Bedürfnisse
I need,
therefore I imagine.
Carlos Fuentes
Das Konzept der Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow
Abraham Maslow (1908 - 1970) wies das Menschenbild der Ethologie (Vergleichende Verhaltenswissenschaft) und der Psychoanalyse zurück, denn das Verhalten von Tieren und das Verhalten von neurotischen Menschen sollte seiner Meinung nach nicht als zentraler Ausgangspunkt zur Erklärung menschlichen Verhaltens verwendet werden. Er war Vertreter und Mitbegründer der "Humanistischen Psychologie".
Die humanistische Psychologie grenzt sich sowohl vom Behaviorismus als auch von der Psychoanalyse ab und bezeichnet sich so als "dritte Kraft" der Psychologie. Dazu gehören: Abraham Maslow, Charlotte Bühler, Carl Rogers, Fritz Perls, Sidney M. Jourard, Rollo May, Fred Massarik u.a. Man wollte eine Psychologie entwickeln, die das aktive Streben des Menschen nach einem erfüllten Leben, nach Anerkennung und Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt stellte. 1961 wurde unter dem Vorsitz von Abraham Maslow die "American Association of Humanistic Psychology" gegründet, die folgende Thesen vertritt:- Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die erlebende Person (nach theoretischen Erklärungen und sichtbarem Verhalten).
- Der Akzent liegt auf spezifisch menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu wählen, der Kreativi tät, Wertschätzung und Selbstverwirklichung.
- Die Auswahl der Fragestellung und Forschungsmethoden erfolgt nach Sinnhaftigkeit (weniger nach Objektivität).
- Ein zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von
Wert und Würde des Menschen, und das Interesse gilt
der Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden
Kräfte und Fähigkeiten.
Die Wurzeln der Humanistischen Psychologie lassen sich unschwer auf die europäischen Traditionen der Phänomenologischen Psychologie, der Psychologischen Anthropologie und auf die Leipziger Ganzheitspsychologie zurückführen. Größere Ähnlichkeiten finden sich in der Reformpädagogik (Georg Kerschensteiner, Peter Petersen, Maria Montessori) und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie, da bei diesen Richtungen die starke Betonung der Eigengesetzlichkeit menschlichen Denkens und Handelns und die Annahme dynamischer Kräfte im Menschen im Mittelpunkt stehen. Auch in ihrem Methoden greifen die humanistischen Psychologen auf altere Ansätze zurück, wie z.B. die phänomenologischen Methoden wie sie von Edmund Husserl, Theodor Lipps und Ludwig Klages benutzt wurden. Der Psychologie soll allem Seelischen ohne voreilige Deutung, Wertung oder Kritik mit derselben Aufmerksamkeit begegnen. Auf Grundlage der Humanistischen Psychologie sind mehrere Therapie- und Beratungsformen entwickelt worden.
Maslow ging davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut ist und sich selbst entfaltet. "Destruktivität, Sadismus, Grausamkeit sind nicht inhärent (also sie sind keine ureigenen menschlichen Bedürfnisse wie etwa bei Freud), sondern wesentliche Reaktionen auf Frustrationen unserer inhärenten Bedürfnisse" (Maslow, 1973, S. 21).
Der Mensch wird in seinem Verhalten von hierarchisch strukturierten Bedürfnissen geleitet. Diese lassen sich als Pyramide darstellen, an deren Basis sich die grundlegenden körperlichen Bedürfnisse befinden, während an der Spitze das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung steht, das aber erst dann verwirklicht werden kann, wenn alle grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt worden sind. Die Selbstverwirklichung, wie sie Maslow versteht, könnte mit einem mystischen Gipfelerlebnis verglichen werden: der Mensch übersteigt seine eigenen Grenzen, wird eins mit der Menschheit und dem Kosmos. In Maslows Sicht hat er damit den Kern der Existenz überhaupt erreicht. Diese Selbstverwirklichung basiert auf einem persönlichen Wachstum durch die Erfüllung eines Lebensauftrags, der in der Entfaltung der eigenen Kreativität liegen kann wie im selbstlosen Einsatz für eine gerechte Sache.
Siehe dazu Maslow, Abraham H. (1943). A
theory of human motivation. Psychological Review, 50, p.
370-396.
