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Ars memorandi - Gedankenkunst des Mittelalters

Gedächtnistrainung der Ars memorandi

 

Dieses Bildrätsel zum Matthäus-Evangelium ließ sich für einen kundigen Priester folgendermaßen entschlüsseln:

Der Richterstab (a) versinnbildlicht das Christus-Wort "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet", der Balken rechts (b) den Balken, den jeder unbemerkt im eigenen Auge trägt; zwischen den beiden ist auf dem Kopf des Engels die enge Pforte (c) zu sehen, die zum ewigen Leben führt; der Teufel rechts oben (12) deutet auf die Heilung des Besessenen hin; das Boot mit dem Ruderer (8) bedeuten die Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapharnaum und die Beruhigung der Stürme über dem Wasser; die Ähren und die Schüssel mit den Kopf (11), die der Engel in Händen hält, erinnern an die von den Ähren des Feldes essenden Jünger und Johannes den Täufer; die Krücke am Gürtel verweist auf die Heilung des Lahmen, der Beutel daneben (9) auf die Berufung des Apostels Matthäus und die Versammlung der Apostel unten (10) auf ihre am Anfang des zehnten Kapitels geschilderte Berufung.

Dieser Holzschnitt stammt aus einer "Ars memorandi per figuras Evangelistarum", die um 1470 wahrscheinlich in Süddeutschland angefertigt wurde.


Zur Geschichte der Mnemotechnik

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Die Mnemotechnik galt im Mittelalter als Teil der Kardinaltugend Prudentia, der Vorsicht, die ein gläubiger Mensch besitzen muss, um den Sünden zu entgehen. Dies kann er aber nur, wenn er sich "beständig an die unsichtbaren Freuden des Paradieses und die ewigen Qualen der Hölle erinnert". In "De Bono", einem Buch über die Ethik, argumentiert Albertus Magnus, dass wir Lehren aus der Vergangenheit nur ziehen können und uns dadurch von zukünftigen Sünden bewahren würden, wenn wir uns erinnern könnten. Dies sei der Grund, wieso die Mnemotechnik nicht zusammen mit der Rhetorik zu den freien Künsten gehört. Diese Argumentation wurde auch in der Summa theologiae von Thomas von Aquin, der einst bei Albertus Magnus sein Gedächtnis schulte, wieder aufgenommen. Mit der Erfindung des Buchdruckes entstanden Leitfäden zu den Regeln der Mnemotechnik, aber auch merkwürdige Varianten wie Buchstaben-Bilderkombinationen, in denen jeder Buchstabe mit einem Tier gleichgesetzt wurde, das man sich dann merken musste. Der Franziskanermönch John Ridevall zeigt dies anhand folgenden Szenarios: Ein Priester solle in seiner Predigt auf die Idolatrie, also die Götzenanbetung, eingehen. Dazu schafft er sich in seinen Gedanken ein Bild von einer Prostituierten, die krank und blind ist, und auch ihre Ohren sind verstümmelt. Sie wird durch Trompeten angekündigt. Als Person wird eine Prostituierte gewählt, weil "Bildverehrer den wahrenGott verlassen haben, um mit Götzenbildern Unzucht zu treiben". Blind- und Taubheit sollen daran erinnern, dass sie aus Schmeichelei entstand, deren Folgen dies ist. Da die Idolatrie eine Art ungeregelte Liebe ist, ist sie krank. Sie wird als Verbrecherin angekündigt (mit der Trompete), da Übeltäter versuchen, in der Götzenverehrung Vergebung zu finden.

In der Renaissance entwickelte Giulio Camillo Delminio die Idee eines "Gedächtnistheaters", das mittels der Sterne und Sternbilder jedem Betrachter helfen sollte, das ganze Wissen der Welt zu erinnern. Die Idee war, dass man von der Bühne aus auf die verschiedenen Ränge und Reihen sehen konnte, welche nach den sieben damals bekannten Planeten benannt waren und sich weiter unterteilten in deren sieben Zustände. Stand der Betrachter nun auf der Bühne dieses Theaters, so konnte er neben den Rängen von Apollo, Venus usw. auch in Richtung des Ranges von Jupiter sehen. In der dritten Reihe dieses Abschnittes des Theaters fand er dann Bilder, die durch ihre Positionierung bzw. ihren Kontext eine besondere Bedeutung hatten und an etwas bestimmtes erinnern sollten.

