[Foto: Werner Stangl, 2009]
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Nur manchmal, während wir so schmerzhaft reifen,
dass wir an diesem beinah sterben,
dann formt sich aus allem, was wir nicht begreifen,
ein Angesicht und sieht uns strahlend an.
Ängste im Jugendalter
Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen zu erkennen bzw. rechtzeitig wahrzunehmen, kann äusserst schwierig sein, da vor allem Kinder ihre psychischen Probleme oft mit physischen Schmerzen ausdrücken, weil sie für ihren Körper im Gegensatz zu ihren Gefühlen bereits Begriffe kennen. Bei Jugendlichen ist es noch schwieriger, psychische Probleme zu erkennen, denn diese äußern sich meist nicht zu ihrer seelischen Befindlichkeit. Erschwert wird eine rechtzeitige Diagnose psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen zusätzlich dadurch, dass in vielen Fällen eine psychosomatische Komorbidität besteht, also körperliche und psychische Beschwerden gleichzeitig auftreten, wodurch psychischen Probleme meist in den Hintergrund geraten.
15% der Schüler leiden unter Ängsten, 9 bis 14% der Schüler weisen körperliche Symptome ohne körperliche Ursache auf, die oft durch Angst- und Stresszustände verursacht sind. Manche Ängste sind von krankheitswertigem Ausmaß (vor allem soziale Ängste) und beginnen bereits im Jugendalter. Jugendliche schämen sich häufig, über ihre persönlichen Probleme zu reden, denn das gilt allgemein als "uncool". Stress in der Schule oder am Lehrplatz, wenig Selbstvertrauen und Konflikte in der Familie sind oft Auslöser, warum Jugendliche in Depressionen oder depressionsähnliche Stimmungen verfallen. Die Jugendlichen wenden sich in diesem Alter eher nicht an die vorhandenen Beratungsstellen, sondern gehen in seltenen Fällen zu Vertrauenspersonen wie LehrerInnen. Häufiger aber greifen Jugendliche zu Alkohol und Drogen, um ihren Kummer zu ertränken, anstatt Hilfe zu verlangen.
Ein bestimmtes Ausmaß an sozialen Ängsten ist gerade bei Jugendlichen völlig normal. Siehe dazu aber Depressionen im Kindes- und Jugendalter aus psychiatrischer Sicht
Soziale Ängste treten im Jugendalter häufig dann auf, wenn die typischen Entwicklungsaufgaben in diesem Lebensabschnitt nicht ausreichend bewältigt werden
- Ablösung vom Elternhaus in Form von mehr Selbständigkeit,
- Eintritt in die Berufswelt,
- Entwicklung einer eigenen Identität,
- Integration in die Gleichaltrigengruppe mit alterstypischen Aktivitäten,
- Kontaktfähigkeit gegenüber dem anderen Geschlecht,
- Umgang mit den Veränderungen in der körperlichen Entwicklung.
Aufgrund des oft noch unzureichenden Selbstwertgefühls sind viele Jugendliche gefährdet, ihr Selbstbewusstsein übermäßig auf bestimmten Leistungsaspekten und Statussymbolen aufzubauen: gute Noten, attraktives Äußeres, körperliche Kraft, Kleidung mit bestimmten Markennamen, Besitz bestimmter technischer Güter.
Es herrscht der Grundsatz: "Wenn ich nicht weiß, was ich bin, zeige ich her, was ich habe, und demonstriere ich, was ich kann". Der Versuch, durch Überanpassung an die Gruppe der Gleichaltrigen soziale Anerkennung zu gewinnen, kann sich ebenfalls als hinderlich erweisen, ein eigenständiges Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Typische Beispiele sind: "Ich bin zu dick", "Meine Haut weist zu viele Pickel auf", "Mein Gesicht wirkt so blass und traurig", "Wenn ich den Mund aufmache, sage ich lauter Blödsinn", "So wie ich bin, kann mich niemand wirklich mögen", "Andere sind beliebter als ich", "Ich bin noch nicht so reif und erwachsen wie andere Jugendliche".
Vorübergehende soziale Ängste sind in der Kindheit und Jugend relativ häufig. Soziale Ängste beginnen meist zwischen dem 13. und 20. Lebensjahr. Bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich soziale Ängste am häufigsten in Form der Schulangst und der Prüfungsangst, aber auch in der Angst, von anderen Kindern ausgelacht und abgelehnt zu werden, wenn diese als Gruppe und damit als bestimmende Mehrheit erlebt werden.
