Elterliche Fürsorge – ein soziales Grundmotiv
Warum kümmern sich Eltern um ihre Kinder?
Wir können die Liebe der Eltern nicht nachvollziehen,
bis wir selbst Eltern werden.
Henry Ward Beecher
Leder, M. (2004). Elterliche Fürsorge – ein vergessenes soziales Grundmotiv. Zeitschrift für Psychologie, 212, 10-24.
http://de.wikipedia.org/wiki/
Bindungstheorie (09-02-02)
Siehe dazu auch
Geschichte der Kindererziehung
Erziehung und Kultur
Wertewandel in der Kindererziehung
Neuere Entwicklungen
in der Kindererziehung
Auswirkungen von Schichtunterschieden
Mögliche Ursachen von Unterschieden
Erziehungsstile
Begriffsbestimmung und Begriffsabgrenzungen
Grenzen und Auswirkungen
der Erziehung
Grundlegende Merkmale
von Erziehung und Unterricht
Praktische Tipps zur Kindererziehung
Wie mache ich es richtig?
Die Emotion Fürsorglichkeit ist nach Leder (2004) bis jetzt nie intensiv untersucht worden. Diese geringe Beachtung der elterlichen Fürsorge in der Psychologie ist aus mehreren Gründen überraschend, denn die Motivation zu elterlicher Fürsorge ist von ähnlich fundamentaler Bedeutung wie die Sexualität. Keine Spezies, die eine Form von individueller Bindung kennt, kann ohne sie auskommen, wobei die elterliche Fürsorge das unverzichtbare Gegenstück zur kindlichen Bindung bildet, welche in der Entwicklungspsychologie seit vielen Jahrzenten intensiv erforscht wird. Bindungsbezogene kindliche Verhaltensäußerungen wie z.B. die verschiedenen Formen des Weinens können aber ohne ein Verständnis dessen, woran sie appellieren, nicht verstanden werden.
Anforderungen an ein Modell der Fürsorgemotivation
Die Empfänger von Fürsorgeleistungen sind die Kleinkinder und Babys, denn sie brauchen sehr viel Unterstützung von Eltern, in der Regel den weiblichen Elternteil. Die Kinder müssen ernährt und vor Gefahren geschützt werden. Wegen der biologischen Existenz, sind die Eltern hochmotiviert, die Fürsorge für ihre Kinder zu gewähren, denn keiner würde so viel für ein anderes ohne Gegenleistung tun. Das kann man auch „genetische Egoismus nennen“, denn man versucht die eigenen Gene zu verbreiten (vgl. Leder 2004, S.11). „Aus evolutionsbiologischer Perspektive lassen sich folgende funktionelle Erfordernisse an die Motivation zu elterlicher Fürsorge bzw. Brutpflege formulieren“.
„Die Fürsorgemotivation sollte…
… auch spezifische Reize ansprechen.
… eine gewisse Autonomie voraussetzen.
… mit dem Entstehen von sekundärer Bindung anwachsen.
… Verhalten hervorrufen, das geeignet ist, Bindung herzustellen und zu bekräftigen.
… begrenzt sein und zwar bezüglich der Adressatenkreises und bezüglich der Quantität“ (Leder 2004, S.11f).
Nicht nur Hormone lösen Brutpflegeverhalten aus
Bisher ging man davon aus, dass das Fürsorgeverhalten der Mütter durch ihre veränderte hormonelle Ausstattung hervorgerufen wird. Es ist jedoch bekannt, dass auch jungfräuliche Nagerweibchen nach der Geburt ein Elternverhalten entwickeln, das mit der Zeit dem mütterlichen Verhalten entspricht, also ohne vorherige Ausschüttung von Schwangerschaftshormonen. Obwohl das mütterliche Verhalten bei postpartalen Weibchen und die damit verbundenen neuronalen Schaltkreise gut erforscht sind, sind die neuronalen Mechanismen, die dem Erwerb des mütterlichen Verhaltens ohne vorherige Erfahrung zugrunde liegen, noch nicht geklärt. Glat et al. (2022) konnten nun am Mausmodell zeigen, dass die Entwicklung des mütterlichen Pflegeverhaltens als Reaktion auf die erste Exposition der Jungen durch eine Aktivierung des anterioren cingulären Cortex initiiert wird, dass es also einen neuronalen Schaltkreis gibt, der dieses Pflegeverhalten auslöst. Männliche Mäuse entwickelten übrigens unter den gleichen experimentellen Bedingungen kein Fürsorgeverhalten, obwohl sie prinzipiell dazu in der Lage wären, denn wenn ein Mäusepaar zusammen gehalten wird, kümmert sich auch der Vater um den Nachwuchs, und das, obwohl sich männliche Mäuse prinzipiell aggressiv gegenüber fremden Jungtieren verhalten.Sei immer freundlich zu deinen Kindern, denn sie sind diejenigen, die dein Altersheim aussuchen.
