[werner.stangl]s arbeitsblätter 
 

Zusammenspiel von Induktion, Deduktion und Abduktion beim Lernen des Kindes

Hoffmann (1998) stellt anhand eines Beispiels von Vygotskij das Zusammenspiel von Induktion, Deduktion und Abduktion als Verallgemeinerungsprozeß in einer Kreisbewegung dar:

"Nehmen wir als Beispiel die Geschichte der Entwicklung der hinweisenden Gebärde. Sie spielt, wie zu sehen ist, eine besonders große Rolle in der Sprachentwicklung des Kindes und ist überhaupt in entscheidendem Maße die uralte Grundlage aller höheren Verhaltensformen. Bei der hinweisenden Gebärde handelt es sich zunächst einfach um eine mißglückte, auf einen Gegenstand gerichtete Greifbewegung, die die eigentlich intendierte Handlung sichtbar macht. Das Kind versucht, nach einem zu weit entfernten Gegenstand zu greifen. Seine Hände sind zum Gegenstand hingestreckt, und die Finger führen in der Luft eine Greifbewegung aus - diese Situation bildet den Ausgangspunkt jeder weiteren Entwicklung. Hier entsteht zum ersten Mal jene hinweisende Bewegung, die wir wohl als hinweisende Geste schlechthin bezeichnen dürfen. Diese kindliche Bewegung ist ein objektives Zeigen auf einen Gegenstand, und mehr nicht.
Kommt nun die Mutter dem Kind zu Hilfe und legt seine Bewegung als ein Hinweisen aus, verändert sich die Situation. Die hinweisende Gebärde wird eine Geste für andere. Als Antwort auf die mißglückte Greifbewegung des Kindes entsteht eine Reaktion, und zwar nicht am Gegenstand, sondern in einem anderen Menschen. Es sind also die anderen, die dieser mißglückten Greifbewegung einen Sinn unterlegen. Und erst in der Folge, wenn das Kind die mißglückte Greifbewegung bereits mit der objektiv gegebenen Situation in Zusammenhang bringt, kann es selbst beginnen, sich zu dieser Bewegung zu verhalten, als sei sie ein Zeigen. Nun ändert sich allerdings die Funktion der Bewegung: Aus der auf den Gegenstand gerichteten Bewegung wird eine an einen anderen Menschen gerichtete Bewegung, also ein Verständigungsmittel; das Greifen wird zum Zeigen. Das führt zu einer Reduzierung und Verkürzung der Bewegung selbst und zur Herausbildung jener Form der hinweisenden Gebärde, die wir bereits ëGeste schlechthiní nennen dürfen. Doch um zu einer Geste schlechthin zu werden, muß diese Bewegung zunächst ein Zeigen schlechthin sein. Sie muß objektiv alle Funktionen besitzen, die Voraussetzung des Zeigens und der Geste für andere sind. Sie muß also zunächst für die Mitmenschen als Zeigen deutbar sein. Erst als letztes versteht also das Kind seine eigene Geste. Bedeutung und Funktion der Geste werden anfangs von der objektiven Situation und erst dann von den Mitmenschen des Kindes geschaffen. Die hinweisende Gebärde beginnt also als bewegungsmäßiger Hinweis auf etwas, was von anderen verstanden wird, und wird erst später für das Kind selbst zum Zeigen." (Vygotskij 1992, 234)

Der hier beschriebene Lernprozeß läßt sich in folgendem Modell darstellen, das mit der Peirceschen Terminologie die einzelnen Schritte zum einen weiter differenziert und anders klassifiziert, und zum anderen eine mögliche Fortsetzung des Lernvorgangs andeutet:

Schritt

Aktion

Einstellungstyp

1.

Kind greift nach einem Spielzeug. IàM

Intention

2.

Greifbewegung mißglückt.

3.

Mutter interpretiert die Greifbewegung als Zeigen. I=F

Abduktion

4.

Mutter gibt dem Kind das Spielzeug.

 

5.

Kind interpretiert (4) als Reaktion auf (1).

Abduktion

6.

Kind formuliert die Hypothese: Wenn (4) die Reaktion auf (1) ist, dann (3).

Abduktion

7.

Kind formuliert die Hypothese: Die Greifbewegung ist ein Zeichen für meine Intention, etwas haben zu wollen. I=F

Abduktion

8.

Kind folgert: Wenn die Hypothese aus (7) richtig ist, dann muß das Greifen nach etwas Eßbarem genauso als Zeichen interpretierbar sein.