Ein Gedankenexperiment zur Schriftkultur

Hermann Rotermund (1996) schreibt in einem glänzenden Essay unter dem Titel "Von der Keilschrift bis zum Internet - Verschwinden die Subjekte im Speicher?" zur "Ars memoriae" (Hervorhebungen von mir; W.S.):

Stellen Sie sich einmal vor, sie lebten in einer schriftlosen Kultur. Niemand besitzt Schriftkenntnis, es existieren keine schriftlichen Aufzeichnungen. Ohne Schrift haben die Wörter ihre visuelle Präsenz nicht mehr, die sie für viele von uns haben - sei es als ständiger "Lauftext" vor dem sogenannten geistigen Auge, sei es als Wahrnehmung von Beschriftungen wie "Esso", "Einbahnstraße" oder "0,3 l". Die Wörter einer schriftlosen Kultur sind ausschließlich Klänge. Sie haben eine Präsenz und verklingen. Man kann sie sich in Erinnerung "rufen" - aber man kann sie nirgendwo "nachschlagen". Ein Laut läßt sich nicht anhalten oder konservieren (außer mit technischen Hilfsmitteln). Ein Wort ist ein Ereignis. Wort und Ereignis haben im Hebräischen dieselbe Benennung.
Die lautliche Gebundenheit der Wörter bestimmt in oralen Kulturen nicht nur die Ausdrucksweisen, sondern auch die Denkweisen. Wie organisiert eine orale Kultur ihr Gedächtnis? Wie lassen sich komplexe Gedankengänge gegen die alles beherrschende Tendenz des Verklingens aufbewahren? Der erste und unabdingbare Faktor für die Aufbewahrung von Gedächtnisinhalten ist die Wiederholung im Gespräch, also die Kommunikation mit anderen. Damit man verlustfrei und ohne übermenschliche Mühe ins Gedächtnis zurückrufen kann, was man mit mühevoller Gedankenarbeit aneinandergereiht hat, muß man - so sagt der Oralitätsforscher Walter Ong - memorierbare Gedanken denken. Alle oralen Kulturen haben entwickelte mnemonische Muster ausgebildet, die dazu dienen, Gedächtnisinhalte nach rhythmischen Mustern, in der Form von Satz und Gegensatz, in Formeln und Sprichwörtern, Aufzählungen, standardisierten Anordnungen (Versammlung, Festmahl, Zweikampf usw.) memorierbar zu machen und zu erhalten. "Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein." (rhythmische Formel)
Der Zwang zum Memorieren legt in den oralen Gesellschaften die gesamte intellektuelle Organisation von Erfahrung fest. (...)
Die Gedächtniskunst ist eine Art inneres Schreiben und Bildererzeugen. Sie basiert auf Selbstdisziplin und unermüdlichem Training. Schon in der Antike gab es Einwände gegen diese Gedächtnisübungen, die uns durchaus vertraut vorkommen: All diese Orte und Bilder, die jemand zu memorieren sich bemüht, deckten das Wenige, was man auf spontan im Gedächtnis behält, unter einem Schutthaufen künstlicher Bilder zu, behaupten diese Einwände - die nie bewiesen werden konnten, ebenso wenig wie der verdummende Einfluß regelmäßigen ausgiebigen Fernsehens.
Mit der Gedächtniskunst und ihrem Kampf gegen die Flüchtigkeit der Erinnerung beginnt der Prozeß der Erzeugung von permanenten Speichern für Gedächtnisinhalte. Noch ist dieser Speicher intern, im individuellen Gedächtnis eines Menschen verankert, aber er ist bereits haltbarer als die nur situativ in der Kommunikation wieder hervorbringbare Erinnerung der frühen oralen Kulturen.
PlatoDer Übergang zu einer von Schriftlichkeit bestimmten Kultur fand nicht ohne Kämpfe statt. Plato [Bild rechts] beispielsweise wollte die schreibenden Poeten und Politiker aus seinem (von ihm ersonnenen, idealen) Staat weisen. Er argumentiert folgendermaßen:
(Die Schrift) wird Vergessenheit in den Seelen derer schaffen, die sie lernen, durch Vernachlässigung des Gedächtnisses, aus Vertrauen auf die Schrift werden sie von außen durch fremde Gebilde, nicht von innen aus Eigenem sich erinnern lassen. Also nicht für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern hast du ein Elixier erfunden. Von der Weisheit aber verabreichst du den Zöglingen nur den Schein, nicht die Wahrheit; denn vielkundig geworden ohne Belehrung werden sie einsichtsreich zu sein scheinen, während sie großenteils einsichtlos sind und schwierig im Umgang, zu Schein-Weisen geworden statt zu Weisen.
Daran mag etwas sein: Die alte, situativ ausgerichtete orale Kommunikation und ihre hochgezüchteten künstlichen Techniken des Erinnerns sind durch die Bequemlichkeit der neuen alphabetischen Schreibtechniken von Zerrüttung bedroht. Interessanterweise hielt sich die Gedächtniskunst bis zum Beginn des Gutenbergzeitalters und erlebte durch Giordano Bruno Ende des 16. Jahrhunderts eine letzte Blüte. Sie überdauerte also die gesamte scriptographische Epoche, die durch handschriftliche Aufzeichnungen bestimmte Ära der Schriftkultur.
Die zitierte Klage Platos über den Einbruch der Schriftlichkeit in eine von mündlicher Kommunikation bestimmte Kultur wurde schriftlich verfaßt und verbreitet; so wie wir heute die Weizenbaums und Neil Postmans mit ihren allfälligen Klagen über die Auslieferung der menschlichen Seele an den Moloch Technik als häufige Gäste in Fernsehtalkshows und sicher auch schon mit Homepages im World Wide Web erleben können.
Das Schriftzeichen entlastet das kollektive Gedächtnis: Woran man sich nicht permanent erinnern will, das schreibt man auf, deponiert es auf Steinen, Tonscherben, Tierhäuten oder Papyri; etwas aufzuschreiben, ist eine schonende, weil nur als vorläufig empfundene und wiedergutzumachende Methode des Beiseitestellens, Abschiebens und Vergessens. Wer den Namen des Toten auf einen Grabstein ritzt, dem spukt er nicht mehr permanent im Kopf herum, schon das Material des Steins scheint die Dauer des Namens besser zu verbürgen als das vergängliche Bewußtsein der Überlebenden.
Die Schrift ist ein Speicher für Namen, an die sich keine Bilder mehr heften. Das betrifft zumindest die registrierenden Gattungen der Schrift, die sich auf Urkunden, Grabsteinen, Rechnungen und Botschaften finden. Die in Schriftform überlieferte Poesie und andere literarische Gattungen übernehmen in verwandelter Form die Funktion der oral überlieferten Mythen, mit denen Personen über die Beschränkung von Zeit und Raum in das kollektive Gedächtnis einer Kultur eingeprägt wurden.
(...) Die Schriftkultur ächtet die Mnemotechniken und ihre Primitivismen (Wiederholung, Training). Sie besitzt den körperäußeren Speicher der alphabetischen Schrift (700.000 Schriftrollen in der legendären Bibliothek von Alexandria um die Zeitenwende). Die Produkte ihres Schreibens zeichnen sich aus durch Präzision, Anpassungsfähigkeit und Originalität. Sie führt damit neue soziale Werte in den gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Erst das Schreiben kann komplizierte analytisch-planerische Prozesse adäquat wiedergeben. Es bewirkt daher einen Aufschwung der Ökonomie und des Wissenschaftsbetriebs. Die schriftliche Äußerung schließt die Anwesenheit des Lesers eher aus als ein, sie ist getrennt vom Gegenstand, von der Lebenswelt und vom Schreibenden selbst. Abstraktion und Objektivität werden gefördert.

