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Link zu Lerntechnik Lesen und Lesegeschwindigkeit

 

 

 

 

Viele Menschen lesen Fachbücher genauso wie Romane: vorne mit der ersten Seite beginnen und dann das Buch Seite für Seite durcharbeiten. Es gibt eine viel bessere Methode für das Lesen von Informationstexten jeder Art: Überfliegen Sie Ihre Lektüre zuerst. Lesen Sie bei einem Buch den Klappentext. Schauen Sie sich das Inhaltsverzeichnis genau an. Überfliegen Sie alle Überschriften oder Zwischenbemerkungen, wie Graphiken, Kästchen oder Marginalien (Seitenrandhinweise). Blättern Sie einfach ein bißchen herum und tauchen Sie selektiv dort ein, wo etwas für interessant ist. Ein guter Trick ist auch, jeweils die ersten und letzten Absätze eines Buchkapitels zu lesen, denn am Anfang erfährt man oft, worum es geht und am Ende kann man die Schlussfolgerungen oder sogar eine Zusammenfassung lesen. 

Aus der Forschung: Brysbaert (2019) hat basierend auf einer Metaanalyse von 190 Studien aus den letzten zwei Jahrzehnten festgestellt, dass die durchschnittliche stille Leserate für Erwachsene im Englischen 238 Wörter pro Minuteund für Sachbücher und 260 Wörter pro Minute für Belletristik beträgt. Man fand außerdem relativ große interindividuelle Unterschiede, d. h., die Spannbreite reichte von 175 bis 300 Wörtern bei Sachtexten, bei fiktionalen Texten waren es 200 bis 320. Bei laut gesprochenen Texten schafften Leserinnen und Leser etwa 183 Wörter pro Minute. Diese Schätzungen sind wesentlich niedriger als die in wissenschaftlichen und anderen Schriften oft zitierten Zahlen. Es zeigte sich auch, dass die Leseraten für Kinder, ältere Erwachsene und LeserInnen mit Englisch als Zweitsprache niedriger waren. Die Leseraten entsprachen übrigens der maximalen Hörgeschwindigkeit und erfordern also keine spezielle Annahme einer lesespezifischen Sprachverarbeitung. Die Ergebnisse lassen sich nach Ansicht des Autors auch auf andere Sprachen übertragen, die das lateinische Alphabet verwenden, doch müsse man dabei die sprachlichen Besonderheiten berücksichtigen, denn so gibt es im Englischen und Deutschen zahlreiche Funktionswörter wie Artikel, Fürwörter, Konjunktionen oder Verhältniswörter, doch werden im Deutschen Hauptwörter häufiger zusammengesetzt als im Englischen, sodass deutschsprachige LeserInnen vermutlich eine etwas geringere Leseleistung aufweisen.

Das Gehirn gibt den Takt vor

Sowohl beim Sprechen als auch beim Zuhören verarbeitet bzw. produziert das menschliche Gehirn die Informationen in einem bestimmten Takt, wobei in jeder Sprache eine Zuhörerin bzw. ein Zuhörer ungefähr eine Informationseinheit (Silben, Wörter) in 200 Millisekunden erkennt, d. h., das Sprachsignal ist also durch eine vorherrschende Modulation des Amplitudenspektrums zwischen etwa 4,3 und 5,5 Hz gekennzeichnet. Interessanterweise ist diese Zeitspanne auch die typische Dauer der Augenfixation beim Lesen von Buchstabenschriften – nur bei Zeichenschriften dauert es mit etwa 250 Millisekunden länger.
Gagl et al. (2021) haben gezeigt, dass deutsche LeserInnen geschriebenen Text mit ~5 Hz abtasten. Eine Meta-Analyse von 142 Studien aus 14 Sprachen bestätigte dieses Ergebnis und zeigte, dass die Abtastfrequenzen in den verschiedenen Sprachen zwischen 3,9 Hz und 5,2 Hz variieren, wobei diese Variation systematisch von der Komplexität der Schriftsysteme abhängt, also ob es sich um zeichenbasierte oder alphabetische Systeme handelt und davon, wie deutlich die orthographischen Klarheit ausgeprägt ist. Schließlich konnten Gagl et al. (2021) empirisch eine positive Korrelation zwischen dem Sprachspektrum und der Augenbewegungsabtastung bei gering qualifizierten nicht-muttersprachlichen LeserInnen nachweisen, wobei eine Post-hoc-Analyse vorläufige Hinweise auf die gleiche Beziehung bei gering qualifizierten muttersprachlichen Lesern lieferte.
Auf der Grundlage dieser übereinstimmenden Belege vermutet man nun, dass die Sprachverarbeitungssysteme des menschlichen Gehirns während des Lesens eine bevorzugte Verarbeitungsgeschwindigkeit besitzen, wobei die Geschwindigkeit der gesprochenen Sprachproduktion und -wahrnehmung auf das okulomotorische System übertragen wird. Dadurch fungiert das Gehirn als eine Art Taktgeber für die Verarbeitungsgeschwindigkeit sowohl beim Hören bzw. Sprechen als auch beim Lesen.

Schulbildung und Lesegeschwindigkeit

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinschaut, kann kein Apostel hinaussehen.
Georg Christoph Lichtenberg

Studien zeigen, dass 15-/16-jährige SchülerInnen sich in Bezug auf die basalen Lesefertigkeiten stark unterscheiden. Solche Unterschiede haben einen massiven Einfluss auf die Schullaufbahn bzw. sind ein Resultat der gewählten Schulsparte. Daher haben auch SchülerInnen, die schnell und flüssig lesen können, bei den Lese-Kompetenz-Aufgaben der PISA-Tests deutlich besser abgeschnitten als SchülerInnen, die langsam und mit großer Mühe lesen. Ein Vergleich der unterschiedlichen Schulsparten zeigt signifikante Unterschiede in Bezug auf die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit.

SchülerInnen der Allgemeinbildenden Höheren Schulen lesen im Schnitt am schnellsten, gefolgt von den SchülerInnen der Berufsbildenden Höheren und Mittleren Schulen. Am langsamsten lesen die SchülerInnen der Berufsschulen und Allgemeinbildenden Pflichtschulen. Allerdings sind die Mittelwertsunterschiede zwischen Schulsparten eher gering: der Mittelwert der AHS-SchülerInnen liegt etwa eine halbe Standardabweichung über dem Populationsmittelwert, die Mittelwerte der Berufschulen und der Allgemeinbildenden Pflichtschulen liegen etwas mehr als eine halbe Standardabweichung unter diesem.

Es zeigte sich auch, dass die Freude am Lesen mit zunehmender Lesegeschwindigkeit zunimmt. Lesen macht vermutlich erst dann Spaß, wenn eine gewisse Flüssigkeit erreicht wird, so dass der Leseprozess ohne allzu große Mühe abläuft. Umgekehrt ist möglicherweise die Lesegeschwindigkeit bei jenen SchülerInnen eher gering, die Lesen als Zeitverschwendung empfinden und somit auch wenig Zeit für diese Tätigkeit aufwenden. Vermutlich besteht ein interaktiver Zusammenhang: Eine geringe Lesegeschwindigkeit macht das Lesen eher mühevoll, so dass die Freude am Lesen gering bleibt. Die geringe Lesefreude führt dazu, dass der Schüler kaum freiwillig zu einem Buch greift, so dass auf Grund mangelnder Übung die Lesegeschwindigkeit nicht erhöht werden kann - die Freude am Lesen bleibt weiterhin gering.

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Tipps zur Erhöhung der Lesegeschwindigkeit

Das Lesetempo der Menschen ist unterschiedlich und hängt auch davon ab, wie vertraut ein Leser mit dem Inhalt und dem Sprachstil eines Textes ist - wissenschaftliche Texte unterscheiden sich meist gravierend von dem in den Schulen genutzten Texten. Darüber hinaus spielen viele weitere Faktoren eine Rolle: Wachheit, Konzentration, Lichtverhältnisse, Schriftart, Schriftgröße, Zeilenabstand, Kontrast der Schrift zum Hintergrund, Zeilen- und Absatzlänge, Aufzählungszeichen, Verwendung von Tabellen und Grafiken.

Reinhold Vogt (2006) schreibt dazu: Ein Grundschüler liest typischerweise langsamer als ein Erwachsener, ein kaufmännischer Angestellter liest typischerweise schneller als ein Facharbeiter. Dass vermehrtes Lesen auch unbewusst zur Änderung der Lese-Technik führt, kann man an der Entwicklung von Leseanfängern besonders gut beobachten: Ein Erstklässler liest die Wörter innerhalb eines kleinen Satzes anfangs noch einzeln buchstabierend. Das kann so viel Zeit und Konzentration in Anspruch nehmen, dass das Kind am Satzende nicht mehr weiß, wie der Satz begonnen hatte. Schon etwa ein Jahr später liest das Kind nicht mehr einzeln buchstabierend, sondern es erfasst bereits viele Wörter in ihrem Gesamtbild. Auch noch als Erwachsener kann man dieses Phänomen erleben, zum Beispiel dann, wenn innerhalb eines gewöhnlichen Satzes plötzlich ein völlig unbekanntes Fremdwort auftaucht. Entweder überliest man einfach dieses Fremdwort, weil es nicht besonders wichtig erscheint, oder man versucht, es buchstabierend zu vokalisieren. Wenn man eine Tageszeitung zum Beispiel um 180° dreht, so dass der Text auf dem Kopf steht, dann kann man die kindlichen Leseschwierigkeiten leicht nachvollziehen. Zunächst ist man nämlich nur in der Lage, die Buchstaben einzeln zu identifizieren, um sie dann zu Wörtern zusammen zu setzen. Schon nach wenigen Minuten hat sich das Gehirn an das neue Schriftbild gewöhnt, das Identifizieren der Buchstaben ist stark beschleunigt, und einzelne Wörter werden bereits als ganzheitliches Wortbild wahrgenommen.

