Ess-Brechsucht (Bulimia Nervosa)*)
Gerlinghoff, M. & Backmund, H. (2000). Was sind Ess-Störungen. Ein kleines Handbuch zur Diagnose, Therapie und Vorbeugung. Weinheim: Beltz.
Gruber, Ursula (2006). Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Johannes Kepler Universität Linz: PPP der jku.
Karwautz, Andreas (2001). Konzepte der stationären Behandlung von Essstörungen im Jugendalter. Ein kritischer Überblick. Online: www.univie.at/neuropsychiatrie/
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Lamers, L. & Mann, R. (Hrsg.) (2004). Essstörungen. Arbeit mit Selbsthilfegruppen. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Ludwig Boltzmann Institut für Frauengesundheitsforschung (2004). HBSC Factsheet Nr. 4.Die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern. Wien: Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Online: http://www.univie.ac.at/lbimgs/
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Habermas, Tilmann (2002). Substanzenmissbrauch und Ess-Störungen. In Oerter, R.; Montada, L. (Hrsg), (2002), Entwicklungspsychologie (S. 847 858). Weinheim: Beltz.
Stangl, W. (2004): Arbeitsblätter. Online: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/
SUCHT/Essstoerungen.shtml (06-06-27)
Krankheitsbild
Als Ess-Brech-Sucht bezeichnet man regelmäßige Heißhungerattacken über einen längeren Zeitraum hinweg. Im Gegensatz zur Esssucht schämen sich die Opfer nach dem Anfall dermaßen für ihren "Kontrollverlust", dass sie durch selbst induziertes Erbrechen ihren Fehler wieder gut machen und eine Gewichtszunahme verhindern wollen. Auch BulimikerInnen haben also, teils panische, Angst vor Gewichtszunahme, sie üben Gewichtskontrolle nicht nur durch Fasten, sondern vor allem durch Sich-Übergeben und die Einnahme von Abführ- oder Entwässerungsmitteln, aus. Süchtige verfolgen damit das Ideal eines attraktiven, schlanken, sozial anerkannten und "unauffälligen" Körperbaus und jagen nicht, wie vergleichsweise AnorektikerInnen, in späteren Stadien deutlichem Untergewicht nach. Allerdings tritt bisweilen auch bei in etwa der Hälfte der Magersüchtigen eine Phase der Bulimie ein, wenn das permanente Hungern letzten Endes ihren Willen übersteigt (vgl. Habermas 2002, S. 849).
Medizinisch ausschlaggebendes Symptom für das Vorliegen einer psychischen Krankheit ist die Regelmäßigkeit der Essanfälle: Es treten zumindest zwei Anfällen/Woche über drei Monate hinweg auf. Weiters ist die Durchführung nachfolgender gewichtsreduzierender Maßnahmen von Bedeutung, wobei die Wissenschaft zwei Typen von Bulimie unterscheidet. Beim Purging-Typ wird eine Gewichtszunahme ausschließlich durch die "klassische" Gegenmaßnahme des Erbrechens zu verhindern gesucht, während der Non-Purging-Typ als Gegenmaßnahmen außerdem noch extremes Fasten und übertrieben Sport wahrnimmt. BulimikerInnen leben meist in chaotischen Wohnverhältnissen, sind ungenau und schulisch nicht sonderlich engagiert, im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit kommt es in manchen Fällen zum Stehlen von Lebensmitteln oder Geld sowie zu Verschuldung.
Ess-Brechsüchtige entwickeln sich zu wahren MeisterInnen im Verbergen ihrer seelischen Probleme und meist erst über die Jahre hinweg manifestieren sich körperliche Anzeichen wie trockene Haut, brüchige Haare und spröde Fingernägel, ausgelöst durch Kaliummangel und gestörten Körperwasserhaushalt, geschwollene Speicheldrüsen und aufgedunsenes Gesicht, Ausbleiben der Monatsblutung, Karies und Zahnfleischschwund. Für Erziehungsberechtigte ist eine Bulimie meist schwer erkennbar, denn die Betroffenen entwickeln immer ausgeklügeltere Systeme, um ihr Tun zu verheimlichen. Es gilt, die vielfältigen, eine Sucht begleitenden Verhaltensweisen wahrzunehmen und zu lesen. Richtig interpretiert ergibt sich in vielen Fällen auch ein deutliches körperliches Alarmsignal: Durch die dauernde Überreizung kann es zu einer Schwellung der Ohrenspeicheldrüsen kommen, die Kranken bekommen "Froschbacken", für welche sie die kreativsten Erklärungsmöglichkeiten finden (vgl. Gerlinghoff & Backmund 1999, S. 72f).