Bildquelle: http://cstl-cla.semo.edu/snell/PY432/book/maslow.jpg (02-01-02)
"Bedürfnispyramide von Maslow"
- Physiologische Bedürfnisse: Die wichtigsten sind Hunger, Durst und Sexualität. Wenn diese konstant befriedigt werden verlieren sie an Bedeutung.
- Sicherheitsbedürfnisse: Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität, Ordnung, Schutz, Freiheit von Angst und Chaos, Struktur, Ordnung, Gesetz. Wenn die physiologischen Bedürfnisse befriedigt sind, die Sicherheitsbedürfnisse aber nicht, bestimmen diese weitgehend unser Verhalten. Menschen wünschen sich eine vorhersagbare Welt, Inkonsistenz und Ungerechtigkeit verunsichern sie.
- Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse: Ergebnisse soziologischer Studien bestätigen die negativen Auswirkungen von Entwurzelung aus Bezugsgruppen (Wegzug der Familie in einen anderen Ort; Auflösung der Familie z.B. durch Scheidung; Emigration, Aussiedler). Tomova et al (2020) haben übrigens mittels funktioneller Magnetresonanztomographie die neuronalen Reaktionen gemessen, die durch Nahrung und soziale Reize hervorgerufen werden, nachdem die Probanden zehn Stunden Zwangsfasten oder totale soziale Isolation erlebt hatten. Nach der Isolation fühlten sich die Teilnehmer einsam und sehnten sich nach sozialer Interaktion, wobei die Regionen des Mittelhirns eine selektive Aktivierung auf Nahrungsmittelreize nach dem Fasten und auf soziale Reize nach der Isolation zeigten. Die Substantia nigra wird also bei Hunger und beim Verlangen nach sozialer Interaktion in ähnlicher Weise aktiviert, womit bestätigt wird, dass positive soziale Interaktion ein menschliches Grundbedürfnis darstellt.
- Wertschätzungs- und Geltungsbedürfnis: Das Bedürfnis umfaßt zum einen den Wunsch nach Stärke, Leistung und Kompetenz, zum anderen das Bedürfnis nach Prestige, Status, Ruhm und Macht. Darauf gründet sich das Selbstwertgefühl eines Menschen.
- Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (Wachstumsbedürfnis, Selbstaktualisierung): Damit spricht Maslow das Streben nach der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit an. Die Effekte dieses Strebens sind von Person zu Person sehr unterschiedlich. Es zeigt sich darin eine "Vorwärtstendenz" im menschlichen Wesen. Der Mensch drängt danach, die Einheit seiner Persönlichkeit zu erleben, er ist auf der Suche nach Wahrheit. Er drängt nach "vollem Sein": Heiterkeit, Freundlichkeit, Mut, Ehrlichkeit, Liebe, Güte ...
Die ersten vier Bedürfnisse nennt Maslow auch "Defizitbedürfnisse", da ungünstige Folgen zu erwarten bei Nichtbefriedigung sind (z.B. Krankheit) und ein Gefühl der Entbehrung hervorrufen. Bedürfnisse stehen untereinander in folgender Beziehung: Wenn ein Bedürfnis erfüllt ist, tritt das nächsthöhere an seine Stelle. Je höher das Bedürfnis, desto später in der Entwicklung einer Person entsteht es, sodass man bei Erwachsen in der Regel komplexere Bedürfnisstrukturen feststellen kann. Je höher das Bedürfnis, desto weniger wichtig ist es für das reine Überleben, denn es kann leichter aufgeschoben werden, sie werden als weniger drängend erlebt und können auch ganz verschwinden.
Ein Individuum, dessen Verhalten durch höhere Bedürfnisse bestimmt ist (das setzt voraus, dass alle grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt sind), ist seltener krank, schläft besser und lebt länger. Befriedigung höherer Bedürfnisse führt weg von psychopathologischen Erscheinungen (psychischen Krankheiten) und ist damit ein wichtiger Schutzfaktor für Gesundheit. Höhere Bedürfnisse werden sozial höher bewertet. Das Befolgen und die Befriedigung höherer Bedürfnisse haben positive soziale Konsequenzen (Loyalität, Freundlichkeit...).