Personen, die viel lesen, entwickeln mit der Zeit die Fähigkeit, auch Gruppen von Wörtern als zusammen hängende Einheiten zu erkennen. Solche Wortgruppen können zum Beispiel die eigenen Adressdaten auf einem Brief sein oder die Begrüßungsfloskel "Guten Tag, Frau ..." oder die Schlussformulierung "Mit besten Grüßen".

Um die persönliche Lesegeschwindigkeit zu erhöhen, gibt Reinhard Vogt drei Empfehlungen:


Tipp: Lässt die Aufmerksamkeit ...

bei längerem Lesen nach, dann ist das oft ein Zeichen für "erschöpfte" Neuronen. Machen Sie daher eine kleine Pause und vielleicht hilft auch, dass Sie sich etwa den ersten Buchstaben des gerade gelesenen Absatzes nehmen und zählen, wie oft er in dem Absatz vorkommtt. Sie können danach in der Regel konzentrierter weiter lesen.


Lesen nach dem Studium

Während eines längeren Studiums und vor allem nach beendetem Studium wird man ein seltsames Phänomen feststellen, dass es einem nämlich plötzlich schwerfällt, etwas anderes als Fachtexte zu "lesen", besser: zu scannen und überfliegen. Es ist daher notwendig, wieder das alte Lesen zu erlernen, also das eher kontemplative und auf Unterhaltung ausgerichtete. Übrigens: Auch durch das Weblogs, Twitter, SMS oder andere kurze Textformen hat sich die Menge des raschen scannenden Leses erheblich erhöht und genaues Lesen ist seltener geworden im Vergleich zum Überblickslesen.


Siehe dazu auch die Arbeitsblätter Verbesserung der Lesegeschwindigkeit, Entwicklung eines effizienten Lesens und Schnelllesen, Photoreading und andere Wundermethoden.

Quellen 

https://m.media-amazon.com/images/I/7187eVh1OeL._SL1237_.jpg

Ballstaedt, S. (1997). Wissensvermittlung - Die Gestaltung von Lernmaterial. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Brysbaert, M. (2019). How many words do we read per minute? A review and meta-analysis of reading rate. doi:10.31234/osf.io/xynwg2.

Gagl, Benjamin, Gregorova, Klara, Golch, Julius, Hawelka, Stefan, Sassenhagen, Jona, Tavano, Alessandro, Poeppel, David & Fiebach, Christian J. (2021). Eye movements during text reading align with the rate of speech production. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-021-01215-4.

Landerl, K. & Reiter, C. (2002). Lesegeschwindigkeit: schulische, individuelle und familiäre Faktoren. In C. Wallner-Paschon & G. Haider (Hrsg.), PISA Plus 2000. Thematische Analysen nationaler Projekte. (S. 67-72). Innsbruck: StudienVerlag.

Strittmater, P. & Niggemann, H. (2000). Lehren und Lernen mit Medien - Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Vogt, Reinhold (2006). So testen und trainieren Sie Ihr Schnell-Lese-Tempo.
WWW: http://www.trainer-der-neuen-generation.de/index.php?id=9&oid=441 (06-02-02)

Wolf, Maryanne (2009). Das lesende Gehirn: Wie der Mensch zum Lesen kam - und was es in unseren Köpfen bewirkt. Spektrum.

http://zeitzuleben.de/ (99-10-20)

http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/LERNTECHNIKORD/5SchritteMethode.html (02-11-08)

http://www.RZ.UniBw-Muenchen.de/~s11bwild/list/meta.htm (99-08-15)

http://www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Einrichtungen/ZSB/studientechniken11.html (02-11-30)

http://www.thomasgransow.de/Arbeitstechniken/Texte_analysieren.htm (03-06-02)

http://www.thomasgransow.de/Arbeitstechniken/Lesen.htm (03-06-02)

http://www.unilife.de/bund/rd/38244.htm (05-01-03)

http://www.extremnews.com/berichte/vermischtes/5b414919d9d7e1 (13-09-29)

 



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