Neben psychotherapeutischen Massnahmen kommen in der Behandlung von Bulimikerinnen oft auch Anti-Depressiva zum Einsatz, die den Serotonin-Haushalt regulieren, allerdings wirken diese Medikamente nicht in allen Fällen. Nach neueren Untersuchungen spielt bei der Bulimie auch Dopamin eine wichtige Rolle, so dass offensichtlich auch das Belohnungssystem im Gehirn an dieser Erkrankung beteiligt sein dürfte.
Soziale Beziehungen
Bulimie ist in den seltensten Fällen nach außen hin erkennbar. Die PatientInnen weisen meist ein normales Körpergewicht oder gar leichtes Übergewicht auf. Weiters nehmen sie am gemeinsamen Essen mit Peergroups (Schuljause, Lunch) teil, wenn auch die von ihnen verzehrten Mengen weit hinter den Portionen der anderen zurück bleiben. BulimikerInnen sind also sozial relativ unauffällig, was ihnen durchaus ein Anliegen ist. So lange Betroffene das Gefühl haben, bei Heißhungerattacken ungestört essen und anschließend erbrechen zu können, unterhalten sie über einen langen Zeitraum hinweg Freundschaften und sogar sexuelle Beziehungen, was Magersüchtige meist ablehnen. Man kann BulimikerInnen im Allgemeinen anfänglich sogar als extrovertiert, kontaktorientiert und meist beliebt klassifizieren. Sie zeigen nach außen hin auch ein gewisses Selbstbewusstsein, um ihre Probleme und Unsicherheiten in jedem Fall abzudecken (vgl. Habermas 2002, S. 849 ff).
Dennoch ist eine bulimische Erkrankung extrem schambesetzt die Betroffenen ekeln sich vor sich selbst und haben das Gefühl starker Abnormität ihres Verhaltens. Sie tun nicht nur alles, um ihr voran gegangenes Verhalten wieder rückgängig zu machen, sondern sie ziehen sich deshalb bei längerer Krankheitsdauer auch Schritt für Schritt aus ihrem sozialen Kontext zurück. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es also auch im Rahmen einer Ess-Brech-Sucht zu sozialer Isolation und zu depressiven Verstimmungen. Weitere seelische Folgen einer länger andauernden Krankheit sind, neben immer wieder auftretenden magersüchtigen Phasen, ein auffallendes Ambivalenzverhalten zwischen dem Suchen extremer Nähe und unvermittelter Distanz, rigoroses Schwarz-Weiß-Denken, Perfektionismus, Selbstabwertung, Selbsthass, Verleugnung und Fassadendenken (vgl. Lamers & Mann 2000, S. 18f).
Binge Eating
Es wurde bereits zu Beginn der Ausführungen angedeutet: Abzugrenzen ist die Bulimie von der Fresssucht (Fettsucht) sowie dem so genannten Binge-Eating-Disorder. Im Rahmen dieser Essstörung kommt es zu wiederholten Episoden von Heißhungerattacken (mindestens 2x wöchentlich über 6 Monate), welche für einen erheblichen Leidensdruck, ein schlechtes Gewissen und massive Schamgefühle sorgen. Allerdings erbrechen Binge-Eater die aufgenommene Nahrung nicht, sondern sie stellen sich voll von Selbsthass der aufgenommenen Kalorienmenge, welche sich auf bis zu 10.000 Kalorien belaufen kann. Ohne regulierende Maßnahmen kommt es im Zeitverlauf zur stetigen Gewichtszunahme, welche erneute Selbstzweifel und Schamgefühle auslösen. Binge Eating wurde bereits vor dem Auftreten der ersten Fälle von Bulimie wissenschaftlich beschrieben, und zwar 1961 (vgl. Gerlinghoff & Backmund 2000, S. 18f).
Gleich sind der Bulimie und dem Binge-Eating-Syndrom die Symptome der Heißhungeranfälle. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um schnelleres Essen ohne Genuss oder bewusstes Kauen bis zum unangenehmen Völlegefühl. Große Nahrungsmengen werden so ohne Hunger und ohne Sättigungsgefühl aufgenommen. Aus Verlegenheit essen die Süchtigen in diesen Situationen stets alleine, Ekelgefühle, Depremiertheit, Schuldgefühle begleiten jeden Moment eines Essanfalls.
Auftreten und Krankheitsverlauf
Bulimie tritt, im Gegensatz zur Anorexie, meist erst nach ersten sexuellen Erfahrungen auf. Dieses sexuelle Erleben ist allerdings nicht Auslöser für eine Bulimie, im Gegenteil. Die Erkrankten negieren ihren weiblichen Körper nicht radikal, sondern wollen schöner, für den (Sexual)Partner attraktiver sein. Die Figur soll nach sozialem Ideal geformt sein, wobei frühreife Jugendliche in diesem Kontext öfter Diät halten als Gleichaltrige. Auch hinter der Bulimie steckt der Versuch eines Übergangs von der unverantwortlichen Kinderposition in der Familie hin zu der eines Erwachsenen. Die Adoleszenten beobachten Erwachsene, meist Frauen, und eignen sich die für sie geltenden Normen und Rituale an. Im Zuge dessen interpretieren viele später Kranke diverse Techniken der Selbstkontrolle als obligatorisch für ein Dasein als Erwachsener, Wille, Ausdauer und Beständigkeit werden als Ideal gewertet.