Die amerikanische Philosophin Susanne Langer (1895-1985) betrachtet - mit Ernst Cassirer - die Symbolbildung (in Sprache, Ritus, Mythos, Kunst und Traum) als wesentliche Tätigkeit des menschlichen Geistes. Wie alles Denken auch ist die Symbolisierung vom Bedürfnis nach geistiger Orientierung und Sinnstiftung geleitet. Langer beschränkt den Bereich der Vernunft also nicht auf das abstrakte Denken mit seiner diskursiven Sprache, sondern rechnet auch die symbolische Vermittlung emotionaler Inhalte dazu. Diese nennt sie "präsentative" (statt diskursive) Symbolik. Diese hat eine eigene Logik, eine disziplinierte Artikulation von Erlebnissen, die ihre eigene, besondere Rationalität haben.

Bild und Textquellen:
http://www.gazette.de/Archiv/Gazette-14-Mai-Juni1999/Buchkunst.html (03-03-07)
[Verwendung mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers Fritz Glunk - http://www.gazette.de/]
Rotermund, Hermann (1996). Von der Keilschrift bis zum Internet - Verschwinden die Subjekte im Speicher?
WWW: http://www.bsmedien.musin.de/Abteilungen/Verlag/lehrmaterial/verlagsbetriebslehre/speicher.htm (03-04-27)
O' Brien, Dominic (2000). Der einfache Weg zu einem besseren Gedächtnis. München: Nymphenburger.
Yates, Frances A. (1966). Gedächtnis und Erinnern - Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Akademie-Verlag



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