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Gehirn und Geschlecht

Nach Maurer (2002) war in der Hirnforschung des 19. Jahrhunderts das weibliche Gehirn als Forschungsgegenstand ein zentrales Thema, um dessen Minderwertigkeit und mangelnde geistige Leistungs- und Bildungsfähigkeit naturwissenschaftlich objektiv unter Beweis zu stellen, etwa im Sinne einer daraus folgenden naturgegebenen weiblichen Bestimmung. Dadurch sollte u. a. den Forderungen nach dem Zugang von Frauen zu höherer Bildung oder zum Wahlrecht entgegengetreten werden. Zu dieser Zeit hat es sich unter den Naturforschern und Ärzten die „cephalozentrische These immer mehr durchgesetzt, dass das Gehirn der Sitz von Verstand, Vernunft und Intellekt sei. Vor dem Hintergrund des Glaubens an eine Stufenleiter der Vervollkommnung in der Evolution bestand die international betriebene Forschungsaufgabe darin, Rangordnungen entlang einer allmählich aufsteigenden Skala aufzustellen, deren Norm der weiße Mann war, wobei alle tieferstehenden Gruppen wie Rassen, Geschlechter und Schichten mit den Kindern weißer Männer verglichen wurden. Das normale Standardgehirn des 19. Jahrhunderts war also das männliche Gehirn, das weibliche Gehirn bedeutete vor allem eine Abweichung davon. Mit sorgfältig ausgearbeiteten wissenschaftlichen Arbeiten wurde eine hirnbiologische Geschlechter- und Rassenanthropologie begründet, die bestehende soziale Ungleichheiten legitimieren half.

Die Erforschung des menschlichen Gehirns im 19. Jahrhundert und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war demnach weniger mit dem Wunsch verknüpft, neurologische Gemeinsamkeiten unter den Menschen herauszuarbeiten, sondern war auf die Suche nach Unterschieden ausgerichtet, nämlich nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern und nach Unterschieden zwischen verschiedenen Ethnien. Zwar gilt die Geschlechter- und Rassenanthropologie  heute als überholt, doch wird in der aktuellen Diskussion wieder vom „weiblichen Gehirn“ als einem vom „männlichen Gehirn“ unterschiedlichen gesprochen bzw. werden entsprechende Standardmodelle entwickelt. Zwar werden die Gehirne von Männern zumindest explizit nicht mehr als die zugrundegelegte Norm für alle Gehirne angesehen, sondern weibliches und männliches Gehirn werden nebeneinander gestellt. Zwar stellt die These vom fundamental unterschiedlichen „weiblichen“ und „männlichen“ Gehirn heute keine zentrale Thematik mehr dar, taucht aber immer wieder als Fokus von Forschungsarbeiten auf, und wird dann oft von Massenmedien publikumswirksam aufbereitet und im Sinne weiterer Polarisierungen angeblicher Geschlechtsunterschiede weiterverbreitet. Allerdings ist zu fragen, aufgrund welcher Befunde wird in der Hirnforschung von einem „weiblichen“ und „männlichen“ Gehirn gesprochen? Wie sind diese Befunde zu bewerten? Mit welchem Recht oder Unrecht kann dementsprechend überhaupt ein „Sexualdimorphismus“ hinsichtlich Struktur und Funktion des Zentralnervensystems behauptet werden, außer in dem trivialen Sinne, dass damit die Zugehörigkeit zu einer als „männlich“ bzw. „weiblich“ klassifizierten Person ausgesagt wird?

Die Humangenetik hat gezeigt, wie viel der späteren Eigenschaften eines Menschen schon in den Genen festgelegt ist, wobei es zahlreiche strukturelle und funktionale Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Gehirn gibt. Mithilfe bildgebender Verfahren war es möglich, die Aktivitäten des weiblichen und des männlichen Gehirns bei der Bewältigung verschiedener Aufgaben zu beobachten und dabei festzustellen, dass die Gehirne von Frauen und Männern in manchen Bereichen ganz unterschiedlich funktionieren, wobei sich in manchen Punkten die Erkenntnisse gängigen Klischees durchaus annähern. So lösen beispielsweise Frauen bestimmte mathematische Aufgaben anders als Männer, verfügen über ein weniger ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen, besitzen aber bessere Kommunikationsfähigkeiten, können sich besser in andere einfühlen und erinnern sich leichter an Details als Männer. Dafür sind im männlichen Gehirn jene Areale stärker entwickelt, die für Aggression und sexuelles Verlangen zuständig sind. Neurowissenschafter fordern deshalb, man müsse sich vorbehaltlos mit den angeborenen geschlechtsspezifischen Unterschieden auseinandersetzen, anstatt sie aus Gründen der Political Correctness wegzudiskutieren, denn nur durch vermehrtes Wissen können diese Unterschiede überwunden werden.

Für die Wirkung von Umwelteinflüssen auf das Gehirn und auf die Epigenetik gibt bis zur Pubertät offene, neurologische Fenster, doch was die grundlegende biologische Struktur des Gehirns betrifft, so ereignen sich die wesentlichen Prägungen bereits im Mutterleib. Bis zur achten Schwangerschaftswoche haben alle Embryonen ein weibliches Gehirn, danach werden die Weichen für die geschlechtsspezifische, unterschiedliche Entwicklung der Gehirne gestellt, denn dann löst das Y-Chromosom bei den männlichen Föten einen Testosteronschub aus, der das Wachstum des Kommunikationszentrums hemmt, während die Entwicklung des Aggressions- und Sexualzentrums forciert wird. Durch psychischen Stress ausgelöste Schwankungen im mütterlichen Hormonhaushalt können aber diesen Prozess beeinflussen. In dieser Phase bildet sich u.a. die sexuelle Orientierung heraus, wobei neben genetischen Faktoren auch eine unterschiedliche hormonelle Versorgung im zweiten Schwangerschaftsmonat die Basis für eine spätere homosexuelle Neigung liefern könnte, denn man fand beim Vergleich von Computerscans, dass bestimmte Gehirnareale von homosexuellen Männern jenen von Frauen glichen.

Das männliche Gehirn ist auch im Verhältnis zur Körpergröße um rund neun Prozent größer, das weibliche hingegen verfügt über einen stärker ausgeprägten Balken, also die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, es ist stärker gefurcht und weist insgesamt mehr neuronale Verbindungen auf. Das Sprachzentrum ist bei Männern eher in der linken Hirnhälfte lokalisiert, während es bei Frauen auf beiden Seiten gleich stark ausgeprägt ist, was ein Grund dafür sein könnte, dass Buben im Kleinkindalter durchschnittlich später zu sprechen beginnen. Bei Frauen sind jene Gehirnareale größer, welche das eigene Verhalten kontrollieren, und auch die Zentren, die Informationen verarbeiten und Erinnerungen speichern, sind bei Frauen stärker ausgeprägt. Frauen schneiden daher für gewöhnlich in Tests besser ab, die den guten Umgang mit Sprache voraussetzen, und besitzen auch eine ausgeprägtere feinmotorische Koordination. Dagegen zeigen Männer Vorteile bei zielgerichteten motorischen Leistungen, wie dem Werfen und Auffangen von Gegenständen und bei Aufgaben zum räumlichen Vorstellungsvermögen. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Verhältnis zu den Schwankungen unter den Angehörigen desselben Geschlechts eher gering.


Kurioses: Als der britische Neurologe Henry C. Bastian 1882 feststellte, dass das Gehirngewicht des männlichen Negers mit dem Gewicht des Gehirns der europäischen Frau übereinstimmt, schien dadurch die Überlegenheit des weißen Mannes über die Frau und den Fremden wissenschaftlich bewiesen.