(I=F) Þ (Ià8) = (Fà8)

Deduktion

9.

Kind testet die in (8) gewonnene Implikation der Hypothese und weitere Implikationen.

Induktion

10.

Die Beobachtung der Ergebnisse aus (9) führen zu einer Bestätigung der Hypothese.

Überzeugung

11.

Spätere Beobachtung: Bestimmte Zeigebewegungen führen zu unerwarteten Interpretationen auf seiten der Umwelt.

Zweifel

12.

Die Annahme einer bestimmten Differenzierung von Zeigebewegungen würde diese Interpretationen erklären, etc.

Abduktion, etc.

Beschränken wir uns auf die Perspektive des Kindes, dann läßt sich die Abfolge der Schritte (1.) bis (9.) in einer Kreisbewegung darstellen. Ausgangspunkt ist der unten dargestellte "Zweifel", der sich zwischen den Elementen eines Überzeugungssystems oder aus dem Verhältnis von Beobachtungen zu einem solchen Überzeugungssystem ergeben kann:

Schlußfolgerndes Denken bei Kindern

Quelle: http://www.uni-bielefeld.de/idm/personen/mhoffman/papers/GDM/Image1.gif

Nachdem das Kind im Schritt (10.) zu der Überzeugung gelangt ist, daß die gebildete Hypothese einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad besitzt, kommt es zu einer Modifikation des vorher gegebenen Überzeugungssystems derart, daß die neue Überzeugung integriert ist. Damit ist eine erste Runde des Verallgemeinerungsprozesses abgeschlossen. Die folgenden Schritte beschreiben das Auftauchen eines neuen Zweifels, mit dem der Prozeß von neuem beginnt:

Schlußfolgerndes Denken bei Kindern

Quelle: http://www.uni-bielefeld.de/idm/personen/mhoffman/papers/GDM/Image2.gif

"Fast mapping" bei Kleinkindern und Hunden

Kleinkinder lernen ab dem zweiten Lebensjahr im Schnitt zehn neue Wörter pro Tag, wobei sie die Bezeichnungen von den Dingen in ihrer Welt nicht nur durch explizite Erläuterung erlernen, sondern auch, indem sie sich die Bezeichnung von Gegenständen im Ausschlussverfahren erschließen. In einem klassischen Experiment fordert man Kinder auf, ein "chromfarbenes Tablett zu bringen, und nicht ein rotes". Lässt man die Kinder anschließend zwischen einem roten und einem olivgrünen Tablett auswählen, so bringen sie das olivgrüne, auch wenn sie den Namen "chromfarben" noch nie gehört hatten. Dieser Prozess, ungefähre Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Namen und Dingen zu entwickeln, wird als "fast mapping" (schnelles Zuordnen) bezeichnet. Kinder sind dadurch in der Lage, sich die Bezeichnung von Gegenständen im Ausschlussverfahren zu erschließen, und die auf diese Weise erworbene Kenntnis in ihren Wortschatz zu integrieren.

Dieser Mechanismus des "schnellen Zuordnens" oder "fast mapping", also Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Dingen und Bezeichnungen zu entwickeln, ist nach neuesten Untersuchungen nicht nur eine dem Menschen eigene Fähigkeit, sondern kann auch bei Hunden vorkommen. Ein besonders begabter Bordercollie beherrschte etwa die Namen von mehr als 200 verschiedenen Gegenständen kannte, wobei sein "Vokabular" damit dem sprachtrainierter Affen, Delfine, Seelöwen oder Papageien vergleichbar ist.

Quelle: Science, 11. Juni 2004

 

Siehe auch:

Schlußfolgerndes Denken bei Kindern
Deduktives Denken
Induktives Denken
Analoges Schließen

Kurioses aus der Forschung

Quellen

Hoffmann, Michael (1998). Erkenntnistheoretische Grundlagen des Lernens: Lernen als Verallgemeinerung. Überarbeitete Fassung eines auf der GDM Jahrestagung 1998 in München gehaltenen Vortrages.
WWW: http://www.uni-bielefeld.de/idm/personen/mhoffman/papers/GDM.html (00-08-05)

Krist, H. (2013). Development of intuitive statics: Preschoolers’  difficulties judging the stability of asymmetrically-shaped objects are not due to extraneous task demands. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 45, 27-33.

Oerter, Rolf & Dreher, Michael (1995). Entwicklung des Problemlösens. In Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Weinheim: PVU.

  

inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::


navigation: