[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Mnemotechnik in der Praxis:
Kein Weg nach Oslogrolls von Ephraim Kishon *

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Das ganze Malheur wäre nicht geschehen, wenn Sulzbaum sich nicht eingebildet hätte, dass ich der richtige Mann für diesen Posten wäre. Sulzbaum hatte schon seit langem nach einem Mann mit Hirn Ausschau gehalten, nach einem wirklichen Kopf, dem er wirklich vertrauen könnte. Jetzt, nachdem wir einige Zeit verhandelt hatten, machte er eine unmissverständliche Andeutung, dass er sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, die Sache in meine Hände zu legen.
Als ich ihn an jenem schicksalsträchtigen Abend anrief, ließ er mich wissen, dass er den Abschluss unserer Verhandlungen nun nicht mehr länger hinauszögern wolle und bat mich, ihn sogleich aufzusuchen. Meine Freude lässt sich in Worten gar nicht schildern. Sulzbaum ist immerhin Sulzbaum, das steht außer Zweifel.
Ich fragte ihn also ohne Umschweife nach seiner Adresse.
"Helsingforsstraße 5", sagte er.
"Fein", sagte ich. "In ein paar Minuten bin ich bei Ihnen."
"Ausgezeichnet", sagte er.
Ich machte mich unverzüglich auf den Weg. Aber schon nach wenigen Schritten stellte sich mir ein Hindernis entgegen, das schwerer zu übersteigen war als eine Barrikade: ich hatte den Straßennamen vergessen. Glatt vergessen. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass der erste Buchstabe ein P war. Rasch entschlossen betrat ich eine Telefonzelle und wollte Sulzbaums Adresse aus dem Telefonbuch heraussuchen. Es war kein Sulzbaum im Telefonbuch. Um ganz sicher zu gehen, schaute ich auch noch mal unter Z nach. Es war auch kein Zulzbaum im Telefonbuch. Wahrscheinlich hat er einen neuen Anschluß, dachte ich. Ein Glück, dass ich mir die Nummer aufgeschrieben hatte. Ich läutete bei ihm an.
"Mir ist etwas Komisches passiert", sagte ich. "Ich habe den Namen Ihrer Straße vergessen."
"Helsingfors", sagte Sulzbaum. "Helsingforsstraße 5."
"Danke vielmals!"
Durch Schaden gewitzt, wiederholte ich unablässig und leise "Helsingfors... Helsingfors...", bis ich endlich, hoch oben im Norden der Stadt, einen Passanten nach der genauen Lage der Straße fragen konnte: "Entschuldigen Sie bitte, wo ist hier die --- "
"Leider", unterbrach mich der Befragte. "Ich bin selber fremd hier. Ich suche die Uzielstraße."
"Uzielstraße... Zufällig weiß ich, wo die ist. Geradeaus und dann die zweite rechts."
"Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr verbunden. Übrigens - wie heißt die Straße, die Sie suchen?"
"Ich? Ich suche ... nein, so was!" Tatsächlich: dieser verdammte Uziel hatte mich meinen eigenen Straßennamen vergessen lassen. Ich erinnerte mich nur noch, dass die Straße mit einem K anfing. Die Nummer war 9 oder 19, das wusste ich nicht mehr so genau.
Es widerstrebte mir, nochmals bei Sulzbaum anzurufen. Sonst hielt er mich vielleicht für einen jener gedächtnisschwachen Menschen, die imstande sind, Straßennamen zu vergessen, auch wenn man sie ihnen zweimal sagt. Ich zermarterte mein Hirn nach dem vergessenen Namen. Aber da bestätigte sich wieder einmal die alte Erfahrung, dass ich - wie jeder höher organisierte Intellekt - ein plötzlich mir aufgezwungenes Problem nicht lösen kann. Unter solchen Umständen tat ich das einzig mögliche: ich setzte mich in ein Kaffeehaus und wartete auf die fällige Erleuchtung.
Sie kam nicht. Der einzigste Straßenname, der mir einfiel, war Schmarjahu Levin (an den ich mich bis dahin niemals hatte erinnern können, weiß der Teufel warum). Nun wusste ich aber, dass der Name, den ich suchte, nicht Schmarjahu Levin war. Es war ein ausländischer Name, das schon, und er begann mit einem L. Aber weiter kam ich nicht. Also läutete ich nochmals bei Sulzbaum an.
"Hallo", sagte ich. "Ich bin bereits unterwegs. Könnten Sie mir sagen, wie ich am schnellsten zu Ihrem Haus komme?"
"Wo sind Sie jetzt?"
"Ben-Jehuda-Straße."
"Dann sind Sie schon ganz in der Nähe. Lassen Sie sich´s von irgendeinem Passanten zeigen."
"Mach ich. Und wie buchstabiert man den Straßennamen?"
"So wie man ihn ausspricht, warum?"
"Ich habe den Eindruck, dass die Leute hier den Namen nicht recht kennen. Es scheint eine neue Straße zu sein."
"Gar so neu ist sie nicht."
"Trotzdem, ein sehr langer Straßenname ..."
"Wieso? Da gibt es viel längere. Die Hohepriester-Matitjahu-Straße zum Beispiel. Oder die Straße der Tore von Nikanor. Oder die Akiba-Kolnomicerko-Straße."
"Gewiss, gewiss. Aber bei Ihrer Straße verstaucht man sich die Zunge."
"Kann ich nicht finden. Man gewöhnt sich. Und überhaupt: Warum machen Sie sich plötzlich soviel Sorgen über einen Straßennamen? Ich warte auf Sie. Kommen Sie oder nicht?"