Bildquelle:
http://www-public.tu-bs.de:8080/~wedelman/seminare/motivation_v.1/abb/maslow.jpg
(02-09-10)
Wie Hull nimmt er an, dass ein Bedürfnis nur so lange motiviert und das Handeln beeinflußt, wie es unbefriedigt bleibt. Dabei wird das Handeln weniger von innen getrieben, als von Befriedigungsmöglichkeiten angezogen. Der Grundgedanke von Maslows Klassifikation ist sein Prinzip der relativen Vorrangigkeit in der Motivanregung (s.o.). Sobald das erste Bedürfnis nicht befriedigt ist, wird auf die anderen Bedürfnisse nicht eingegangen werden. Wird z.B. ein Hungergefühl nicht erfüllt, wird sich der Lernende kaum auf die Inhalte der Unterrichtsstunde konzentrieren können. Schülern muß daher die Befriedigung verschiedener Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Toilettenbesuch gewährt werden. Demnach haben die Pausen eine wichtige Bedeutung, die unter keinen Umständen von LehrerInnen verkürzt werden dürfen.
Siehe auch Motive und Motivation
Maslows Bedürfnispyramide im Wandel der Zeiten ;-)
Quelle: https://plus.google.com/u/0/+Swissmarketingsolution/posts (15-08.20)
Merk-Geschichte
Auf der webpage von Hans Karl Schmitz (http://kontaktdesign.de/website-verbessern/motivieren/maslow.htm/) findet sich diese kleine Geschichte, um sich die Hierarchiestufen besser einprägen zu können.
Stellen Sie sich Robinson Crusoe vor, der gerade auf der einsamen Insel gestrandet ist. Was wird er wohl tun?
- Zunächst wird er versuchen, sein nacktes Überleben zu sichern, also Essen und frisches Wasser zu suchen, damit er wieder zu Kräften kommt. Wenn er erschöpft ist, wird er eine Weile schlafen --> Physiologische Grundbedürfnisse.
- Dann überlegt er sich, ob es auf der Insel wilde Tiere gibt. Und was ist, wenn das Wetter mal schlecht wird und es zu Stürmen kommt? Also versucht Robinson Crusoe, sich eine kleine Hütte zu bauen --> Sicherheitsbedürfnisse.
- Als das alles geklärt ist, beginnt Robinson Crusoe sich zu langweilen. Er führt Selbstgespräche und ist erfreut, als er einen Gefährten - Freitag - trifft --> Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse.
- Zu Beginn läuft auch alles gut zwischen beiden, aber dann möchte Robinson sich doch etwas von Freitag abheben und diesem zeigen, dass er ihm überlegen ist. Insgeheim freut Robinson sich riesig über die großen Augen von Freitag, als dieser ihm beim Schnitzen beobachtet --> Wertschätzungsbedürfnis.
- Als alles geschafft ist, sitzt er den Großteil des Tages am Strand, philosophiert über den Sinn des Lebens und bemüht sich, ein noch besserer Mensch zu werden --> Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.
Noch eine Merk-Geschichte
stammt von Reinhold Vogt ( http://www.memopower.de/), der Abonnenten seiner 'memoNews' ein eBook mit 17 Lerntipps kostenfrei zur Verfügung stellt: http://www.mnemonik.de/
Ein Neandertaler krabbelt nach etwa 30.000 Jahren Totenruhe aus seiner Pyramide.
- Weil er Hunger und Durst hat, sucht er im Wald nach Beeren, essbaren Wurzeln und nach einer Quelle. Nachdem er den ganzen Tag auf Nahrungssuche war, ist er müde und will sich in einer Höhle zum Schlafen niederlegen. (existenzielle Bedürfnisse)
- Aus der Ferne hört er jedoch Gewitter-Grollen und sieht das Leuchten der Blitze. Aus seinem 'letzten Leben' weiß er, dass solch ein Gewitter mit Gefahren für Leib und Leben verbunden ist. Sicherheitshalber schnitzt er deshalb aus einem Stück Baumrinde eine Maske, um die bösen Geister von Blitz und Donner abzuwehren, und hängt diese Maske vor den Eingang seiner Schlaf-Höhle. (Sicherheits-Bedürfnisse)
- Als er am nächsten Morgen aufwacht und aus seiner Höhle schaut, erblickt er einen anderen Neandertaler. Sie gehen aufeinander zu, umarmen und freuen sich, dass sie nicht allein sind auf dieser Welt. (Bedürfnis nach sozialen Kontakten) - (Ggf. könnte jetzt auch etwas passieren, was zur ersten Bedürfnis-Ebene passt ...)