Schüler mit sozialen Ängsten schneiden wegen ihrer Prüfungsängste und des nicht seltenen Vermeidens der Teilnahme am Unterricht bei Prüfungen häufig schlechter ab als andere Kinder, was die Angst vor Leistungsbeurteilungen verstärkt. Schlechtere Schulleistungen, als aufgrund des oft großen Lerneinsatzes notwendig sind, hängen mit der angstbedingten Blockade beim Sprechen vor der ganzen Klasse und der Autoritätsperson des Lehrers zusammen. Die Prüfungssituation als der Inbegriff einer gefürchteten Leistungsbeurteilung führt zu einer verstärkten Beobachtung des eigenen Verhaltens bzw. bestimmter sozial auffällig machender Symptome (Zittern, Rotwerden, Schwitzen, Stottern, Versagen der Stimme) und infolgedessen zu einer Konzentrationsstörung, so dass das oft vorhandene Wissen nicht angemessen dokumentiert werden kann.
Literatur
Askelund, A. J., Schweizer, S., Goodyer, I. M. & van Harmelen, A. L. (2019). Positive memory specificity reduces adolescent vulnerability to depression. Nature Human Behaviour, doi:10.1101/329409.
Morschitzky, Hans (1999). Wenn Jugendliche ängstlich sind.
Ratgeber für Eltern, Lehrer und Erzieher. Wien: ÖBV & HPT.
Soziale Ängste können im Jugendalter in drei Formen auftreten:
- Es bestehen grundlegende soziale Ängste mit einem daraus folgenden sozialen Fertigkeitsmangel. Bestimmte Entwicklungsbedingungen, insbesondere im Elternhaus, begünstigen die Ausbildung sozialer Ängste. Das ängstliche Vermeidungsverhalten verhindert die Entwicklung sozialer Fertigkeiten, was zu den typischen Aufgabenstellungen im Jugendalter gehört. Leichte Verletzlichkeit und große Erwartungsängste verstärken den sozialen Rückzug, der das Einüben sozialer Fertigkeit verunmöglicht. Die Konfrontation mit bestimmten sozialen Anforderungen löst körperliche Symptome von panikartigem Charakter aus.
- Es besteht ein grundlegender Mangel an sozialen Fertigkeiten mit der Folge sozialer Ängste. Bestimmte Lebensbedingungen haben die Entwicklung sozialer Fertigkeiten verhindert und infolgedessen zu einer sozialen Phobie geführt. Mehrfache Umzüge der Eltern aus beruflichen Gründen haben die immer wieder neu aufgebauten Sozialkontakte zerstört, Umschulungen mit wechselnden Anforderungen haben das Selbstvertrauen des Jugendlichen in das schulische Können erschüttert, schwere Erkrankungen mit langen Krankenhausaufenthalten haben zu einer sozialen Isolierung geführt, kontaktarme oder stark einschränkende Eltern haben die Entwicklung angemessener Sozialkontakte verhindert, eine leichte körperliche oder geistige Behinderung wurde nicht ausreichend beachtet. Soziale Ängste können auch bei vorher sozial gut integrierten Personen nach einer länger anhaltenden Platzangst oder Depression auftreten.
- Es bestehen nur scheinbar soziale Ängste und nur scheinbar ein Mangel an sozialen Fertigkeiten, tatsächlich liegt dem Verhalten eine Depression zugrunde. Vorher sozial unauffällige Jugendliche entwickeln plötzlich ein Rückzugsverhalten und eine erhöhte Ängstlichkeit. Dies kann mit einem depressiv bedingten Antriebsmangel und einem Abfall des Selbstwertgefühls zusammenhängen. Bei derartigen sozialen Ängsten ist zuerst die zugrundeliegende depressive Symptomatik zu behandeln.
Soziale Ängste werden im Jugendalter auch häufig überspielt:
- Angst als Folge der familiären Ungeborgenheit kann durch Aggression abreagiert werden.
- Ein von klein auf ängstlicher junger Mann zeigt seine Furchtlosigkeit durch riskante Sportarten oder gefährliche Mutproben.
- Ein innerlich ängstlicher Jugendlicher sucht sich eine noch ängstlichere Freundin, der gegenüber er selbstbewusst auftritt.
Soziale Ängste lassen sich relativ gut bewältigen:
- Bei spezifischen sozialen Ängsten, wo die Gehemmtheit eine große Rolle spielt, ist eine Konfrontation mit den gefürchteten sozialen Situationen sehr wirksam, um jedes Vermeidungsverhalten zu beseitigen. Erwartungsängste werden dadurch als unzutreffend erkannt.
- Ein Selbstsicherheitstraining dient dem Aufbau sozialer Fertigkeiten und der Entwicklung von mehr Selbstsicherheit bei eher generalisieren sozialen Ängsten.
Sehr wichtig ist es auch, die negativen, angsterzeugenden und angstverstärkenden Denkmuster zu analysieren und zu verändern.
Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen können meist mit belastenden Lebensumständen in Zusammenhang gebracht werden. Depressionen sind bekanntlich weltweit die Hauptursache für Krankheiten und Behinderungen, wobei ein bekannter Risikofaktor für Depressionen die Belastung durch frühen Lebensstress ist. Schon während der Pubertät gibt es oft erste Anzeichen einer Depression, wobei psychische Störungen, die bereits bei jungen Erwachsenen auftreten, zumeist schwerer verlaufen und mit einer größeren Wahrscheinlichkeit für einen späteren Rückfall einhergehen. Askelund et al. (2019) haben nun untersucht, ob aktivierende positive Erinnerungen akute Stressreaktionen dämpfen, und in der Folge bei einer geringeren Cortisolreaktion eine verbesserte Stimmung bei jungen Menschen mit depressivem Verhalten auslösen können. Es ist bisher nicht bekannt, ob die Erinnerung an positive Augenblicke in ihrem Leben die Anfälligkeit junger Menschen für Depressionen durch niedrigeres Cortisol und weniger negative Selbstwahrnehmungen bei schlechter Laune ebenfalls reduziert. Nun fand man auch heraus, dass positive Erinnerungsarbeit mit niedrigerem Morgencortisol und weniger negativen Selbstwahrnehmungen sogar ein Jahr später verbunden war. Analysen zeigten außerdem, dass positive Erinnerungsarbeit spätere depressive Symptome reduziert, indem sie negative Selbstwahrnehmungen als Reaktion auf negative Lebensereignisse reduziert. Die positive Erinnerung dämpft offensichtlich aktiv die negative Wirkung von Stressoren im Laufe der Zeit und wirkt so als Resilienzfaktor, der das Risiko einer späteren Psychopathologie reduziert. Sich an gute Zeiten zu erinnern, macht junge Menschen offenbar widerstandsfähiger gegen Stress und weniger empfindlich für Depressionen.
Siehe dazu im Detail Depressionen und Suizidalität im Kindes- und Jugendalter und die Zeitungsberichte Wenn Kinder traurig sind Depressionen bei Kindern und Jugendlichen Fenstersprung wegen schlechter Schulnoten
Mutproben und risiko-konnotative Aktivitäten bei Jugendlichen
Die explizit risiko-konnotativen Aktivitäten lassen sich in waghalsige Aktivitäten und Risk-Fashion-Aktivitäten unterscheiden. Die Frage: "Stell Dir vor, Du bist mit Freunden unterwegs und einige wollen etwas Waghalsiges unternehmen; würdest Du ...?" wurden in einer Untersuchung von Raithel (2001) anhand einer 5-stufigen Likert-Skala von "ganz sicher" bis "nie" von 182 Jugendlichen beantwortet. Der folgenden Tabelle sind die addierten prozentualen Häufigkeitsverteilungen für "ganz..." und "ziemlich sicher" für die einzelnen Aktivitäten zu entnehmen:
|
Mädchen |
Jungen |
mit geschlossenen Augen über eine stark befahrene Straßenkreuzung gehen |
0,0 |
4,1 |
von einem Lastwagen abspringen, der mit ca. 50 km/h fährt |
0,0 |
8,4 |
Strommastklettern |
0,0 |
12,5 |
an einer hohen Brücke herumklettern |
2,4 |
16,6 |
S-/U-Bahn-Surfen |
3,6 |
10,5 |
Risk-Fashion Aktivitäten, hiermit sind Lifestyle- bzw. Erlebnis-/Risikosportarten identifiziert, werden insgesamt von den Jugendlichen in der Riskanz geringer eingeschätzt als die waghalsigen Aktivitäten:
|
Mädchen |
Jungen |
Fallschirmspringen |
38,8 |
62,1 |
Drachen-/Gleitschirmfliegen |
25,8 |
53,1 |
Bungee-jumping |
39,3 |
48,9 |
Mit solchen risiko-konnotativen Lifestyle-Aktivitäten sympathisieren ungefähr die Hälfte der männlichen Jugendlichen und ein Drittel der weiblichen Jugendlichen. Insgesamt zeigt sich, dass die Risk-Fashion Aktivitäten mit einer anderen Risikoqualität verbunden werden als dies für die waghalsigen Aktivitäten zutrifft. Die Waghalsigkeitsaktivitäten werden mit dem größten Risiko attribuiert, denn für die waghalsigen Aktivitäten besteht ein evidentes (Verletzungs-)Risiko, während für die Risk-Fashion Aktivitäten Sicherheitsrichtlinien bei adäquater Ausübung das Risiko gering halten.
Braun-Scharm, Hellmuth (o.J.). Depressionen und Suizidalität im Kindes- und Jugendalter.
WWW: http://www.kinderpsychiater.org/deprsuiz.htm (02-12-20)
Oerter, R. & Montada, L. (1995). Entwicklunspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Olbrich, E. & Todt, E. (1984). Probleme des Jugendalters. Berlin: Springer.
Raithel, J. (2001). Explizit risiko-konnotative Aktivitäten und riskante Mutproben. In Raithel, J. (Hrsg.), Risikoverhaltensweisen Jugendlicher. Formen, Erklärungen und Prävention. Opladen: Leske + Budrich.
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