Bulimie als Reaktion auf das familiäre Umfeld
Die zweite große Gruppe an BulimikerInnen stammt aus auseinander fallenden Familien, die durch offene Konflikte gekennzeichnet sind. In einer unsicheren familiären Situation, voll von gegenseitigen Beschuldigungen, Abwertungen und widersprüchlichen Botschaften, entwickelt sich ebenfalls eine starke Verlustangst, der Aufbau von Selbstbewusstsein wird durch mangelnde Unterstützung untergraben. Nicht selten geraten Betroffene auch zwischen die Fronten der Konfliktparteien (Eltern, neue Partner von Geschiedenen, Geschwister) und müssen als menschliche "Pufferzone" versuchen, zu vermitteln. Daher kontrollieren oder verstecken Erkrankende ihre Gefühle, stellen auch hier ihre Bedürfnisse zurück. Das Essen als Problembewältigungsstrategie ist nicht mehr bedürfnisorientiert, sondern dient als Mittel der Ablenkung, der Belohnung und des Trostes, der Entspannung. Auch können durch die verborgene Sucht die traditionellen Normen der Familie aufrecht erhalten werden, die Kranken funktionieren und fallen nicht auf (vgl. Lamers & Mann 2000, S. 74).
Wie bereits erwähnt, gleichen die medizinischen Symptome der Ess-Brech-Sucht jenen der Anorexie, mit Ausnahme des Kriteriums Körpergewicht. Ist für die Magersucht Untergewicht Voraussetzung, ist ein dürrer Körper bei BulimikerInnen eher die Ausnahme. Das Essen und Erbrechen erzeugt auf Dauer jedoch wesentlich schwerwiegendere körperliche Schäden als permanentes Fasten. Es kommt zu Verletzungen und Entzündungen von Magen und Speiseröhre, der Speicheldrüse, in der Mundhöhle und, durch Dysfunktion, auch an diversen weiteren Organen (Leber, Galle, Niere).
Essstörungen entstehen meist aus dem familiären Kontext heraus, durch bewusstes Einwirken der Erziehungsberechtigten in der Folge aber nicht verhindert werden können. Die Krankheiten stellen einen enormen Leidensdruck für die Betroffenen dar, welcher durch andauernde Selbstzweifel, Selbsthass und Unsicherheit verstärkt wird. Da jeder Essstörung solche selbstzerstörerischen Gedanken zuzurechnen sind, ist es von oberster Priorität, dass sich die soziale Umwelt der Kranken tolerant, ja liebevoll verhält und den Geplagten suggeriert, dass sie so geliebt werden, wie sie sind auch mit Blockaden und all ihrem Suchtverhalten.
Auf längere Sicht führen alle Formen des gestörten Essverhaltens zu gravierenden körperlichen Schäden, eine medizinische Beratung ist daher im fortgeschrittenen Stadium anzuraten. Zur Überwindung der Süchte ist aber psychologische Begleitung noch viel wichtiger. Im Gespräch kann neues Selbstbewusstsein auf-, der Hass auf die eigene Person abgebaut werden, die Kranken entwickeln Perspektiven und Lebensmut. In den günstigsten Fällen erklärt sich die Familie zu einer Familientherapie bereit. Eine stationäre Behandlungen wird durch den Grad der Erkrankung bestimmt: Wie weit sind die psychosomatischen Folgen fortgeschritten und ist die Erkrankte noch ins soziale Umfeld integriert? Wenn Essen bereits den Tagesrhythmus diktiert, empfielt sich eine stationäre Behandlung. Sind die ersten Wochen überstanden, dann schließt daran eine ambulante Betreuung an, denn das neue Verhalten muss gefestigt werden. Eine Heilung der Störungen ist daher möglich, eine gewisse Normalität im Verhalten wieder zu erlangen, wahrscheinlich. Allerdings bedarf der Bewältigungsprozess von Magersucht und Bulimie einer langen Zeit und intensiver Arbeit der Kranken an ihrem Selbst, unterstützt von geduldigen Eltern, Freunden und Autoritätspersonen.
Siehe auch
- Arten von Essstörungen
- Die Rolle der Erziehung bei Essstörungen
- Risikogruppen für Essstörungen
- Körperkult Jugendlicher und Ernährung
- Schulische Präventionsmöglichkeiten bei Essstörungen
- Präventionsprogramme bei Essstörungen
Quelle: Diese Arbeitsblätter entstammen der Studie von Ursula Gruber "Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention".
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