Bisher hat man in Gruppenstudien versucht, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowohl in Bezug auf die kognitive Leistung als auch auf die strukturelle und funktionelle Gehirnorganisation zu beschreiben. Eine neue Studie (Weis et al., 2019) hat mit Hilfe eines maschinellen lernenden System untersucht, wie genau das Geschlecht der Teilnehmer basierend auf dem räumlich spezifischen Ruhezustand klassifiziert werden kann, wobei Proben aus mehreren Studien verwendet wurden. Der Klassifikator, der an einer Probe geschult und an den anderen beiden getestet wurde, war in der Lage, das Geschlecht sowohl innerhalb der Probe als auch zwischen unabhängigen Proben zuverlässig zu klassifizieren, wobei er sich sowohl in Bezug auf die Abbildungsparameter als auch auf die Probenmerkmale unterschied. Hirnregionen mit höchster Genauigkeit bei der Geschlechtsklassifizierung befanden sich hauptsächlich entlang des cingulären Cortex, des medialen und lateralen frontalen Cortex, der temporoparietalen Regionen, der Insula und des Präkuneus. Diese Bereiche waren bei allen Proben stabil und passen gut zu den zuvor beschriebenen Geschlechtsunterschieden in der funktionellen Gehirnorganisation. Die Studienergebnisse zeigen, dass Bereiche im Gehirn bei Frauen anders vernetzt und verknüpft sind als bei Männern, doch erlauben diese Resultate jedoch keine Bewertung dieser Unterschiede im Sinne von "Frauen können besser mit Gefühlen umgehen". Das bedeutet, dass diese Daten zwar einen klaren Zusammenhang zwischen Geschlecht und regionalspezifischer Gehirnvernetzung zeigen, jedoch keinen eindeutigen Dimorphismus in der funktionellen Gehirnorganisation unterstützen, der allein durch das Geschlecht bestimmt wird. Offen bleibt daher auch die Frage, welche Ursachen es für diese Unterschiede im Gehirn gibt, denn denkbar sind neben biologischen auch erworbene Ursachen etwa durch die Erziehung.

Bei der Gehirnentwicklung spielt auch das soziale Umfeld eine wichtige Rolle, denn es zeigte sich in Experimenten, dass soziale Erfahrungen wie Rollenzuweisungen, Verfügbarkeit von Ressourcen und Geschlechterhierarchien Auswirkungen auf die Gehirnarchitektur haben. Eine Studie in einer Grundschule hat das drastisch vor Augen geführt, bei der man in einer Klasse Aufgaben mit dem Hinweis verteilt hat, dass Mädchen das ohnehin nicht können, woraufhin die Mädchen diese Aufgaben nicht geschafft haben, während in der anderen Klasse dieser Hinweis nicht gegeben wurde. In dieser zweiten Klasse haben Mädchen und Buben die Aufgaben gleich gut gelöst, d. h., dass die soziale Erziehung bzw. das gesellschaftliche Umfeld sogar Unterschiede produziert, die in der Gehirnleistung gar nicht vorhanden sind.

Nach Ansicht der britischen Psychologin Cordelia Fine ist es Unsinn, dass Männer aufgrund ihrer Biologie angeblich "so" und Frauen "anders" sind. Der Fehler liegt dabei schon in der Annahme, dass biologisch bedeutet, etwas sei fix und damit unveränderlich. Zwar gibt es Studien zu Unterschieden zwischen Gehirnen von Männern und Frauen, aber ein Gehirn entwickelt sich durch die Erfahrungen, die der Mensch macht und diese Erfahrungen sind es, die für Männer und Frauen oft unterschiedlich sind. Zwar gibt es einige Persönlichkeitsmerkmale und Charakteristika, die im Durchschnitt bei Männern und Frauen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, aber zum einen sind diese Unterschiede relativ klein, und zum anderen addieren sie sich nicht zu einem großen Mann-Frau-Unterschied, sondern es ist eher ein "Geschlechts-Mosaik", d. h., jedes Gehirn hat seine individuelle Kombination aus eher männlichen und eher weiblichen Anteilen. Diese Kombinationen sind so unterschiedlich, wie alle Menschen als Individuen unterschiedlich und einzigartig sind. Zwar beeinflusst Testosteron das Verhalten, doch reagiert Testosteron nur auf das, was mit dem Menschen gerade in einer Situation geschieht, d. h., es hilft den Betroffenen, mit einer bestimmten Situation klarzukommen. Doch sowohl bei Frauen als auch bei Männern scheint es jede Menge an Faktoren zu geben, wann und ob das passiert.