- Nachdem sie sich ihre gestrigen Erlebnisse erzählt hatten, führt der eine den anderen zu einem von ihm selbst angelegten Blumenbeet. Voller Stolz erklärt er, wie man solch ein Blumenbeet anlegt. Der andere ist begeistert und zeigt seine Bewunderung ganz deutlich. Das tut dem 'Gärtner' richtig gut. (Bedürfnis nach Anerkennung)
- Angeregt durch die Schönheit der Blumen im Beet beschließen sie, ihre Höhlenwände mit farbigen Steinen anzumalen. Bei ihrer künstlerischen Beschäftigung fühlen sie sich wie Picasso. (Bedürfnis nach Selbst-Verwirklichung)
Kritik am Modell von Maslow
Uwe P. Kanning, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück, kritisiert Maslows Theorie, da sie zahlreiche konzeptionelle Probleme aufweist:
- Statt der fünf Bedürfnisse ließen sich mit gleicher Berechtigung acht oder zwölf Bedürfnisse unterscheiden.
- Maslow glaubt, dass bei den vier ersten Bedürfnissen eine natürliche Obergrenze der Bedürfnisbefriedigung existiert. Eine Überbefriedigung soll als unangenehm erlebt werden. Dies scheint die Realität nicht widerzuspiegeln. Wie plausibel ist es beispielsweise, dass Politiker oder Musiker zu viel Anerkennung als negativ erleben?
- Maslow geht davon aus, dass bei allen Menschen die Bedürfnisse in gleicher Weise hierarchisch aufgebaut sind. Dies ist weder empirisch begründet, noch ist es plausibel. Die Theorie kann beispielsweise nicht erklären, warum Menschen gesundheitliche oder wirtschaftliche Risiken eingehen, um sich sportlich oder künstlerisch zu verwirklichen.
- Unmittelbar benachbarte Stufen sollten stärker miteinander korrelieren als Stufen, die weiter entfernt sind. Dies ist nicht der Fall.
- Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden, sollten unser Denken und Streben stärker prägen als Bedürfnisse, die bereits befriedigt wurden. Dies lässt sich empirisch nicht belegen.
Seiner Meinung nach hat diese Theorie nur noch als historischen Wert, da sie sich letztlich nicht bewährt hat, d. h., fundierte Handlungsanleitungen lassen sich hieraus nicht ableiten.
Das Modell von Maslow läßt sich auch empirisch deshalb nicht bestätigen, da die Zufriedenheit eines Menschen nicht messbar, sondern nur über dessen Selbstaussage nachzuvollziehen ist. Der Begriff der Selbstverwirklichung stellt eine Leerformel dar, denn er muß stets inhaltlich ausgelegt werden, sodass jeder alles hineinpacken kann. Die Pyramide von Maslow ist - wie vielleicht die übliche Darstellung nahelegt, kein starres Konzept, das jeden Menschen gleichermaßen beschreibt, sondern die Grenzen zwischen den einzelnen Ebenen sind nicht starr, sondern verlaufen eher fließend. Die Theorie Maslows sollte daher lediglich als umfassende Struktur der menschlichen Ideale verstanden werden.
Nach Klaus Holzkamp (1985), dem Begründer der Kritischen Psychologie, verändert sich beim Menschen im Vergleich zum Tier die Art der Umweltkontrolle: Die bloß erkundende Umweltbeziehung der Tiere wird bei Menschen zur gestaltenden Weltbeziehung mit dem Ziel der verallgemeinert-vorsorgenden Abgesichertheit, nicht nur der primären Bedarfsbefriedigung. Die individuelle Umweltkontrolle der Tiere wandelt sich beim Menschen zur personalen Handlungsfähigkeit, d.h., um die Verfügung des Individuums über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß. Damit wird bei ihm die Handlungsfähigkeit zum ersten menschliches Lebensbedürfnis.
Literatur
Holzkamp, Klaus (1985). Grundlegung der Psychologie.
Frankfurt: Campus.
Tomova, Livia, Wang, Kimberly L., Thompson, Todd, Matthews, Gillian A., Takahashi, Atsushi, Tye, Kay M. & Saxe, Rebecca (2020). Acute social isolation evokes midbrain craving responses similar to hunger. Nature Neuroscience, 23, 1597-1605.
https://www.haufe.de/personal/hr-management/kolumne-warum-die-beduerfnispyramide-nicht-funktioniert_80_549052.html (21-08-11)
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