Phyllis Diller
Phänomenologische Plausbilität
„Um überzeugend sein zu können, muss ein Versuch, die
Fürsorgemotivation in ihrer kausalen Struktur zu explizieren, aber nicht
nur funktionellen Erfordernissen genügen, sondern er sollte auch
phänomenologisch plausibel sein. Phänomenologisch ist klar, dass es
sowohl von der wahrgenommenen Bedürftigkeit des Anderen als auch von der
eigenen Fürsorge- bzw. Hilfsbereitschaft abhängt, ob man in einer
konkreten Situation Unterstützung gewährt“ (Leder 2004, S.12f).
Es gibt aber auch Fürsorgeappetenz und Fürsorgeaversion, die
einen Abgleich der empfundenen Bedürftigkeit und der
Fürsorgebereitschaft erfordern:
Die empfundene Bedürftigkeit ist kleiner als Fürsorgebereitschaft
Dieser Zustand heißt Fürsorge-Appetenz. In dieser Phase ist die Fürsorgebereitschaft hoch, jedoch man hat keine Gelegenheit. Man befindet sich auf der Suche nach geeigneten Empfängern der eigenen Fürsorge.
Die empfundene Bedürftigkeit ist größer als Fürsorgebereitschaft
„Übersteigt die Empfundene Bedürftigkeit des Anderen die eigene Fürsorgebereitschaft, so möchte man der Situation entfliehen. Die Not des Anderen ruft sozusagen nach einem und verlangt anscheinend mehr Engagement, als zu leisten man willens oder in der Lage ist“.
Die empfundene Bedürftigkeit entspricht der Fürsorgebereitschaft
Wenn die empfundene Bedürftigkeit und die Fürsorgebereitschaft in gleicher Höhe sind, ist das das ideale Verhalten.
Die Fürsorge-Appetenz bzw. Aversion bestimmt das Bedürfnis, ob man sich den Fürsorgeempfängern nähern oder sie meiden soll (vgl. Leder 2004, S.13).
Die Gesinnung der Elternliebe
Es gibt noch eine andere Überlegung zur Elternliebe als spezifisch menschlicher Form elterlicher Fürsorge: Die Fürsorgemotivation. Diese wird Pflegeinstinkt genannt und man betrachtet sie als mächtigsten Instinkt. Der Pflegeinstinkt bildet den wichtigsten Bestandteil der Gesinnung der Elternliebe und beinhaltet die angeborene Fürsorgemotivation und drei weitere Bestandteile (vgl. Leder 2004, S. 22f):
- Die Beziehung zwischen Eltern und Kind
- Die Identifikation der Eltern mit ihrem Kind
- Die Investition der Eltern in ihr Kind.
Synchronisation der Gehirnaktivitäten
Neuere Untersuchungen (Nguyen et al., 2024) haben gezeigt, dass sich bei Kleinstkindern die Gehirne von Mutter und Kind synchronisieren, denn in einem Experiment beobachteten die Kinder ihre Mutter, die entweder positiv oder negativ auf bestimmte Objekte reagierte. Anschließend wurden den Kindern die zuvor gezeigten Objekte zum Spielen angeboten. Babys, deren Gehirn sich mit dem der Mutter synchronisierte, richteten sich bei ihrer Spielentscheidung eher nach den mütterlichen Vorgaben, d. h., sie zogen jenes Spielzeug vor, auf das die Mutter positiv reagiert hatte und mieden solches, das mit negativen Reaktionen verknüpft war. Wie synchron die Gehirnaktivität war, hing dabei auch von der Qualität der Kommunikation zwischen Mutter und Nachwuchs ab, wobei soziale Signale wie häufiger Augenkontakt mit einer erhöhten Synchronität und einem besseren Lernerfolg einhergingen. In den ersten Lebensmonaten hängen der Aufbau einer stabilen Bindung mit den Bezugspersonen, die emotionale Entwicklung und das frühe Lernen eng zusammen. Wenn Mutter und Kind dabei in intensivem Kontakt sind, gleicht sich aber nicht nur deren Verhalten an, sondern auch deren Muster in den Gehirnaktivitäten. Über den Körperkontakt spürt das Kind den Herzschlag der Mutter, das Streicheln, Sprechen, Wiegen und Tragen erzeugt Rhythmen, die den Erregungspegel des Kindes beeinflussen und es meist beruhigen. Diese Synchronisation der Rhythmen ermöglicht es, dass sich Bezugsperson und Kind aufeinander einstellen und eine Bindung entsteht, wobei diese Synchronisation die Welt für das Baby vorhersagbarer macht. Dieser Takt der unmittelbaren Umgebung ist wohl eine erste Orientierungshilfe, mit der Neugeborene lernen, die überwältigenden Fülle an Sinneseindrücken zu ordnen. Dieses Aufeinandereinpegeln zweier Menschen zeigt sich somit nicht nur im Verhalten, sondern auch Herzfrequenz und Hormonspiegel gleichen sich bei beiden an. Nguyen et al. (2018) haben in Studien gezeigt, dass sich die Rhythmen der Gehirnströme aneinander angleichen, wenn sich eine Mutter mit ihrem Kind beschäftigt, d. h., beide sind auf einer Wellenlänge bzw. im selben Rhythmus. Das erhöht offenbar auch die Aufnahmebereitschaft für neue Informationen. So schauten sich in einer Studie neun Monate alte Säuglinge gemeinsam mit der Versuchsleiterin Bilder von Spielzeug auf einem Computermonitor an. Wenn die Versuchsleiterin direkten Blickkontakt mit dem Kind aufnahm, bevor das Spielzeug auf dem Bildschirm erschien, glich sich nicht nur der Rhythmus der Aktivität im Gehirn an, sondern die Kinder reagierten auch mit deutlich höherer Aufmerksamkeit auf die Bilder, als wenn beide einfach gemeinsam die Gegenstände ohne spezielle Zuwendung betrachteten. In einem weiteren Experiment mussten Fünfjährige mit ihren Müttern Puzzles lösen, wobei je mehr beide aufeinander eingingen, desto mehr passten sich deren Gehirnströme aneinander an. Je synchroner die neuronalen Rhythmen waren, desto schneller konnten sie übrigens auch die Rätsel lösen. Außerdem waren jene Kinder, die stärker von der Mutter eingebunden wurden, von sich aus aktiver bei der Lösung der Aufgaben.
