[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Die Phasen der Dependenz (Abhängigkeit) in der Kindheitsentwicklung 

Wie viele Kinder werden auf eine Art und Weise erzogen,
dass sie denken könnten, ihr Name sei "Nein"?

Literatur

Dalheimer, V. (2000). Das Modell von der Dependenz – und seine aktuelle Valenz.
WWW: http://www.oeggo.at/ngcms/
htdocs/resources/downloads/
dalheimer_vroni_Dependenz.pdf  (07-03-05) gekürzt!

Spengler, M., Brunner, M., Damian, R. I., Lüdtke, O., Martin, R. & Roberts, B. W. (2015). Student characteristics and behaviors at age 12 predict occupational success 40 years later over and above childhood IQ and parental socioeconomic status. Developmental Psychology, 51, 1329–1340.

Stangl, W. (2022, 9. August). Wenig angepasste Kinder sind später im Beruf erfolgreicher. arbeitsblätter news.
https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/wenig-angepasste-kinder-sind-spaeter-im-beruf-erfolgreicher/


Siehe auch
Geschichte der Kindererziehung - Erziehung und Kultur
Wertewandel in der Kindererziehung - Neuere Entwicklungen in der Kindererziehung
Auswirkungen von Schichtunterschieden auf die Erziehung - Mögliche Ursachen dieser Unterschiede
Erziehungsstile - Begriffsbestimmung und Begriffsabgrenzungen
Praktische Tipps zur Kindererziehung


Die Phase der Dependenz (Abhängigkeit) ist jene, in der ein Kind am Beginn seines Lebens zur Gänze von einer Bezugsperson – zumeist der Mutter – abhängig ist. Ihre Aufgabe ist es, die Gesamtheit aller körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu befriedigen, weil sonst das Überleben gefährdet ist. Das Kind entwickelt dabei narzisstische Allmachts-Phantasien, es nimmt die Mutter als Teil seiner selbst war und gewinnt seine Identität über die vollständige Identifizierung mit ihr. Es übernimmt die Stimmungen der Mutter erlebt Trennung als Zurückweisung und reagiert darauf mit Verzweiflung und Schmerz.  

Mit der zunehmenden Entwicklung der Beweglichkeit entfernt es sich zwar gerne, um neue Räume zu durchforschen, sucht dann aber immer wieder den Blickkontakt oder meint, sich verstecken zu können, indem es sich die Augen zuhält. In dieser Phase formuliert es seine eigenen Handlungen und Wünsche noch nicht in der Ich- Form, sondern benutzt den Namen, den man ihm gegeben hat.

Mit etwa zwei Jahren beginnen die Sätze mit „ich“ und ein weiteres wichtiges Vokabel findet Eingang in der Wortschatz: das „Nein“. Darin manifestiert sich die erste Variante der Counter-Dependenz  (Gegenabhängigkeit. Das Nein ist im Trotzalter aber noch unspezifisch : das Kind kann nämlich genau – auch laut und nachdrücklich - artikulieren, was es absolut nicht will, ohne aber schon zu wissen, was es will. Geduldige Mutter können hier unermüdlich Alternativen zur Verfügung stellen: alles wird mit einem dezidierten „Nein“ beantwortet – bis hin zur Frage, was es denn jetzt eigentlich sein soll, auf die ein ebenso bestimmtes „Nein“ folgt.

Eine wichtige Erfahrung ist in dieser Phase ist die Entdeckung des Kindes, eigene Wünsche zu haben und manchmal auch Ziele zu verfolgen, die nicht von anderen kommen, sondern aus dem eigenen Willen heraus entstehen – oder zumindest sich gegen die Macht der Erwachsenen zu stellen und deren Vorgaben für eine gewissen Zeit außer Kraft zu setzen. Diese Phase erfordert viel Geduld und Geschicklichkeit, sie ist aber noch relativ harmlos gegenüber dem, was in der Pubertät und in der frühen Adoleszenz kommt -

die zweite Variante der Counter-Dependenz. Sie ist geprägt von unzähligen Auseinandersetzungen, die darauf abzielen, einerseits eigene Vorstellungen zu entwickeln und zu artikulieren (die natürlich ganz genau das Gegenteil von dem sein müssen, was die Eltern wollen), gleichzeitig aber die Vorgaben der Eltern genau zu erforschen, sie gründlich in Frage zu stellen, sie nachhaltig zu verunsichern und dabei auszuprobieren, was sie aushalten.

Hier haben Eltern die schwierige Aufgabe, sich gleichzeitig abgrenzen und emotional zur Verfügung stehen zu müssen. Kein Streit geht ohne Vorwürfe ab, und die sind manchmal kaum zu parieren.  Dazwischen gibt es lange Zeiten des Wartens, weil sich die Jugendlichen zur Stärkung zurückziehen – entweder in ihre Zimmer oder in Banden Gleichaltriger, wo das gemeinsame Schicksal, völlig verständnislose Eltern zu haben, beklagt wird, was eine neue Bindung herstellt. Diese Gruppierungen sind oft von wesentlich strengeren Mustern und Reglements geprägt als das eigene Elternhaus. Das Charakteristische an dieser Phase ist die Tatsache, dass beide Seiten relativ ratlos sind, weil die Kommunikation völlig fruchtlos scheint. Genau das ist aber Voraussetzung dafür, dass Eigenständigkeit im Denken und freier Wille sich entwickeln können. Die Fehler, der hier von Seiten der Eltern oft begangen werden, sind das Ausweichen vor dem Konflikt oder das vereinnahmende Entgegenkommen. In beiden Fällen können die Grenzen nicht erspürt und getestet werden, das Resultat ist die Suche danach in einem anderen sozialen Kontext (Schule, Nachbarschaft usw.).

In aller Regel kann man damit rechnen, dass in diesem Kampf irgendwann neue Interessen auftauchen: in mehr oder weniger intellektualisierter Form wendet sich die Aufmerksamkeit von den Eltern ab und Gleichaltrigen zu. Die beziehungsscheue Variante dieser Phase kann sich in einem unersättlichen Lesehunger äußern: vom Liebesroman bis zu schwierigen politischen Schriften wird alles verschlungen. Oft tragen die ersten Beziehungen mit Gleichaltrigen noch deutliche Spuren der eben erst abgeschlossenen Auseinandersetzungen mit den Eltern, manchmal werden sie auch vorrangig als Auffanglager eingerichtet, aber selbst wenn die Ablösung von den Eltern schon bewältigt ist, kann sich durch die erste Verliebtheit eine Irritation einstellen, die uralte Bedürfnisse nach Geborgenheit reaktiviert.

Die Beziehung zu den Eltern kann – bei besonders gelungener Entwicklung - in eine Phase der Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) übergehen. Sie können – wenn sie das können – zu wichtigen Freunden werden und hilfreich sein, ohne als einzige Alternative dazustehen, und sie müssen für sich herausfinden, wozu und in welchem Ausmaß sie ihre Kinder brauchen. Gegenseitiges Vertrauen – und damit gegenseitige Abhängigkeit - wird sich nur dort einstellen, wo beide einander so wichtig sind, dass sie die Verbindung einander weder einseitig noch gegenseitig „aufkündigen“.

Anhand einer Längsschnittstichprobe untersuchten Spengler et al. (2015) den Einfluss des sozioökonomischen Status der Eltern, der Intelligenz in der Kindheit und von Schülermerkmalen und -verhaltensweisen wie Unaufmerksamkeit, schulischer Anspruch, Verantwortungsbewusssein, Minderwertigkeitsgefühl, Ungeduld, Pessimismus, Regelverstöße und Missachtung der elterlichen Autorität sowie die von Lehrern bewertete Lernbereitschaft auf den beruflichen Erfolg und das Einkommen.

Mit Hilfe von Regressionsanalysen und Pfadanalysen wurden die direkten und indirekten Auswirkungen dieser Prädiktoren auf den beruflichen Erfolg bewertet, wobei sich direkte und indirekte Einflüsse von Schülereigenschaften wie Verantwortungsbewusstsein, Bereitschaft zu Regelverstößen und Missachtung der elterlichen Autorität sowie die von Lehrern bewertete Lernbereitschaft auf den beruflichen Erfolg zeigten. Man kann daher annehmen, dass aufmüpfige Kinder, die sich ihren Eltern öfter widersetzten, als Erwachsene erfolgreicher waren, denn sie hatten bessere Berufe bei höherer Qualifikation und verdienten im Durchschnitt mehr. Dabei waren die starke Persönlichkeit und der Wille eher ausschlaggebender für diesen Erfolg als etwa der Status der Eltern oder die Intelligenz der Kinder. Offenbar werden solche Kinder mehr von ihren persönlichen Zielen als von Erwartungen anderer angetrieben, und tun schon früh das, was sie selbst für richtig halten. Daher besitzen sie auch später eine höhere Durchsetzungskraft im Erwachsenenleben, während Kinder, die aus Angst vor Problemen oft nachgeben oder sich anpassen, ein ähnliches Verhalten vermutlich auch später im Berufsleben zeigen, und daher nicht so erfolgreich sind.


Siehe dazu auch Abhängigkeit und Counterdependenz (Gegenabhängigkeit) in Anfangsphasen von Gruppen.



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