[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Eimertheorie vs Scheinwerfertheorie

Warum schwimmt hier ein schwarzer Schwan?

Die Eimertheorie des Denkens schließt an die Ansicht "Nihil in intellectu quod non prius in sensu" an, d.h., dass wir nicht über etwas denken können, das uns nicht zuvor durch unsere Sinne erreicht hat. Diese Analogie vergleicht Kognition mit einem Eimer, der sukzessiv mit Wissen durch unsere Sinnesorgane gefüllt wird. Lernpsychologisch betrachtet entspricht das weitgehend dem Black-Box-Modell der klassischen Lerntheorien.

Nach Popper (1979) hingegen ist aber die Grundlage für das Entdecken, Forschen bzw. für die Erkenntnisgewinnung des Menschen im allgemeinen, dass Fragen, Erwartungen oder Hypothesen den praktischen Beobachtungen vorangehen: Wir lernen nicht aus blinden Erfahrungen, sondern indem wir über Probleme stolpern und Fragen stellen. Dabei ist der Lernprozess besonders hoch, wenn der Lernende einen möglichst hohen Eigenanteil an der Erkenntnisgewinnung hat, wenn er also selbst die Überprüfung der aufgestellten Hypothese leistet. Diese Scheinwerfertheorie des Denkens geht also den umgekehrten Weg. Wissen wird aktiv in Form von zunächst ungeprüften Vermutungen konstruiert. Erfahrung ist damit nicht die Quelle dieser Hypothesen, sondern erst die Beobachtung wählt aus diesen auch manchmal widersprüchlichen Vermutungen die "brauchbarste" aus. Kognition geht also von einem zuvor gezimmerten "Weltbild" aus in Richtung Erwartungen, die einer Bestätigung bedürfen. Solange Erwartungen mit den sensorischen Bestätigungen übereinstimmen, kann das zurzeit bestehende Hypothesengebäude aufrecht erhalten bleiben.
Diese Vorstellung ist ähnlich der Situation, die man in einer tiefschwarzen Nacht bei Stromausfall in der eigenen Wohnung vorfindet. Im Allgemeinen hat man trotz der fehlenden Beleuchtung keine Probleme, sich in den eigenen vier Wänden zurechtzufinden. Das Wissen über räumliche Zusammenhänge helfen bei der Orientierung, unterstützt durch gelegentliches Herumtasten, um die Richtigkeit der momentanen "Vermutung" zu überprüfen.

Kann die Scheinwerfertheorie gerechtfertigt werden? Arbeitet unser Denken nach der Scheinwerfermethode, die Erfahrung sekundär einstuft, so stellt sich die Frage, ob wir damit nicht von einer Tabula Rasa starten müssen, wir also anzunehmen haben, dass wir zu Beginn kein Wissen über die Umwelt haben. Tatsächlich ist dies der Fall, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass unser Nervensystem keinerlei Information über die Bedeutung einer übertragenen Nachricht liefert. Dieses Prinzip der indifferenten Kodierung verlangt geradezu die Annahme, dass das Gehirn erst "Sinn" erzeugt. Damit ist unser Denken dadurch charakterisiert, dass es Gebäude von Vermutungen verwendet, die diesen anonymen Nervensignalen entspringen. In weiterer Konsequenz ist damit die Auffassung einer Korrespondenztheorie überflüssig, nämlich, dass Kognition Information von der Umgebung abbildet, vielmehr liegt eine (auf die Informationsverarbeitung bezogene) operationale Geschlossenheit vor: Jede Zustandsänderung der relativen Aktivität einer Neuronengruppe führt zu einer Zustandsänderung der relativen Aktivität dieser oder einer anderen Neuronengruppe. Sinnesreize stellen dabei nur Perturbationen dar, welche den kognitiven Apparat in seinem Operieren zwar beeinflussen, aber nicht determinieren. Nicht "Information von Außen" charakterisiert die Funktionsweise des kognitiven Apparates, sondern die fortdauernde interne Konstruktion der Welt, die ankommende Perturbationen lediglich zu interpretieren sucht. Die Entwicklung vom Neugeborenen zum Erwachsenen im Speziellen und die evolutionäre Entwicklung kognitiver Kompetenz im Allgemeinen spiegelt diese fortdauernde Konstruktion wider.

Ein in diesem Zusammenhang vielfach zitiertes Beispiel ist das des Unterseebootnavigators, der sich (in Anbetracht der undurchdringlichen Finsternis in großen Tiefen) völlig auf Anzeigeinstrumente (also indifferente Nervensignale) verlässt und in Abhängigkeit davon gegebenenfalls diverse Hebeln und Knöpfe bedient. Aus unserer Perspektive zeigen die Instrumente selbstverständlich "etwas draußen" an, aber das ist für das korrekte Navigieren irrelevant. Worauf es ankommt, ist das Aufrechterhalten von Relationen zwischen Instrumenten. Popper belegt diesen Umstand mit der Aussage: "Observations are secondary to hypotheses".


Auch in den Neurowissenschaften dominierte lange die ­Ansicht, dass das menschliche Gehirn bei der Geburt einer Tabula rasa gleicht, die erst im Lauf des Lebens mit Sinneseindrücken und Erfahrungen gefüllt wird, doch hat dieses einfache Modell einige Schwachstellen, da sich viele Prozesse des Gehirns damit schwer oder gar nicht erklären lassen. Schon bei der Geburt ist ein junges Gehirn voller Informa­tionen, die nur noch sinnvoll mit Erfahrungen verknüpft werden müssen. Diese Ansicht ist überholt bzw. schlicht falsch! Bei der Geburt ist das menschliche Gehirn bereits mit grundlegenden neuronalen Netzwerken und Strukturen ausgestattet, die für die zahlreiche Funktionen des Körpers notwendig sind. Von da an ist die Entwicklung des Gehirns ein fortlaufender Prozess, der durch Erfahrungen, Umweltreize und Interaktionen mit der Welt geprägt wird. Neugeborene sind mit angeborenen Reflexen und grundlegenden Fähigkeiten wie dem Saugen und Greifen ausgestattet, aber ihre weiteren kognitiven Fähigkeiten, Sprache, Wissen und Verständnis entwickeln sich im Laufe der Zeit durch Lernen und Interaktionen mit ihrer Umgebung. Während der frühen Kindheit entwickelt sich das Gehirn jedoch sehr schnell und bildet zahlreiche Verbindungen zwischen den Neuronen, die durch immer mehr Erfahrungen und kontinuierliches Lernen geformt werden, was zu einem rasanten Aufbau von Wissen und Verständnis der Welt führt. Es gibt darüber hinaus angeborene Faktoren, die die Entwicklung des Gehirns beeinflussen, wobei auch die genetische Veranlagung eine Rolle bei der Prädisposition für bestimmte Fähigkeiten oder Verhaltensweisen spielen kann (Stangl, 2011).

Literatur

Riegler, Alexander (1999). Können wir das Problem der Echtzeitkognition lösen?
WWW: http://www.zum-thema.st/wissensbank/Riegler1.html (02-05-18)

Oerter, Rolf & Dreher, Michael (1995): Entwicklung des Problemlösens. In Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Weinheim: PVU.
Microsoft Encarta 1999.

Popper, Karl R. (1979). The Bucket and the Searchlight: Two Theories of Knowledge. In Objective Knowledge: An Evolutionary Approach (rev. ed.). Oxford: Clarendon Press.

Stangl, W. (2011, 15. Mai). tabula-rasa-Modell. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/26156/tabula-rasa-modell.



inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::


navigation: