Wir wissen heute, dass das ernstzunehmende
Programm einer materiellen Reduktion
in der Psychologie gescheitert ist.
Norbert Bischof
Die Grundlagen der wissenschaftlichen Psychologie
In der wissenschaftlichen Psychologie dominiert heute noch ein empiristisch-nomologisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis, das in den letzten Jahrzehnten von einigen Wissenschaftlern aus verschiedenen Gründen in Frage gestellt wurde. Zentral sind dabei der Logische Empirismus und der daraus ableitbare Kritische Rationalismus. Dieser zusammenfassende Text ist in wesentlichen Teilen einem Skript der Universität Regensburg entnommen.
Logischer Empirismus
Wesentliche wissenschaftstheoretische Grundlagen für die wissenschaftliche Psychologie bildete das Paradigma des logischen Empirismus. Der logische Empirismus ist jene wissenschaftstheoretische Strömung, die sich aus dem Wiener Kreis um Moritz Schlick entwickelt hat. Er bemüht sich um die Propagierung eines "wissenschaftlichen'' Weltbildes, das Kontrollierbarkeit, Überprüfbarkeit und Erfahrungsbezug der Aussagen fordert, also genau jene Merkmale, die in der Psychologie auch heute noch als methodenkonstituierend angesehen werden.
Grundlage dieser Anschauung ist der logische Positivismus, nach dem am Anfang jeden Erkennens das unmittelbar erlebnismäßig Gegebene (der Erlebnisinhalt) steht. Mit den Mitteln der induktiven Logik soll dann nachgewiesen werden, dass und wie die einzelnen Gegenstände der Erkenntnis auf das Gegebene zurückführbar sind. Breuer zitiert folgende Kernaussagen des Wiener Kreises:
- Reduktion der Philosophie auf die Wissenschaftstheorie;
- Unterscheidung von analytischen (Logik und Mathematik) und synthetischen (empirischen) Wissenschaften;
- Logizismus (Reduktion der Mathematik auf Logik);
- Physikalismus (Reduktion aller empirischer Disziplinen auf die Physik).
Als Sinnkriterium wurde die Verifizierbarkeit von Sätzen gefordert, deren Gültigkeit sich prinzipiell logisch herleiten lassen muß; bei den empirisch-synthetischen Sätzen kommt außerdem noch das Aufzeigen von erlebnismäßigen Gegebenheiten hinzu. Dazu dienen Protokollsätze der Form "Die Person X hat zur Zeit t am Ort O das und das wahrgenommen.''
Bereits die klassischen Empiristen versuchten, menschliches Wissen durch Induktion zu erklären: Man gelangt durch induktive Verallgemeinerung von wahrgenommenen Gegebenheiten zur Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten. Nach Ansicht der logischen Empiristen kann dagegen das Wissen nicht mit theoriefreier Sinneserfahrung oder Beobachtungen beginnen, sondern es sind schon theoretische Konzeptionen (Annahmen, Begriffe etc.) vorauszusetzen. Das Induktionsprinzip wird von den logischen Empiristen daher nur zur Begründung und nicht zur Herleitung von Erkenntnissen eingesetzt: Vorhandenes theoretisches Wissen soll durch Elementaraussagen (Protokollsätze) mithilfe des Regelwerks der induktiven Logik gerechtfertigt werden. Diese Art der Verifikation wurde später in abgeschwächter Form nur noch als Prüfbarkeit bezeichnet. Der logische Positivismus unterscheidet analytische Sätze und Basissätze. Aus Basissätzen und analytischen Sätzen können weitere Sätze abgeleitet werden.
Problematisch ist bei dieser Verwendung des induktiven Schließens jedoch, dass ein über die beobachteten Fälle hinausgehender Erweiterungsschluß vorgenommen wird, der möglicherweise zu vorschnellen Verallgemeinerungen führt. Außerdem ist das Induktionsprinzip selbst weder mit logischen Mitteln noch mithilfe der Erfahrung begründbar.
Kritischer Rationalismus
Der kritische Rationalismus geht auf Karl Popper zurück. Er behauptet, dass es keine Induktion gibt, weil allgemeine Theorien nicht aus singulären Sätzen ableitbar sind. Sie können aber durch singuläre Sätze widerlegt werden, wenn sie mit Beschreibungen von beobachtbaren Sachverhalten kollidieren. Daraus ergibt sich das Prinzip der Falisifikation, das als Abgrenzungskriterium zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Aussagen benutzt wird (im Gegensatz zu dem Sinnkriterium der logischen Empiristen).
Popper vertritt somit eine rein deduktive Logik: Von vorgegebenen allgemeinen Aussagen wird mithilfe logischer Ableitungsregeln auf spezifischere Aussagen (Konklusionen) geschlossen, ohne dass der Informationsgehalt der Konklusion über die Prämisse hinausgeht, so dass es nicht zu den problematischen Erweiterungsschlüssen kommen kann.
Theorien besitzen immer den Status von vorläufigen Hypothesen oder Vermutungen, die durch die Ausscheidungsmethode eingegrenzt werden: Durch negative Argumente wie Gegenbeispiele oder Widerlegungen werden mögliche Theorien ausgeschlossen. Positive empirische Belege sind für Hypothesen mit "Allsatz''-Charakter dagegen logisch irrelevant bzw. ohne Aussagekraft, da sie sich nicht widerlegen lassen. Negative empirische Belege können dagegen eine Theorie sofort vernichten. Unter dem Bewährungsgrad einer Theorie versteht Popper einen Bericht, der den Stand der kritischen Diskussion einer Theorie zu einem bestimmten Zeitpunkt bezüglich folgender Kriterien bewertet:
- durch die Theorie gelieferte Problemlösungen;
- Grad der Prüfbarkeit der Theorie;
- Strenge der Prüfungen der Theorie;
- Bestehen der Prüfungen durch die Theorie.
Der Bewährungsgrad ist sozusagen ein Bericht über die bisherigen Leistungen einer Theorie. Er kann dabei nicht absolut interpretiert werden, sondern dient lediglich dem Vergleich konkurrierender Theorien.
Popper vertritt ein rationalistisches Konzept, das von dem Primat der Ideen bzw. Theorien ausgeht: Der Ausgangspunkt im Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis ist danach der schöpferische Einfall, der Entwurf einer Hypothese oder Theorie. Hypothesen ergeben sich also nicht aus empirischen Beobachtungen, sondern bilden die Voraussetzung dafür, Fragen an die Natur stellen zu können, die wiederum erst eine systematische Erfahrung möglich machen. Aus allgemeinen Aussagen - also aus Hypothesen oder Theorien - werden deduktiv-logisch Basissätze abgeleitet, die in falisifikatorischer Absicht mit empirisch gewonnenen Aussagen über die Realität verglichen werden können: Bei der Methode der kritischen Nachprüfung werden folgende Schritte durchgeführt:
- Es wird eine (vorläufig unbegründete) Theorie oder Hypothese aufgestellt, das sog. theoretische System.
- Aus dem theoretischen System werden auf logisch-deduktivem Wege Folgerungen abgeleitet.
- Diese Folgerungen werden untereinander und mit anderen Sätzen verglichen, indem man feststellt, welche logischen Beziehungen zwischen ihnen bestehen.
- Es kann aber auch eine Prüfung durch empirische Anwendung stattfinden, indem aus dem theoretischen System empirisch prüfbare Folgerungen (Prognosen) deduziert werden. Im Zusammenhang mit der praktischen Durchführung von Experimenten kann dann über die Gültigkeit dieser Folgerungen entschieden werden.
- Fällt die Entscheidung positiv aus, so gilt die Prüfung als vorläufig bestanden, fällt sie negativ aus, gilt sie dagegen als falsifiziert.
Die logischen Empiristen begründen ihre Protokollsätze auf Wahrnehmungserlebnissen, Popper fordert dagegen Basissätze, die nicht mehr auf Beobachter-Wahrnehmungen Bezug nehmen. Er schlägt vor, bei solchen Primäraussagen stehen zu bleiben, deren Nachprüfung leicht ist, d.h. über deren Anerkennung oder Ablehnung unter verschiedenen Prüfern eine Einigung erzielt werden kann.
Kritik an Popper
Prinzipiell ist es erkenntnistheoretisch fragwürdig, die Wissenschaftstheorie alleine auf eine Prüfungs- bzw. Rechtfertigungsmethodologie zu reduzieren, also alleine auf die sprachliche und logische Ebene.