"Natürlich. In fünf Minuten."
"Gut." Sulzbaum legte den Hörer auf, und ich stand in der Zelle. Es waren vielleicht die schwierigsten Augenblicke meines bisherigen Lebens. Die Namen "Hohepriester Matitjahu, "Tore von Nikanor" und "Akiba Kolnomicerko" hatten sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben, ohne dass ich die geringste Verwendung für sie gehabt hätte.
Eine Weile verstrich, ehe ich mich entschloss, den Hörer abzunehmen und meinen Finger in die Drehscheibe zu setzen. "Sulzbaum", flüsterte ich, "lieber Sulzbaum. Wie heißt Ihre Straße?"
"Helsingfors. Vielleicht schreiben Sie sich´s auf!"
Ich griff in die Tasche, um meinen Kugelschreiber hervorzuholen, fand aber keinen. Und bevor ich Sulzbaum noch informieren konnte, dass ich in fünf Minuten bei ihm sein würde, hatte er schon eingehängt.
Diesmal würde ich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Diesmal machte ich es mit der Memotechnik. Ich analysierte den Namen Helsingfors. Der erste Teil erinnerte an die heutige finnische Hauptstadt Helsinki. Der zweite Teil ist nahezu identisch mit der bekannten amerikanischen Automarke Ford. Und die beiden sind durch ein "g", dem siebten Buchstaben im Alphabet, miteinander verbunden. Helsin(ki)-g-for(d)-s Nummer 5. Schon war ein Taxi zur Stelle. Ich warf dem Fahrer ein gleichgültiges "Helsingforsstraße 5" hin.
"Helsingforsstraße 5", wiederholte er und gab Gas. Ich lehnte mich in die Kissen zurück und sinnierte, wie seltsam es doch war, dass ein Mann meines geistigen Kalibers, der sich noch an die entlegensten Antworten längst vergangener Mittelschulprüfungen erinnert, zum Beispiel: "Die Hauptstadt von Dazien hieß Sarmisegetuza" -, dass ein solcher Mann, der fast schon ein Elektronengehirn sein eigen nennt, einen so kindischen Straßennamen vergessen konnte ... wie ...
"Entschuldigen Sie." Der Fahrer wandte sich zu mir um. "Wie heißt die Straße?"
Graue Schleier senkten sich über meine Augen. Alles was mir einfiel, war "Sarmisegetuza", aber so hieß sie bestimmt nicht. Ich tat das nächstliegende und verfluchte den Fahrer. Er schwor, dass er den Namen an der vorigen Ecke noch gewußt hatte.
"Na schön." Ich fand die Ruhe wieder, die meiner intellektuellen Überlegenheit angemessen war. "Wir wollen versuchen, den Namen zu rekonstruieren. Gehen wir systematisch vor. An was erinnern Sie sich?"
"An nichts", lautete die unverschämte Antwort des motorisierten Wegelagerers. "Höchstens an die Hausnummer 173."
"Konzentrieren Sie sich, Mann! Denken Sie!"
"Seeligbergstraße ... Salmanowskistraße ... irgend sowas..."
Plötzlich fiel mir die Memotechnik ein. Ich war gerettet. Die Hauptstadt von Norwegen heißt Oslo - in der Mitte kommt ein "g" - und dann der erste Teil dieser berühmten englischen Automarke.
"Oslogrolls-Straße, Sie Vollkretin", sagte ich mit schneidendem Hohn.
Der Fahrer nickte dankbar, machte eine scharfe Kehrtwendung und sauste nach Süden. An der nächsten Ecke blieb er stehen: "Tut mir leid. Eine solche Straße gibt es nicht."
Offen gesagt: Auch ich hatte nicht recht daran geglaubt, dass es sie gäbe. Aber der prompte Start des Fahrers hatte mich wieder unsicher gemacht. Jetzt wußte ich sogar, wo mein Irrtum steckte: es war kein "g" in der Mitte. Oslorolls ... Osloroyce ...
"Was jetzt?", fragte der Fahrer. Tatsächlich, er fragte: "Was jetzt?"
In stummer Verachtung warf ich ihm eine Pfundnote ins Gesicht, sprang aus dem Wagen, eilte federnden Schrittes auf die nächste Telefonzelle zu und läutete bei Sulzbaum an.
"Ich bin sofort bei Ihnen", beschwichtigte ich ihn. "Aber es ist etwas geradezu Unglaubliches geschehen. Ich - "
"Helsingfors!" brüllte Sulzbaum, dass die Wände der Telefonzelle zitterten. "Helsingfors!! Und Sie brauchen überhaupt nicht mehr zu kommen!!" Peng. Er hatte eingehängt.
Na wenn schon. Kann mir nur recht sein. Mit einem so ordinären Menschen will ich nichts zu tun haben. Ich verließ die Telefonzelle. Sie befand sich unterhalb einer Straßentafel. Sie befand sich in der Helsingforsstraße. Auch das interessierte mich nicht mehr. Das Schicksal hatte seinen Wahrspruch gefällt. Es war mir nicht bestimmt, für Sulzbaum zu arbeiten. Aber bei den nächsten Magistratswahlen werde ich nicht mehr diese miese Stadtverwaltung wählen. Was soll ich Leute wählen, die so läppische Straßennamen aushecken wie ... wie ... zum Teufel ...

Quelle

Kishon, Ephraim (1962). Kein Weg nach Oslogrolls. In: Arche Noah, Touristenklasse. Rowohlt Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Kishon. (c) by LangenMüller Verlag in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. http://www.Herbig.net/



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