Entwicklung der Kinder mit Lernproblemen. Da diese Verzögerungen der Gehirnentwicklung auch mit bestimmten Auffälligkeiten einhergehen wie einem verspäteten Spracherwerb oder einem verspäteten Erlernen motorischer Fertigkeiten wie Fahrrad fahren, könnten frühe Tests zu rechtzeitiger Förderung solcher Kinder führen.

Quelle: Brain Development, Puberty: Key to Learning Problems? Northwestern University News Release June 22, 2004.
WWW: http://www.northwestern.edu/univ-relations/media_relations/releases/2004/06/learning-text.html (04-06-25)

 


Kurioses zur Gedächtnisverbesserung

Vor einigen Jahren geisterte eine Studie der Universität Reading durch die Medien, in der drei Gruppen von Ratten zum Trinken gezwungen worden waren: eine Gruppe erhielt Champagner, eine andere Normalalkoholisches, die dritte Alkoholfreies. Von den alkoholisierten Ratten der Champagner-Gruppe schafften es mehr, aus einem Labyrinth herauszufinden. Danach stand in der Pressemeldung der Wissenschaftler lapidar: Champagner kann helfen, das Gedächtnis zu verbessern. Auch wenn es keinerlei Beweise gab, dass dieses Studienergebnis auf den Menschen übertragbar ist, taucht dieses Experiment immer wieder in den Medien auf.


Was ist übrigens Neuropsychologie?

Die Neuropsychologie befasst sich mit den Auswirkungen von Hirnschädigungen auf die Psyche, die Fähigkeiten und das Verhalten der Betroffenen, was eine genaue Diagnostik bis zur Therapie der auftretenden Störungen umfasst. Zu den relevanten Funktionen, die untersucht werden, gehören unter anderem das Denkvermögen, die Aufmerksamkeit und Konzentration, das Gedächtnis, die Sprache, die motorischen Fähigkeiten, die möglicherweise veränderte Persönlichkeit und die Wahrnehmung, wobei auch emotionale oder dementielle Störungen einbezogen werden. Die klinische Neuropsychologie  beschäftigen sich mit der Erforschung der neuronalen Mechanismen, die psychischen Funktionen zugrunde liegen, um ein vertieftes Verständnis der Funktionsmechanismen des menschlichen Handelns, der Denkprozesse, der Wahrnehmung oder auch des Gedächtnisses. Diese Funktionen können durch neurologische Ereignisse, wie z.B. einen Schlaganfall, gestört werden. Die Neuropsychologie wendet das Wissen an, das man über das Gehirn und die Kognitionen haben, um zu identifizieren, welche Einbußen mit welcher Hirnschädigung an welcher Stelle des Gehirns einhergehen. Sie nutzt dabei Erkenntnisse der Psychologie, um gemeinsam mit den Betroffenen daran zu arbeiten, die eingeschränkten Fähigkeiten zu identifizieren, zu trainieren, im besten Fall wiederherzustellen.



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