Zur Philosophie der Kommunikation*)
Ausschnitte aus einem Vortrag von Kristóf Nyíri vom 2. Juni 2000 in Piliscsaba im Rahmen des von der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte veranstalteten Symposiums "Der Donauraum in der Wissenschaftsgeschichte Europas mit besonderer Berücksichtigung der deutsch-ungarischen Wissenschaftsbeziehungen".
Nach József Balogh (1926) ist "das laute Lesen die ursprüngliche und natürliche Form des Lesens überhaupt". Das stumme Lesen ist eine Folge der Mechanisierung des Schreibens und Lesens. "Diese Mechanisierung begann mit der Erfindung des Buchdruckes und hält bis zum heutigen Tage ununterbrochen an. Die Schreib-, Diktier-, Sprech-Maschinen einerseits, Fernschreiber, Fernsprecher und "Broadcasting" andererseits stehen alle im Dienste der Mechanisierung des geschriebenen und gesprochenen menschlichen Wortes; ein besonderer Platz gebührt dem Kinematographen, der nicht nur die Sprache von der Bühne verdrängt hat, sondern auch in mancher Hinsicht zum Surrogat des Buches wurde."
Ludwig Josef Johann Wittgenstein schrieb im Traktat 4.011 und 4.016: "Auf den ersten Blick scheint der Satz - wie er etwa auf dem Papier gedruckt steht - kein Bild der Wirklichkeit zu sein, von der er handelt. Aber auch die Notenschrift scheint auf den ersten Blick kein Bild der Musik zu sein, und unsere Lautzeichen-(Buchstaben-)Schrift kein Bild unserer Lautsprache. Und doch erweisen sich diese Zeichenspachen auch im gewöhnlichen Sinne als Bilder dessen, was sie darstellen. Um das Wesen des Satzes zu verstehen, denken wir an die Hieroglyphenschrift, welche die Tatsachen die sie beschreibt abbildet. Und aus ihr wurde die Buchstabenschrift, ohne das Wesentliche der Abbildung zu verlieren." Nach Kristóf Nyíri ist die Philosophie des späteren Wittgenstein teilweise als eine Überwindung der Logik der Schriftsprache zu verstehen, nämlich als eine Überwindung aus der Sicht der mündlichen Sprache. Man dürfte hier aber sogar von einer zweifachen Überwindung der Schriftsprache reden: von einer Überwindung derselben in Richtung Mündlichkeit und in Richtung Bild.
Im Wien der zwanziger Jahre schuf Otto Neurath die Bildstatistik. Dieses Programm zielte auf eine bessere Integration von Text und Bild ab und wurde nach Neuraths Emigration 1935 unter der Bezeichnung "International System Of TYpographic Picture Education", als Isotype abgekürzt, weitergeführt.
Es handelt sich hier um ein zweidimensionales System voneinander gegenseitig abhängenden und miteinander gegenseitig verknüpften Zeichen, welches zwar in Verbindung mit Wortsprachen verwendet werden, dennoch eine eigene visuelle Logik besitzen sollte. "Oft ist es sehr schwer" in Worten zu sagen, was dem Auge direkt klar ist. Wir brauchen nicht in Worten zu sagen, was wir mit Hilfe von Bildern klarmachen können." Isotype sollte in den Dienst einer Enzyklopädie der Einheitswissenschaft gestellt werden. "Was wir Wissenschaft nennen", meinte Neurath, "kann als die typische Art des Argumentierens angesehen werden, die den Menschen aller Nationen, reich und arm, gemeinsam ist. ... Es ist wichtig, das, was den Menschen gemeinsam ist, in einer Sprache auszudrücken, die möglichst einfach und neutral ist. Eine Bildersprache, die Hieroglyphensprache, hat den Vorteil, von der Wortsprache unabhängig zu sein, ist besonders geeignet, faktische Information auf vereinfachte Weise zu vermitteln, und hat eine gewisse Neutralität."
Otto Neuraths lag auch viel an der Demokratisierung des Wissens, sodaß seine Methode auch sozialreformatorisch motiviert war. Die sogenannte "Wiener Methode" charakterisierte Neurath mit der Technik der drei Blicke. Auf den ersten enthüllt eine Schautafel grundlegende Zusammenhänge, auf den zweiten die Details und auf den dritten eventuelle weitere Feinheiten. Eine Schautafel, die auf den vierten Blick weitere Informationen preisgibt, widerspricht indes dem pädagogischen Dreiblick-Konzept Neuraths, das zu aller erst als pragmatisches Mittel zur Hebung des Bildungsstandes der Arbeiterklasse entwickelt wurde: Wer den ganzen Tag in der Fabrik arbeitet, liest abends keine komplexen wissenschaftlichen Werke, geht auch nicht ins Museum. Also waren die Ziele:
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vorwiegend statistisches Material, Zahlen, Daten zu "transformieren", also für ihre grafische Übersetzung aufzubereiten,
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ein standardisierte Werkzeuge im Sinne eines Bild-Repertoires zu schaffen und
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die so im Wiener Institut für Wirtschaftsforschung entstandenen Bildtafeln in Form von leicht zerlegbaren und transportablen Wanderausstellungen an öffentliche, exponierte Orte zu bringen.
Otto Neuraths Anspruch der vielzitierten Demokratisierung des Wissens erlebt heute eine Renaissance in der Hoffnung auf das Internet als frei zugängliche globale Bibliothek für alle, jedoch bietet das WWW ein konträres Bild, vor allem die von Usability-Forschern beklagte Uneinheitlichkeit bei Navigationskonzepten ist augenfällig. Die Orientierung auf den meisten Websites muss erst "erlernt" werden (vgl. Pettauer 2002).
Otto Neurath war auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten tätig, von der Geldwerttheorie bis hin zur Moraltheologie, wie Günther Sandner in seiner Biografie Neuraths Weg zum Universalgelehrten und Demokraten nachzeichnet. Sandner zeigt, wie sich der 1882 in eine getaufte jüdische Familie geborene Neurath zum Programmautor des Wiener Kreises um Rudolf Carnap und Moritz Schlick aufsteigt und sich schließlich als Pionier der internationalen Bildstatistik, visuellen Pädagogik und Isotypensymbolgrafik etabliert. Neurath studierte Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie, wirkte dann als Kriegswirtschaftsexperte bei der k.u.k. Heeresleitung in Wien. 1918 ging er nach München und bereitete für die Räterepublik die Vollsozialisierung Bayerns vor; bald darauf war er wieder in Wien, wie immer emsig auf verschiedenen Gebieten von der Geldwerttheorie bis zur Moraltheologie tätig. Im Roten Wien war Neurath in seinem Element, er beteiligte sich aktiv an der Arbeitererziehung und am sozialen Wohnbau, begründete das Gewerbemuseum. Nach der Machtergreifung der Austrofaschisten ging er nach Den Haag, schließlich nach England, wo er 1945 in Oxford starb.
Seit den 1920erJahren konzipierte Neurath eine Natur- und Sozialforschung überwölbende Einheitswissenschaft, die die Metaphysik ebenso hinfällig machen sollte wie die nationalen Philosophietraditionen. Neurate empfing wertvolle Anregungen von der marxistischen Gesellschaftsanalyse, warnte aber davor, historische Gesetze klassenspezifischen Verhaltens aufzustellen, denn diese Pseudogesetze verschleierten die häufig oberflächliche Analyse der Bedingungskomplexe sozialen Handelns. Neuraths künstlerische Begabung hat sein wissenschaftliches Arbeiten geprägt hat und ihn zur Sprachgrenzen überwindenden Bildpädagogik und Symbolgrafik geführt. Neurath zielte auf eine antimetaphysische und weltanschauungsfreie Einheitswissenschaft, die Gesetzmäßigkeiten verknüpfen und es erlauben sollte, bereichsübergreifend erfolgreiche Voraussagen zu treffen: „Man kann zwar verschiedene Arten von Gesetzen gegeneinander abgrenzen, zum Beispiel chemische, biologische, soziologische, man kann aber nicht von der Voraussage eines konkreten Einzelvorgangs sagen, dass sie nur von einer bestimmten Art von Gesetzen abhänge.“ Neurath ging dabei über die logische Sprachanalyse hinaus, die den Wiener Kreis anfangs bestimmt hatte, denn für ihn waren nicht nur aus den Naturwissenschaften entnommene Sätze empiriegesättigt formulierbar, sondern auch Gesetzmäßigkeiten der sozialen Welt.
Bei Neurath bildeten naturwissenschaftliche Erkenntnisformen das Vorbild für den logischen Empirismus, wobei er sich weigerte, die Beschäftigung mit emotionalen und intentionalen Sachverhalten als unwissenschaftliche Spekulation, als „Psychologismus“, abzutun. Die menschliche Weltwahrnehmung und -aneignung unterlag für ihn Verhaltensgesetzen, die Ballung von Persönlichkeitskoeffizienten, die das Individuum ausmachen, sei physikalistischer Art. Um die Gesetze der Einzelwissenschaften, seien sie chemisch, klimatologisch, seien sie soziologisch, als Teile eines Systems betrachten und in funktionale Zusammenhänge einfügen zu können, bedurfte es einer Einheitssprache. Diese sollte aber keine Sammlung mathematischer Formeln sein, sondern Aussagen in einer sauberen und schlichten Alltagssprache formulierbar machen.
Neuraths Programm zielte daher auch auf die Erziehung mündiger sozialer Akteure ab..
Quelle:
Die Presse vom 6. Juni 2015
Von Marshall McLuhan, der sowohl die Schriften von Balázs als auch die von Wittgenstein rezipiert hatte, stammt der erste Versuch, die Philosophischen Untersuchungen als eine Philosophie der Mündlichkeit zu interpretieren. Und von Karl Polányi, Mitglied jenes Kreises, stammt ein Aufsatz zur Semantik des Geldes, wo es heißt: "Symbols do not merely 'represent' something. They are material, oral, visual, or purely imaginary signs that form part of the definite situation in which they participate; thus they acquire meaning." Über den Umweg von McLuhan übt das österreichisch-ungarische Denken der hier zitierten Denker einen lebendigen Einfluß auf die einschlägigen Forschungen der Gegenwart aus. Dieses Denken stellt eine Quelle dar, aus der die heutige, im Zeichen der Hypertextualität und Multimedialität stehende Philosophie der Kommunikation - ständige Anregungen erhält.
Zusätzliche Literatur:
Pettauer, Richard (2002). Otto Neurath Revisited.
WWW: http://www.telepolis.de/deutsch/special/med/13678/1.html (03-05-22)
Nyíri, Kristóf (2000). Wörter und Bilder in der österreichisch-ungarischen Philosophie: Von Palágyi zu Wittgenstein.
WWW: http://nyitottegyetem.phil-inst.hu/filtort/kut/piliscsaba_2000.htm (03-02-09)
Die Bilder entstanden unter Verwendung von
http://image.pathfinder.com/time/time100/scientist/images/profilepix/wittgenstein.jpg (01-02-09)
http://nyitottegyetem.phil-inst.hu/filtort/kut/Neurath1.JPG (01-02-09)
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