Auch die logische Eindeutigkeit von Falsifikationen ist fragwürdig: Die Falsifikation einer Hypothese kann nicht nur wegen der Hypothese zustandekommen, sondern auch aufgrund von bestimmten Randbedingungen beim Versuch der Falsifikation, etwa durch Beobachtungsbedingungen, Meßverfahren oder durch theoretisches Hintergrundwissen. Die Komplexität der Prüfungssituation ist oft so hoch, dass das Scheitern einer Theorie nicht logisch eindeutig der Theorie anzulasten ist. Diskrepanzen zwischen Theorie und Empirie stellen daher nicht zwangsläufig Falsifikationen dar, wenn ihre Erklärung durch die Annahme störender Bedingungen nicht auszuschließen ist.
Es ist auch eine Einschränkung der Aussagekraft von Falsifikationen aufgrund des Theorie- oder Hypothesentypus möglich: Statistische Hypothesen postulieren nur globale oder kollektive Eigenschaften von Objekten bzw. Objektklassen. Sie lassen im begrenzten Umfang Ausnahmen zu, so dass eine Widerlegung durch empirische Gegenbeispiele nicht eindeutig möglich ist.
Ein weiterer Kritikpunkt am Standpunkt Poppers betrifft die Wahrheitsannäherung durch Elimination des Falschen: Hierbei wird unterstellt, dass die Menge der möglichen Theorien endlich ist. Schließlich ist zu überlegen, ob aufgrund der Widerlegung einer Teilaussage eine Theorie als Ganzes als falsifiziert gelten soll. Popper fordert nämlich, dass jede Theorie mit empirischen Gegenbeispielen geschlagen sei. Somit dürfte es gar keine Theorien geben.
Diese verschiedenen Kritikpunkte haben dazu geführt, dass die Vertreter des kritischen Rationalismus ihre Positionen gegenüber dem "naiven Falsifikationismus'' modifiziert haben.
Glossar
[Im Detail siehe auch Grundbegriffe des Empirismus]
Analytische Sätze sind Sätze, die innerhalb der verschiedenen Formen von Logik und Mathematik formuliert werden können. Diese Sätze sagen nichts über die Welt aus, sondern nur etwas über das Verhältnis zwischen Symbolen.
Basissätze sind wahr, wenn sie Sinneswahrnehmungen wiedergeben. Protokollsätze oder Protokollaussagen sind Aussagen, welche das Vorkommen von Phänomenen (d.h. von sinnlich beobachtbaren Ereignissen) feststellen. Sie gehen aus der Beobachtungssituation des Feldforschers hervor. Eine Protokollaussage enthält regelmäßig folgende Angaben:
- Zeitkoordinaten;
- Raumkoordinaten;
- Umstände;
- Beschreibung des Phänomens.
- In der Praxis enthält sie zudem noch den Namen des Beobachters.
- Die Protokollsätze der logischen Empiristen sollen in einer reinen Beobachtungssprache formuliert sein, die insbesondere theoriefrei ist. Deren Gültigkeit muß nicht weiter geprüft werden. Popper stört daran aber der Psychologismus, d.h. die Tatsache, dass Protokollsätze auf der Wahrnehmung eines Beobachters beruhen. Als Ausweg schlägt er die Basissätze vor, die durch Einigung von kompetenten Prüfern bestätigt werden.
Hypothese: Üblicherweise versteht man heute unter einer Hypothese einen hypothetischen Satz oder zwei Sätze oder Satzklassen, die durch deduktive Ableitungsbeziehungen zueinander in Beziehung stehen. Eine Hypothese soll dabei nicht nur für den gegenwärtigen Zeitpunkt den gewünschten Kriterien entsprechen, sondern auch in der Zukunft.
Hypothesenhierarchie: Ungleichartige Hypothesen bilden eine Hypothesenhierarchie, die dasselbe Basisgebiet behandelt. Das Zusammentreten von Hypothesen zu Hypothesenhierarchien, aus denen wiederum Theorien hervorgehen können, erklärt die Tatsache, dass man heute Hypothesen in Theorien eingebettet findet, die früher isoliert waren. Die Prüfung einer deduktiven Hypothesenhierarchie erfolgt immer, indem die Sätze der Hypothesen der niedrigsten Schicht empirisch überprüft werden.
Theorie: Theorien entstehen aus Hypothesenhierarchien dadurch, dass Hypothesen derselben Schicht miteinander verschmelzen, kohärent werden und gleichartige erkenntnistheoretische Funktion übernehmen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an kann man daher eine Hypothesenhierarchie als Theorie ansehen. Man kann also kurz Theorien als Hypothesensysteme betrachten.
Quelle: http://rpssg3.psychologie.uni-regensburg.de/~zwr02102/scripts/methoden/node2.html
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