Informationsflut - Informations-Overkill - Medienkompetenz
Bekümmert seh' ich das Geschlecht von heute.
Düster und leer ist seiner Zukunft Schoß.
Von Kenntnissen erdrückt, des Zweifels Beute,
wächst es heran und altert tatenlos.
Michail Lermontow
Zwar steigert nach Ansicht des Kulturwissenschaftlers Jan Assmann das Internet die Zirkulation von Wissen und Gedächtnisinhalten enorm, und erleichtert auch den Zugriff auf vielfältige Überlieferungsbestände, etwa durch den digitalen Zugang zu Bibliotheken und Archiven, in denen Wissen kanonisiert vorliegt, doch kann das Internet keine Relevanzfunktionen übernehmen, also darüber entscheiden, was in Zukunft als bedeutsamer Teil der Vergangenheit angesehen werden und im kulturellen Gedächtnis fortleben wird. Ein Mensch, der im Internet sucht, benötigt allerdings solche Relevanzstrukturen, denn wenn er diese nicht schon vorher zumindest rudimentär im Kopf hat, wird er im Internet auch nicht das finden, was er braucht. In dem Umfang, in dem das Internet die Zirkulation von Informationen erhöht, löst es die Bedeutungsperspektiven des Kanons des essentiellen Wissens auf. Schließlich ist es die Kultur vermittels ihrer Regeln und Werte, die Menschen miteinander verbindet und durch die Erinnerung an eine geteilte Vergangenheit eine Brücke vom Gestern zum Heute bildet.
Nach Schätzungen nutzen mehr als eine Milliarde Menschen weltweit Facebook, um private und berufliche Informationen auszutauschen, miteinander in Kontakt zu bleiben und um neue Freunde, Partner oder berufliche Möglichkeiten kennenzulernen. Dabei stehen Facebook-NutzerInnen wie im realen Leben vor einer Reihe von Entscheidungen: Mit wem tauscht man sich aus? Wen kann man leiden? Wem vertraut man? Wen möchte man näher kennenlernen? Diese vielfältigen auf Facebook getroffenen sozialen Entscheidungen beruhen zwangsläufig darauf, wie die NutzerInnen und deren soziale PartnerInnen sich online verhalten und gegenseitig beurteilen, d. h., welche Informationen sie in Facebook-Profilen hinterlassen und zu welchen Schlüssen sie auf Basis dieser Informationen kommen.
Informations-Overkill - soziale Komponenten und informelle Kontakte wichtiger als Hightech
Die Vorteile des Informationszeitalters und der damit verbundenen weltweit verfügbaren Datenmenge könnten sich, nicht nur für den EInzelnen sondern auch für Unternehmen, als Schlag nach hinten entpuppen. Laut einer Studie von Gartner [http://www.gartner.com] glauben 90 Prozent aller Unternehmen, dass sie unter einem Überfluß an Informationen leiden und dass diese Flut ihre Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert. Gartner geht davon aus, dass die Unternehmen im nächsten Jahr 30 Mrd. Dollar für Informations-Management-Systeme ausgeben werden, um der Datenmasse aus Internet, Intranet etc. Herr zu werden. Anstatt Unternehmen technisch hochzurüsten, empfiehlt Gartner informelle Kanäle wie etwa persönliche Netzwerke (Freunde, Kollegen), den E-Mail-Verkehr oder soziale Interaktionen zu fördern.
Persönliche Kontakte mit Freunden oder Kollegen sind für die Entscheidungsfindung innerhalb eines Unternehmens viel wichtiger als Informationen aus dem Netz bzw. dem Firmen-Intranet. Die befragten rund 300 Unternehmen gaben allerdings an, gerade diese informellen Kontakte am wenigsten zu fördern. "Da Computer-Technologien menschliche Informationsbedürfnisse nicht nachvollziehen können, können sie nur beschränkt als Informations-Filter-Hilfen eingesetzt werden", so Gartner-Analyst Alexander Linden. Generell sei es für Unternehmen leichter neue Technologien zu implementieren, als die Informations-Unternehmenskultur zu ändern.
Laut Gartner liegt ein zentraler Schlüssel in der Verhinderung des Informations-Overkills in der Pflege von sozialen Interaktionen. Diese könnten mit einfachen Mitteln wie inoffiziellen Treffen, Cafeterias oder Lounges ergänzend zu technischen Features wie speziell aufbereiteten Suchmaschinen, Expertennetzwerken oder elektronischen Bulletin-Boards eingesetzt werden. Es stellte sich heraus, dass der öffentliche Sektor am wenigsten mit Informations-Management-Systemen agiert, während Beratungsunternehmen großteils derartige Programme einsetzten. Rund 75 Prozent der Consulter haben eigene Kommunikations-Management-Programme implementiert, während nur fünf Prozent der Regierungs-Organisationen derartige Systeme benützen.
Experten sehen die Rolle von sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter in zwischenmenschlichen Beziehungen kritisch, denn meist steht das Ego im Mittelpunkt und nicht so sehr die Beziehung zu anderen. Auf Facebook ist man aber nicht man selbst, sondern reduziert sich auf ein angelegtes Profil, das mehr oder minder verzerrt ist, sodass Facebook für viele nur eine Scheinwelt ist, denn man dort Postings oder Bilder hochladen, auch wenn diese nichts mit einem selber zu tun haben. Problematisch wird diese virtuelle Inszenierung dadurch, dass man sein eigenes Profil ständig mit dem von FreundInnen vergleichen kann, obwohl man nur alleine vor dem Bildschirm sitzt. Die NutzerInnen von sozialen Netzwerken sind letztlich immer auf sich selbst zurückgeworfen und stellen sich Fragen, warum sie nicht so erfolgreich, beliebt oder glücklich wie die anderen sind, wobei sie sich mit Menschen vergleichen, die ihnen eigentlich gleichgültig sein könnten. Vor allem Jugendliche sitzen vor ihrem Gerät und warteten auf ein Feedback zum eigenen Leben, denn sie versuchen über die virtuellen Kontakte das zu bekommen, was man nur in einer realen und risikoreichen Welt bekommen kann. Manche verlieren sich dann in diesem Bemühen, stets einen guten und nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu wollen und wissen am Ende des Tages oft gar nicht, wer sie wirklich sind, denn das Feedback von realen Menschen fehlt ihnen. Zentrale Merkmale von echter Freundschaft fallen in sozialen Netzwerken weitgehend weg, denn diese limitieren und strukturieren die Kommunikation. Negatives taucht selten bis gar nicht in diesen Kommunikationen auf, denn niemand teilt seine Misserfolge dem gesamten Bekanntenkreis mit.
Vanman et al. (2018) haben entdeckt, dass ein Entzugsprogramm von Social Media wie Facebook entscheidenden Einfluss auf den körperlichen Hormonhaushalt hat, wobei insbesondere die Cortisolwerte vom Umgang mit sozialen Medien beeinflusst werden. Allerdings kann sich ein vollkommener Entzug von digitalen Netzen auch negativ auf das Wohlbefinden auswirken. In einem Experiment musste die Hälfte der Probanden für eine gewisse Zeit abstinent werden, die andere Hälfte machte weiter wie bisher. Im Speichel der Probanden stellte man eine Reduktion der Cortisolwerte fest, sobald diese ihre Facebook-Aktivitäten eingestellt hatten, allerdings fühlten sie sich bei der anschließenden Befragung aber durchwegs nicht weniger gestresst, d. h., obwohl die Facebookvermeider eine eindeutige physiologische Verbesserung hinsichtlich ihrer Stresshormone zeigten, ergab ihre psychologische Untersuchung eher eine Verschlechterung, denn sie gaben an, dass sie sich unwohler fühlten als vor der Facebook-Abstinenz und nur darauf warten, ihre Aktivitäten wieder aufnehmen zu können.
Siehe auch die W4 - WeltWeiteWerbeWüste
Stimmung beeinflusst Entscheidungen
Viele Entscheidungen wie Wohnungskauf oder Arbeitsplatzsuche sind sequenziell, d.h., man bekommt nacheinander verschiedene Angebote, die man jeweils annehmen oder ablehnen kann. Bei solchen Entscheidungen hängt die Qualität der Wahl damit zusammen, wie viele Angebote vor dem Entscheid begutachtet werden, wobei sowohl eine zu kurze als auch eine zu lange Suche nicht optimal sind, denn bei einer kurzen Suche ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass später noch ein besseres Angebot kommt, während bei einer sehr langen Suche das Risiko ansteigt, dass man das beste Angebot schon gesehen und bereits abgelehnt hat.
In einer Studie untersuchten von Helversen et al. (2012), wie ältere und jüngere Erwachsene in unterschiedlichen Stimmungslagen sequenzielle Entscheidungen treffen. Sie erhielten Entscheidungsaufgaben am Computer dargeboten, bei denen sie unter sechzig verschiedenen Produkten vom Flachbildschirme bis zum Kühlschrank jeweils das günstigste Angebot finden sollten. Bei jedem Angebot konnten sie sich entscheiden, ob sie das Produkt für diesen Preis kaufen oder lieber weitersuchen wollten, ob sie noch ein günstigeres Angebot finden. Im Ganzen konnten sich die Probanden bis zu vierzig Preisangebote pro Produkt ansehen, wobei ältere Erwachsene früher ein Angebot annahmen und insgesamt mehr für die Produkte zahlten als jüngere. Die Tendenz, weniger lange zu suchen, hing dabei nicht mit ihren kognitiven Fähigkeiten, sondern mit der Stimmung der Versuchspersonen zusammen, d.h., je positiver ihre Stimmung war, desto früher entschieden sie sich, ein Angebot anzunehmen, also ein Angebot zu akzeptieren statt weiterzusuchen. Eine zweite Studie mit jüngeren Erwachsenen bestätigte, dass auch diese eher bereit waren, Angebote früher anzunehmen, wenn sie sich in einer positiven Stimmung befanden. Offenbar sind nicht nur kognitive Fähigkeiten wichtig, um gute Entscheidungen zu treffen, sondern auch die aktuelle Stimmungslage hat einen wichtigen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten. Eine positive Stimmung lässt Angebote in einem rosigeren Licht erscheinen lassen und damit zu einer flüchtigeren Informationssuche führen, was aber schlechtere Entscheidungen zur Folge haben kann, etwa dann, wenn bei einer Wahl eine intensive Informationssuche notwendig ist.
Literatur
von Helversen, B., & Rui, Mata (2012). Losing a dime with a
satisfied mind: Positive affect predicts less search in sequential
decision making. Psychology and Aging, advance online publication, doi:
10.1037/a0027845 (Universität Basel, 12.04.2012).
Mata, R., Pachur, T., von Helversen, B., Hertwig, R., Rieskamp, J.,
& Schooler, L J. (2012). Ecological rationality: A framework for
understanding and aiding the aging decision maker. Frontiers in Decision
Neuroscience, 6-19.
Medienkompetenz
Nach Ansicht mancher Experten ist das Gehirn im digitalen Zeitalter überfordert, da es noch nicht auf die Informationsflut eingestellt ist. Dennoch nimmt man an, dass die Menschen sich mit der Zeit darauf einstellen werden, denn das Internet bietet im Hinblick auf persönliche Autonomie viel Transparenz, verbessert also die Entscheidungsgrundlagen, jedoch müssen die Menschen erst lernen, dass die im Internet aktiven Informationsvermittler teilweise eigene Interessen verfolgen und nicht unbedingt neutral informieren. Außerdem macht allein die Verfügbarkeit von Wissen den Einzelnen nicht klüger, denn das Wichtigste angesichts der Fülle an Informationen ist das Filtern jener, die für die Lösung eines Problems relevant sind. Pädagogen, Wissenschaftler, Politiker und Eltern fordern angesichts der Informationslut durch die neuen Medien in jüngster Zeit für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen verstärkt Medienkompetenz. Baacke (1973, 1996) hat den Begriff der Medienkompetenz maßgeblich geprägt, indem er sich dabei auf das von Habermas entwickelte Konzept der kommunikativen Kompetenz bezieht, das wiederum auf dem von Chomsky entwickelten Konzept der Sprachkompetenz basiert.. Medienkompetenz nach Baacke ist "also grundlegend nichts anderes als die Fähigkeit, in die Welt aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen" (Baacke, 1996, S. 119). Dabei hebt Medienkompetenz auf die Veränderung der Kommunikationsstrukturen durch technisch industrielle Vorkehrungen und Erweiterungen ab und erweitert so die alltägliche kommunikative Kompetenz. Medienkompetenz ist im Medienzeitalter daher als ein wesentlicher Bestandteil kommunikativer Kompetenz zu betrachter, der aber im Gegensatz zur alltäglichen Kommunikationskompetenz intensiver gelernt, geübt und weiterentwickelt werden muß.
Nach Baacke (1996) lassen sich vier Dimensionen von Medienkompetenz aufzeigen, die deutlich machen, auf welche Weise sich der Begriff konkret im Handeln, Wissen und Denken der Menschen widerspiegeln kann:
- Medienkritik meint die Fähigkeit, sich analytisch, reflexiv und ethisch mit Medien auseinanderzusetzen. Problematische gesellschaftliche (Medien-)Prozesse sollen angemessen erfasst werden können, mit der Konsequenz, das analytische Wissen auf sich selbst und sein Handeln (sozial verantwortet) anzuwenden.
- Medienkunde bezieht sich auf das Wissen über heutige Mediensysteme und &endash;strukturen, dabei ist zwischen der informativen und der instrumentell-qualifikatorischen Dimension zu unterscheiden: Die informative Dimension umfasst klassische Wissensbestände. Hierzu gehört beispielsweise das Wissen um die Strukturen des dualen Rundfunksystems, um die Arbeit von Journalisten, um Programmformate und -genres sowie Wissen über den effektiven Einsatz des Computers als Arbeitshilfe. Die instrumentell-qualifikatorische Dimension meint hingegen die Fähigkeit, Geräte bedienen zu können, also z.B. das sich Einarbeiten in die Handhabung einer Computer-Software oder die Bedienung eines Videorecorders.
- Auch die Dimension der Mediennutzung lässt sich in zwei Aspekte aufgliedern. So bezieht sich die rezeptive Nutzung auf die reine Anwendung instrumentell-qualifikatorischer Wissensbestände. D.h. der potentielle Rezipient, der über das notwendige Wissen verfügt, um Medien nutzen zu können, wendet dieses auch tatsächlich an und wird zum realen Nutzer einseitig gerichteter Medienkommunikation. Die interaktive Nutzung geht über den einseitigen Mediengebrauch insofern hinaus, als dass der Nutzer nicht nur Rezipient, sondern im Rahmen der Kommunikationssituation auch Anbieter von Medienbotschaften ist. Hierzu gehört primär die Fähigkeit, antworten zu können, wie sie z.B. beim Tele-Banking, Tele-Shopping oder im Telediskurs notwendig ist.
- Mediengestaltung ist zum einen als innovative Gestaltung des Mediensystems zu verstehen, im Sinne von Veränderungen und Weiterentwicklungen bestehender Angebote. Im Hinblick auf die Mediennutzung Jugendlicher kann hier z.B. die Entwicklung von Softwareprogrammen gemeint sein. Zum anderen umfasst Mediengestaltung die kreative Gestaltung als ästhetische Variante, das Über-die-Grenzen-der-Kommunikationsroutine-Gehen. Das Verfremden bekannter Werbelogos zum Zweck der Ironisierung oder Provokation kann exemplarisch für diese Dimension angeführt werden.
Moser (1999, S. 217) bezieht sich auf die neuesten Medien und konkretisiert Medienkompetenz weiter:
- Medienkompetenz muss technisch als Notwendigkeit gesehen werden, Medien richtig zu handhaben, ihre Grundfunktionen sowie die mit ihnen verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten zu beherrschen. Damit entspricht Moser Baackes Forderung nach Medienkunde im Sinne instrumentell-qualifikatorischer Kompetenzen.
- Dem Medienkompetenz-Konzept von Baacke kommt Moser ebenfalls entgegen, wenn er Medienkompetenz reflexiv "als kritische Vergewisserung der Funktion der Medien in der Gesellschaft und als Medienkritik" versteht.
- Einen neuen Aspekt der Medienkompetenz betont Moser mit der Forderung kultureller Kompetenzen. Das Vertrautsein mit den jeweiligen Codes der Medien sowie mit ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen ist seiner Ansicht nach ein wesentliches Merkmal im kompetenten Umgang mit Medien. Offen bleibt dabei aber die empirische Umsetzung bzw. Operationalisierbarkeit der Begriffe. So ist die Forderung nach multi-kultureller Kompetenz unächst sehr abstrakt, wenn sie definiert wird als sich "in verschiedenen Sphären eines globalisierten Raumes zu bewegen".
- Als vierte Dimension von Medienkompetenz sieht Moser schließlich soziale Kompetenzen. Hier führt er - über Baacke hinausgehend - einen neuen und wesentlichen Aspekt im Umgang mit Medien auf, der insbesondere auch durch die Einführung Neuer Medien an Bedeutung gewinnt. Die Fähigkeit, auf die mit Medien verbundenen Kommunikationsangebote und -zumutungen sinnvoll eingehen zu können, ist wesentlich, will man sich in neuen Medienwelten zurechtfinden. Internet und Intranet, neue Arbeitsformen wie Telearbeit und virtuelle Netzwerke fordern spezifische Umgangsformen und verlangen nach neuen Organisationsformen zwischenmenschlicher Kommunikation.
Kritische Ignorieren, um der Informationsfluss zu entgehen
Minderwertige und irreführende Online-Informationen ziehen die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich, indem sie häufig Neugier, Empörung oder Wut hervorrufen. Um bestimmten Arten von Informationen und Akteuren im Internet zu widerstehen, müssen die Menschen neue mentale Gewohnheiten annehmen, die ihnen helfen kann, sich nicht von aufmerksamkeitsheischenden und potenziell schädlichen Inhalten verführen zu lassen. Und dieser Informationsflut zu entgehen, empfehlen Kozyreva et al. (2022) eine Strategie des kritischen Ignorierens, wobei es einige einfache Techniken gibt, mit denen man seinen Konsum von Informationen steuern kann. Man untersuchte daher drei Arten von kognitiven Strategien zur Umsetzung des kritischen Ignorierens: die Selbstkontrolle, bei der man Verlockungen ignoriert, indem man sie aus seinem digitalen Umfeld entfernt, das Querlesen, bei dem man Informationen überprüft, indem man die Quelle verlässt und ihre Glaubwürdigkeit an anderer Stelle im Internet überprüft, und die Heuristik „Do-not-feed-the-trolls“, die einem rät, bösartige Akteure nicht mit Aufmerksamkeit zu belohnen. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren sollten diese Strategien zur Umsetzung des kritischen Ignorierens Teil der Lehrpläne für die digitale Informationskompetenz sein, wobei sie Vermittlung der Kompetenz des kritischen Ignorierens einen Paradigmenwechsel im Denken der Pädagogen erfordert, weg von der ausschließlichen Konzentration auf die Macht und das Versprechen, aufmerksam zu sein, hin zu einer zusätzlichen Betonung der Macht des Ignorierens. Die Ermutigung von Schülern bzw. Schülerinnen und anderen Online-Nutzern und -Nutzerinnen zum kritischen Ignorieren könnte diese befähigen, sich vor den Auswüchsen, Fallen und Informationsstörungen der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie zu schützen. Erregt also eine Information etwa im Internet Aufmerksamkeit und Interesse, empfiehlt sich zuerst eine Kritik der Quelle vor dessen Beachtung, denn wer zuerst etwa liest und erst danach kritisch überprüft, hat die möglicherweise unsinnige Informationen schon aufgenommen, bevor er sie wieder loswerden kann. Neben Zeit kostet es auch fundierte Expertise, um Informationen zu überprüfen,, wobei nurwenige Menschen über ein solches Fachwissen verfügen, sodass sich sehr oft falsche Bausteine in das Bild eines Phänomens eines Menschen einfügen. Man sollte also zuvor die Suchmaschinen bemühen, bevor man sich auf eine neue Information einlässt, denn meist ist schon in kurzer Zeit klar, wer mit welchen Interessen hinter der Aussage steckt und wie qualifiziert sowohl Quelle als auch Autor sind.
Das Zeitalter der sekundären Oralität
Mit dem Beginn des elektronischen Zeitalters (Telefon, Radio, Fernsehen) beginnt ein "Zeitalter der sekundären Oralität", wobei der Computer schließlich die Verfügbarkeit und räumliche Darstellbarkeit des Wortes weiter intensiviert bzw. maximiert, denn er erschafft nicht nur den perfekten, elektronischen, grenzenlosen Raum, sondern ermöglicht in diesem Raum eine räumliche, von der Zeit unabhängige Bewegung, und ist damit in der Lage, analytische Abfolgen zu optimieren, indem er sie faktisch gleichzeitig ablaufen lässt, wie etwa bei Hypertext oder sonstigen interaktiven Anwendungen.
Diese neue sekundäre Oralität weist überraschende Ähnlichkeit mit der primären Oralität auf. In den frühen oralen Kulturen gab es keine Schrift, das Denken und der Ausdruck bzw. die Sprache waren klangbestimmt. Wörter waren Ereignisse, die lediglich für einen Moment und in einem gewissen Kontext existierten. Wörter verschwinden mit der Zeit und können nicht festgehalten oder nachgeschlagen werden. Man kann sie nur aus der Erinnerung zurückrufen. Ohne memorierbare Gedanken ist weder ein Denken noch Sprache möglich. In oralen Kulturen haben sich Mnemotechniken entwickelt, die für uns Literalisierte manchmal nur schwer nachvollziehbar sind, da unser Denken auf der visuellen und räumlichen Fixierung des Wortes basiert. Die primäre Oralität beförderte auch die Spontaneität, weil ihr die analytische Reflektivität, die das Schreiben mit sich bringt, verschlossen bleibt. Insgesamt waren Persönlichkeitsstrukturen begünstigt, die gemeinschaftlich orientiert und nach außen gerichtet waren, da das Wort den Menschen an eine Gruppe bindet und mindestens ein Dialog stattfinden muß, um den Denkprozess bzw. den Sprechakt zu starten.