In ihrer Jugend durchlaufen Menschen eine Vielzahl körperlicher und psychischer Veränderungen, die mit einer erhöhten Emotionalität einhergehen, wobei es wichtig ist, für das soziale Funktionieren im Alltag, aber auch für das eigene körperliche und mentale Wohlbefinden, diese Gefühle erkennen, verarbeiten und kontrollieren zu können. Jugendlichen, die an einer Störung des Sozialverhaltens leiden, fällt dieser Prozess schwer, was zu antisozialen, oft aggressivem und klar von der Alternsnorm abweichenden Reaktionen führt, etwa zu Fluchen, Zuschlagen, Stehlen oder Lügen. Im Rahmen des FemNAT-CD-Projekts, einem europaweiten Forschungsprojekt, das sich mit den Ursachen und der Therapie von regelverletzendem und aggressivem Verhalten bei Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens befasst, geht es auch um die Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten. In dieser Studie werden insgesamt bei 1840 Kindern und Jugendlichen im Alter von 9 bis 18 Jahren aus ganz Europa (Großbritannien, Deutschland, Irland, Schweiz, Niederlande, Spanien, Griechenland und Ungarn) Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Buben und Mädchen in Bezug auf Gehirnstruktur und -funktion, Hormonspiegel, Genetik, Emotionserkennung und -regulation sowie physiologische Aktivität verglichen. Dabei zeigte sich, dass Mädchen mit problematischem Sozialverhalten eine reduzierte Hirnaktivität und eine schwächere Vernetzung zwischen Hirnregionen zeigen, die für die Emotionsregulation relevant sind, und zwar in den präfrontalen und temporalen Gehirnarealen, die die kognitiven Kontrollprozesse steuern. Diese Resultate bieten erstmals einen neuronalen Erklärungsansatz für Emotionsregulationsschwierigkeiten von Mädchen mit auffälligem Sozialverhalten. Die unterschiedliche neuronale Aktivität in den beiden Versuchsgruppen kann auf fundamentale Differenzen bei der Gefühlsregulation hinweisen. Sie ist möglicherweise aber auch auf eine verzögerte Hirnentwicklung bei den Versuchsteilnehmerinnen mit problematischem Sozialverhalten zurückzuführen. Offen bleibt, ob männliche Teenager mit einer Störung des Sozialverhaltens ähnliche Hirnaktivitäten während der Emotionsregulation zeigen (Raschle, N. M. et al., 2019).

Siehe zu dieser Thematik auch Geschlechtsunterschiede

Literatur

Goebel, T. (2011). Hirnwindungen: Was Denk- und Gefühlszentren von Mann und Frau unterscheidet.
WWW: http://www.profil.at/articles/1129/560/302521/mann-frau-hirnwindungen (11-07-22)

Maurer, M. (2002). Sexualdimorphismus, Geschlechtskonstruktion und Hirnforschung. In Ursula Pasero & Anja Gottburgsen (Hrsg.), Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik (S. 65-108). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Raschle, N. M. et al. (2019). Atypical dorsolateral prefrontal activity in females with conduct disorder during effortful emotion regulation. Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging, doi:10.1016/j.bpsc.2019.05.003.

Stangl, W. (2008). Geschlechtsunterschiede.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Geschlechtsunterschiede.shtml (11-02-02)
Weis, Susanne, R Patil, Kaustubh, Hoffstaedter, Felix, Nostro, Alessandra, Yeo, B.T. Thomas & Eickhoff, Simon(2019). Sex Classification by Resting State Brain Connectivity. Cerebral cortex, doi:10.1093/cercor/bhz129.



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