Handlungsorientierter Unterricht
Definition & Geschichte
Der Handlungsorientierte Unterricht beruft sich auf eine lange Tradition, die bis zu Rousseaus ganzheitlichem Bildungsideal oder Pestalozzis Bildungsformel zurückreicht. Neben Comenius, der ein Lernen mit allen Sinnen forderte, sprach sich auch Pestalozzi für ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand aus, aber auch von den Reformpädagogen wie Dewey, Kerschensteiner und anderen gingen viele Impulse in dieser Richtung aus, indem sie für ein tätiges, lebendiges und kindgerechtes Lernen plädierten und die „Schulbuchschule“ aus dem Unterricht verbannen wollten. Dieses Konzept erfuhr in den bildungspolitischen Diskussionen der letzten Jahre wachsendes Interesse, denn die Ansammlung von Faktenwissen verliert an Bedeutung. Hinzu kommen der Verlust an Eigenständigkeit durch Lernen aus zweiter Hand und auch eine in Bildungseinrichtungen zu beobachtende Entwicklung zum konsumierenden Lernen. Heute finden sich in der Theorie neben zahlreichen traditionellen Konzepten auch sehr viele Ansätze, die einen handelnden, subjektorientierten und erfahrungsbezogenen Unterricht fordern.
Merkmal
- Handlungsorientierter Unterricht ist ganzheitlich mit folgenden Aspekten:
- personal: Der Schüler soll "ganz" angesprochen werden, d.h. mit dem Kopf, aber auch mit dem Herzen (= den Gefühlen), den Händen und allen anderen Sinnen;
- inhaltlich: die Auswahl der Unterrichtsinhalte erfolgt nicht aufgrund einer wissenschaftlichen Fachsystematik, sondern aufgrund der Probleme und Fragestellungen, die sich aus dem vereinbarten Handlungsprodukt ergeben;
- methodisch: die gewählten U-methoden müssen ganzheitlich sein: Gruppen- und Partnerarbeit, Projektunterricht, Rollenspiel, Planspiel, Experimentieren, Erkunden usw.
- Handlungsorientierter Unterricht ist schüleraktiv, d.h. der Lehrer versucht, den SchülerInnen möglichst wenig vorzukauen und sie möglichst viel selbst erkunden, erproben, entdecken, erörtern, planen und verwerfen zu lassen (Selbsttätigkeit ist die unverzichtbare Voraussetzung für Selbständigkeit).
- Im Mittelpunkt des Handlungsorientierten Unterrichts steht die Herstellung von Handlungsprodukten (= veröffentlichungsfähige materielle und geistige Ergebnisse der Unterrichtsarbeit). Mit diesen Produkten können sich die SchülerInnen identifizieren, sie bieten aber auch Gelegenheit für eine von den SchülerInnen selbst getragene Auswertung und Kritik der Unterrichtsarbeit.
- Handlungsorientierter Unterricht bemüht sich, die subjektiven SchülerInneninteressen zum Ausgangspunkt der U-arbeit zu machen. Handlungsorientierter Unterricht schafft die Freiräume, in denen sich die SchülerInnen im handelnden Umgang mit neuen Themen und Aufgabenstellungen ihrer Interessen bewusst werden können. Er schafft aber auch das Forum zur Veröffentlichung und Kritik der subjektiven Interessen.
- Handlungsorientierter Unterricht beteiligt die SchülerInnen von Anfang an an der Planung, Durchführung und Auswertung des Unterrichts (= der Lehrer kann sich nicht auf Lehrplanvorgaben oder Schulbuch-Themen zurückziehen, sondern muss im offenen Diskurs mit den SchülerInnen umgehen).
- Handlungsorientierter Unterricht führt zur Öffnung der Schule:
- Öffnung nach innen: SchülerInnen und LehrerInnen gehen aufeinander zu, individuelle Lernwege werden gefördert, fächerübergreifender Unterricht wird ausgeweitet, das Schulleben wird weiterentwickelt.
- Öffnung nach außen: SchülerInnen müssen die Schule verlassen können, um alles in Erfahrung zu bringen, was sie für ihr Vorhaben/Projekt wissen müssen; Eltern, Experten, Politiker etc. müssen in den Unterricht kommen können, um dort Rede und Antwort zu stehen und um Kritik an den von den SchülerInnen erarbeiteten Handlungsprodukten zu üben.
- Im Handlungsorientierten Unterricht wird versucht, Kopf- und Handarbeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen (= es gibt eine den gesamten Lernprozess begleitende dynamische Wechselwirkung zwischen Hand- und Kopfarbeit).
Verlauf einer Unterrichtseinheit
Problemstellung - Definition der Handlungsprodukte
Die Problemstellung erfolgt durch den Lehrer. Hier muss genau definiert werden was das Handlungsprodukt beinhalten soll. Das wird umso schwieriger, desto größer das Handlungsprodukt ist. Fangen Sie mit kleinen Handlungsprodukten an! Wichtig ist, das Sie mit der Klasse einen Termin festlegen und die Arbeitsgruppen einteilen, damit die Schüler eine zeitliche Orientierung haben. Die Arbeit der Schüler sollte in die mündliche Note bzw. Beteiligungsnote im Unterricht eingehen, was nicht immer einfach ist!
Selbständige Planung durch die Schüler
Die Schüler müssen sich selber informieren. Das kann sein aus: Fachzeitschriften, Schulbücher, Firmen (Telefon), Internet, Ausbildungsbetrieb usw. - geben Sie bei Bedarf Hilfestellungen! Danach müssen die Schüler die Informationen auswählen, welche sich zur Erstellung des Handlungsproduktes am besten eignen - das müssen nicht unbedingt die sein, welche Sie selber ausgewählt hätten!
Selbständige Durchführung durch den Schüler
Mit den Vorarbeiten kann das Handlunsprodukt angefertigt werden. Das kann sein ein Tafelbild, ein Messprotokoll oder auch eine reale Regenwassernutzungsanlage. Hier ist zu klären über welche Infrastruktur (materiell und personell) Sie an Ihrer Schule verfügen. Ein Tafelbild kann man immer von den Schülern anfertigen lassen. Für den Bau einer Regenwassernutzungsanlage müssen Sie natürlich wesentliche Vorrausetzungen schaffen. Viele Handlungsprodukte lassen sich mit PCs erstellen (Tafelbilder, Infoblätter, Broschüren, Webseiten usw.) - einen integrierter Fachraum mit mehreren Computern wäre eine sinnvolle Investition für die Zukunft, aber keine Bedingung für handlungsorientierten Unterricht.
Selbständige Bewertung durch den Schüler
Damit die Schüler zu Ergebnissen kommen müssen Sie immer den Termin der Fertigstellung wissen. Dieser kann auch korrigiert werden, da Schüler oft zu wenig Zeit einplanen. Die Gruppen stellen dann ihre Arbeitsergebnisse vor. Hier kann Kritik und Lob von den Mitschülern und Ihnen geübt werden. Fehler sollten analysiert werden und Alternativen erarbeitet werden. “Aus Fehlern lernen” ist im handlungsorientierten Unterricht wörtlich zu nehmen!
Typische Merkmale aus der Sicht eines Praktikers
Die chaotische Anfangsphase
Nach langjähriger lehrerzentrierter Unterrichtsarbeit können die Schüler mit den ihnen überlassenen Freiräumen oft wenig anfangen. In Gruppenarbeiten wird oft über alles andere als über das Unterrichtsthema gesprochen. Seien Sie großzügig denn Kommunikation über das Lebensnahe ist nun mal lebenswichtig. Verweisen Sie auf den Termin an dem das Handlungsprodukt fertig sein muss. Erfahrungsgemäß arbeiten die Schüler im Laufe der Zeit immer besser zusammen.
Schwächere Schüler beteiligen sich weniger
Gerade in der Gruppenarbeit gewinnt man den Eindruck, dass schwächere Schüler keine Fortschritte erzielen. Sich hier als Lehrer zurückzuhalten fällt schwer. Bedenken Sie jedoch, dass im lehrerzentrierten Unterricht schwächere Schüler auch keine ausreichenden Leistungen erbringen. Auch hier zeigt sich, dass Freiräume auf Dauer auch dem schwächeren Schüler Nutzen bringen - er kann sich nach seinen Möglichkeiten am Unterricht beteiligen. Diese Chance hat er im traditionellen Unterricht selten.
Alles dauert länger
Sie kommen mit “Ihrem” Stoff nicht durch und das ist auch nicht so wichtig, da nicht Sie etwas lernen sollen sondern die Schüler. Denn es gilt, dass im traditionellen Unterricht der Lehrer mit Abstand am meisten lernt. Das ist auch vollkommen normal, da die Vorbereitung eines lernzielorientierten Unterricht vom Lehrer handlungsorientiert erfolgt (Planung, Durchführung und Kontrolle des Unterrichts)! Leider ist das den meisten Lehrern nicht bewusst. Was Sie also am Ende der Unterrichtsstunde in Ihr Klassenbuch schreiben ist eine Sache, was der Schüler davon gelernt hat eine andere. Denken Sie nur daran, wie entäuscht Sie immer über den Ausfall der Klassenarbeiten sind oder das noch vor der Abschlussprüfung grundlegende Kenntnisse bei den Schülern nicht vorhanden sind, obwohl sie es lt. Klassenbuch doch vor einem Jahr unterrichtet haben. Denken Sie aber auch daran, dass Sie als Lehrer bestimmte Zusammenhänge erst dadurch richtig verstanden haben, nach dem Sie es selber unterrichtet haben, weil es für Sie persönlich eine handlungsorientierte Einheit war.
Häufige Kritik
Ein weiterer, häufig vorgebrachter Einwand ist die Zeitaufwendigkeit dieses Konzepts, wobei diese zum Teil sich aus den Lernzielen bestimmt. Die Lernzeit, so der Vorwurf, wird durch die Handlungsdauer bestimmt und damit unnötig in die Länge gezogen, da Lernen nur in Handlungszusammenhängen erreicht wird. Dieser Prozess wird aber von den Lernenden möglichst selbst bestimmt und organisiert, so dass die Vermittlung eines inhaltlichen Kanons in festgelegter Zeit nahezu unmöglich scheint. Dem wird entgegen gehalten, dass das Ziel des Handlungsorientierten Unterrichts nicht allein die Vermittlung von Lerninhalten sondern auch und vor allem die Herausbildung flexibler Handlungsfähigkeiten ist. Die Erfahrungen zeigen aber auch, dass mit der zunehmenden Fähigkeit der Lernwegorganisation und der Entscheidungsfindung bei den Lernenden der Zeitaufwand abnimmt und Lerninhalte sogar vielschichtiger werden.
Ist Projektunterricht wirklich demokratischer?
Will die Schule den demokratischen Gedanken begreifbar machen, so muss sie Demokratie nicht nur lehren, sondern auch als Lebensform auffassen, die charakterliche Tugenden und eine geistig-moralische Grundhaltung impliziert. Dabei soll sich handlungsorientierter Unterricht wie Projektunterricht in besonderem Maß zur Vermittlung dieses demokratischen Habitus eignen, denn demnach sind die SchülerInnen gemeinschaftlich verantwortlich für die Ausarbeitung ihrer Ergebnisse, können sich selbst für Schwerpunkte und Lösungswege entscheiden und lernen so, sich miteinander abzustimmen. Allerdings lassen sich auch Einwände gegen die demokratiepädagogische Prämissen vorbringen. So ist zwar anzuerkennen, dass die aktive Mitarbeitsbereitschaft mit Projektunterricht gesteigert werden kann, es fehlt aber das kritisches Potential in diesem Ansatz, denn der Begriff der demokratischen Erfahrung stützt sich auf ein mehr oder minder unreflektiertes bzw. naives Bild des Systems Schule. Die Partizipation der SchülerInnen ist dabei eher eine Scheinpartizipation, denn echte Mitbestimmung ist im aktuellen System Schule eher nicht möglich, weil die Schule gesellschaftliche Aufträge wahrnimmt, deren Thematisierung zahlreiche Funktionsweisen und Abläufe von Schule fundamentaler in Frage stellen würde, was die Institution Schule wohl nicht zulassen kann. In letzter Konsequenz vermittelt der Projektunterricht daher ein limitiertes Verständnis, was Mitbestimmung bzw. was Demokratie wirklich bedeutet oder sein könnte.
Literatur
Edelstein, Wolfgang (2009). Demokratie als Praxis und Demokratie als Wert (S. 7–20). In Edelstein, Wolfgang, Frank, Susanne & Sliwka, Anne (Hrsg.), Praxisbuch Demokratiepädagogik. Weinheim und Basel: Beltz.
http://mitglied.lycos.de/FrankGemkow/didak/hu/hu.htm (02-03-16)
http://www.pi.informatik.tu-darmstadt.de/studarb/SichtenTG/diplom/node18.html (05-11-15)
http://www.shk-lehrer.de/Methodik/body_methodik.html (05-10-11)
inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::