In einer neueren Studie untersuchten Nguyen et al. (2024) daher, ob interpersonale neuronale und verhaltensbezogene Synchronie während der Eltern-Kind-Interaktion mit den Bindungsrepräsentationen von Eltern und Kind zusammenhängt. Dazu führten 140 Eltern (74 Mütter und 66 Väter) und ihre Kinder (im Alter von 5-6 Jahren; 60 Mädchen und 80 Jungen) kooperative und individuelle Problemlösungsaufgaben durch, während die frontalen und temporalen Regionen mit funktioneller Nahinfrarotspektroskopie (bei der auf einer Kappe angebrachte Sensoren aufzeichnen, wie stark die jeweiligen Gehirnregionen mit Sauerstoff versorgt werden) gemessen wurden. Die Hirnscans bestätigten, dass die Zusammenarbeit tatsächlich zu einer höheren neuronalen Synchronisation führt als das alleinige Lösen einer Aufgabe: Eltern und Kinder waren beim gemeinsamen Puzzeln neuronal stärker auf einer Wellenlänge, wobei die Hirnareale, die helfen, sich in den anderen hineinzuversetzen, und jene, die für die Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstregulation zuständig sind, synchronisiert waren. Beim Vergleich der Hirndaten zeigte sich zudem, dass die Hirnströme der Eltern-Kind-Paare nicht immer gleich synchron waren, denn das Ausmaß der neuronalen Synchronie variierte je nach Eltern-Kind-Beziehung, wobei überraschenderweise die Gehirne von Vätern und Müttern mit unsicherer Bindungserfahrung stärker mit ihren Kindern synchron waren. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine hohe neuronale Synchronie nicht immer positiv bewertet werden sollte, da eine mittlere Synchronie möglicherweise ein besseres Zeichen für eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung ist. Frühere Studien deuten darauf hin, dass unsicher gebundene Eltern eher Schwierigkeiten haben, sich auf die Interaktion mit ihren Kindern einzulassen, und dass solche Eltern-Kind-Paare daher weniger gut synchronisiert sind. Diese Befunde deuten darauf hin, dass bei Eltern-Kind-Paaren mit unsicher gebundenen Müttern eine stark ausgeprägte neuronale Synchronisation für eine gelingende Interaktion besonders notwendig ist, d.h. diese Paare müssen sich mental mehr anstrengen, um gut miteinander zu harmonieren. Neuronale Synchronisation kann also ein nützlicher, aber anstrengender Bindungsmechanismus sein.
Literatur
Glat, Micaela, Gundacker, Anna, Cuenca Rico, Laura, Czuczu, Barbara, Ben-Simon, Yoav, Harkany, Tibor & Pollak, Daniela D. (2022). A prefrontal cortex-thalamus accessory circuit shapes maternal behavior in virgin female mice. The EMBO Journal, 41, doi:10.15252/embj.2022111648.
Nguyen,
T., Kayhan, E., Schleihauf, H., Matthes, D., Vrticka, P., & Höhl,
S. (2018). The effects of caregiving and attachment on neural synchrony
in mother-child interactions. 4th International Conference of the
European Society for Cognitive and Affective Neuroscience, Leiden,
Niederlande.
Nguyen, Trinh, Kungl, Melanie T., Hoehl, Stefanie, White, Lars O. &
Vrticka, Pascal ( 2024). Visualizing the invisible tie: Linking
parent–child neural synchrony to parents’ and children’s attachment
representations. Developmental Science, doi:10.1111/desc.13504.
Stangl, W. (2024, 4. Mai). Zeigt sich die Bindung zwischen Eltern und Kindern auch im Gehirn? was stangl bemerkt ….
https://bemerkt.stangl-taller.at/zeigt-sich-die-bindung-zwischen-eltern-und-kindern-auch-im-gehirn.
Stangl, W. (2022, 6. November). Nicht nur Hormone lösen Brutpflegeverhalten aus. Psychologie-News.
https://psychologie-news.stangl.eu/5187/nicht-nur-hormone-loesen-brutpflegeverhalten-aus.
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