Sekundäre Oralität befördert die Spontaneität, weil durch analytische Reflexion erkannt wird, dass Spontaneität eine gute Sache ist. Ein Merkmal dieser sekundären Oralität ist, dass ein Individuum bewusster handelt, denn es orientiert sich ja nach außen, weil es weiss, dass es der Gemeinschaft bedarf um nicht zu vereinsamen. Es entwickelt einen Sinn für unendlich große Gruppen, den Marshall McLuhan mit dem Begriff "globales Dorf" auf den Punkt gebracht hat. Erinnert man sich an die Psychodynamik der Oralität, dann weiss man, dass Denken und Sprache von formularischen und sozialen Zwängen gelenkt wurden. Im elektronischen Zeitalter passen sich Inhalte und Sprecher der Psychologie des Mediums an, im Fernsehen etwadominieren kurze Statements, Unterhaltung steht unter ständigem Zeitdruck, was aggressive Impulse weitgehend vermeidet.
Menschliche Kommunikation, verbale oder andersgeartete unterscheidet sich von der medialen grundsätzlich dadurch, dass sie berechenbares Feedback benötigt, um überhaupt stattfinden zu können. Im Hinblick auf die "neuen Medien", deren Integration in der allgemeinen Bevölkerung heute noch nicht ganz vollzogen ist, erkannte Walter Ong (1982) die Entwicklung eines "selbstverständlich-zwanglosen" Stils, welcher der Auffassung typographisch geprägter Personen entspricht, der orale Austausch sei gewöhnlich formlos. Untersucht man Inhalte und Strukturen des Internet, so fällt sofort deren Mannigfaltigkeit auf. Es gibt praktisch nichts, was man dort nicht findet. Der zwischenmenschliche Austausch ist nur einen Klick vom wissenschaftlichen Forschungsergebnis entfernt. Jeder kann seine Gedanken frei formulieren und plazieren. Man kommuniziert mit der ganzen Welt, bleibt aber trotzdem allein vor dem Bildschirm. Die Dynamik von Oralität und Literalität wird zum integralen Bestandteil der modernen Bewusstseinsentwicklung. Sie treibt diese zu stärkerer Innerlichkeit und gleichzeitig zu grösserer Offenheit.
Literatur
Baacke, D. (1973). Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München.
Baacke, D. (1996). Medienkompetenz - Begrifflichkeit und sozialer
Wandel. In A. von Rein (Hrsg.), Medienkompetenz als Schlüsselbegriff.
Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Kozyreva, Anastasia, Wineburg, Sam, Lewandowsky, Stephan & Hertwig,
Ralph (2022). Critical Ignoring as a Core Competence for Digital
Citizens. Current Directions in Psychological Science,
doi:10.1177/09637214221121570.
Moser, H. (1999). Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. Opladen: Leske+Budrich.
Ong, Walter (1987). Oralität und Literalität - die Technologie des Wortes. Opladen: Westdeuscher Verlag.
Stangl, W. (2022, 13. November). Wie man der Informationsflut entgehen kann: das kritische Ignorieren. arbeitsblätter news.
https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/wie-man-der-informationsflut-entgehen-kann-das-kritische-ignorieren/
Vanman, Eric, Baker, Rosemary, Tobin, Stephanie (2018). The burden of online friends: the effects of giving up Facebook on stress and well-being. The Journal of Social Psychology, doi: 10.1080/00224545.2018.1453467.
http://www.pressetext.at/pte.mc?pte=020503024
http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article122536789/Hunderte-Freunde-bei-Facebook-und-doch-alleine.html (13-12-05)
Entstanden unter Verwendung von
Hugger, Kai-Uwe, Vollbrecht, Ralf & Wegener, Claudia (2000).
Modul: "Jugend und Medien". Virtuelle Vorlesung: Medienpädagogik.
WWW: http://www.tu-dresden.de/erzwiae/MP/Modul_Jugend_und_Medien/ (01-11-06)
inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::