Distanzzonen und Territorialität - Der Umgang mit Raum
Literatur
Müller, B. (2011). Empirische Identitätsforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Rohr, E. (2004). Körper und Identität. Gesellschaft auf den Leib geschrieben. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer.
Vorbemerkung: Der Körper des Menschen ist ein biologischer Merkmalsträger und daher auch Träger von Identitätsmerkmalen, die nur zum Teil veränderbar sind, etwa durch plastische Chirurgie, optische Modifikationen wie Haare färben, Tätowierungen oder auch Accessoires wie Kleidung oder Schmuck. Durch ein spezifisches Aussehen und auch den Lebensstil wird eine bestimmte Identität über den Körper ausgedrückt und auch in hohem Maße soziale Zugehörigkeit symbolisiert. In erster Linie aber sichert der Körper zunächst die biologische Existenz, denn er ermöglicht Sinneswahrnehmungen und Orientierung in der Welt. Der Körper bestimmt gleichzeitig die räumliche Abgrenzung zu anderen Menschen und definiert dadurch ein Individuum als unteilbare Einheit, er ist dadurch das Instrument, mit dem Menschen der sozialen Welt entgegentreten, bevor sie überhaupt noch sprechen können oder symbolvermittelte Kommunikation möglich ist. Der menschliche Körper bildet im psychologischen Sinn als relevante Ordnungsfunktion auch bei der Identitätsbildung einen Kristallisationspunkt, denn aus der Kleinkind- und Säuglingsforschung weiß man, dass der Aufbau von Körper- und Bewegungsgefühl, Körperbild und Selbstkonzept mit der konkret spürbaren, emotionalen und verbalen Ansprache des Körpers in sozialen Kontexten zusammenhängt. Der soziale Aneignungsprozess, in dem Menschen in ständigem körperlichen Austausch mit ihrer Umwelt stehen, führt zur Entwicklung eines Bewusstseins für die Objekte der Lebenswelt und vor allem für sich selbst. Dabei führt nur die mehr oder minder bewusste Reflexion in sozialen Kontexten erst zur Entwicklung eines unverwechselbaren Selbst, wobei auch das Gegenüber jeden Menschen mehr oder minder zur Wahrnehmung seines Selbst als Auslöser von Reaktionen zwingt.
Den persönlichen Freiraum eines anderen zu respektieren ist ein fundamentaler Aspekt der sozialen Interaktion unter Menschen und etwas, was Menschen meist automatisch und ohne Anstrengung tun. Non-verbale Kommunikation drückt sich daher besonders stark in den zum Teil während der Sozialisation erlernten Distanzzonen aus:
- Intime Distanz: sie reicht vom direkten körperlichen Kontakt bis zu einer Entfernung von ca. 60 cm. In diese Zone dürfen nur Personen mit einer besonderen Erlaubnis eindringen. Unter Fremden ist das Eindringen in diese Intimzone unschicklich. Häufig begegnet man Personen, die diese unsichtbare Grenze im Gespräch immer wieder überschreiten. Diese Zone ist vom Status des (Gesprächs)partners sowie der eigenen Stimmung abhängig. Im Normalfall werden nur sehr eng Vertraute in diese Intimzone gelassen, also Intimpartner oder enge Verwandte. Andere werden um ca. eine halbe Armlänge auf Abstand gehalten (z.B. durch eigenes Ausweichen). Wird die Intimzone verletzt, löst dies Unlustgefühle aus, eventuell werden Kampfhormone ausgeschüttet: der Körper stellt sich auf Kampf oder Flucht ein.
- Persönliche Distanz: sie umfaßt die Zone von ca. 60 bis 150 cm, das ist die normale Gesprächsdistanz. Annäherung innerhalb dieser Grenzen sagt etwas über Bekanntheits- oder Sympathiegrad zwischen den Beteiligten aus. Diese Zone ist für gute Freunde, Verwandte, eventuell auch enge Kollegen reserviert. Lässt es sich jedoch nicht vermeiden (z.B. in einem überfüllten Bus), dass auch Fremde in die (innere) persönliche Zone bzw. die (äussere) Intimzone eindringen, löst dies ein merkwürdiges Phänomen aus: wir behandeln den anderen als "Non-Person". Der einfache Grund: wir müssen Abwehrmassnahmen ergreifen, um unserem Unwohlsein Herr zu werden. Man ist unbewegt, spannt die Muskeln an, fixiert irgendeinen fernen Punkt, um Blickkontakt zu vermeiden. Dieses Verhalten ist vermutlich zu einem Teil jedoch anerzogen und kulturell unterschiedlich ausgeprägt. Die persönliche Distanzzone ist zur Seite wiederum etwas geringer. In diesem Bereich führen wir persönliche Gespräche, ohne uns bedrängt zu fühlen.
- Gesellschaftliche oder soziale Distanz: sie schließt aus, dass man sich berührt. In dieser Distanz (1,50 - 4 m) werden unpersönliche Angelegenheiten erledigt; Unterhaltung mit Geschäftsleuten, Handwerkern, Chef hinter dem Schreibtisch, Publikum (breiter Tresen in Behördenzimmern schafft Distanz). Diese Distanz hat Schutzfunktion. Andere Menschen können sich bis auf diese Distanz nähern, ohne dass man sie beachtet. In diesem Bereich nehmen wir andere Personen wahr und wenn wir sie ablehnen und nicht mit ihnen in Kontakt treten wollen, fordern wir sie auf, diesen Bereich wieder zu verlassen. Andernfalls gewähren wir ihnen anschließend Zutritt in die persönliche Distanzzone.
- Öffentliche Distanz: sie beginnt bei etwa 4 m Abstand. Jede persönliche Beziehung hat aufgehört, man agiert als Einzelner. Dieser Abstand ist etwa jener von Lehrern zur Klasse, von Rednern zum Publikum oder Fernsehschauspieler und Zuschauern.
Es ist wichtig, das Distanzbedürfnis anderer Menschen zu respektieren, denn wer jemandem zu dicht „auf die Pelle“ rückt, muss sich nicht wundern, wenn er sich unbeliebt macht. Das unerlaubte Eindringen in die intime Distanzzone wird praktisch immer als unerwünschte Grenzübertretung empfunden.
Ralph Adolphs (California Institute of Technology) führte ein einfaches Experiment durch, bei welchem sich Personen so weit an den Versuchsleiter annähern sollten, bis sie jene Distanz erreichten, die ihnen am angenehmsten war, wobei der Abstand von Kinn zu Kinn gemessen wurde. Der von den gesunden Versuchspersonen durchschnittlich bevorzugte Abstand betrug 64 Zentimeter, während eine Patientin, die schwere Schäden an den Emotionszentren im Gehirn (Mandelkern) hatte, sich hingegen bis auf 34 Zentimeter annäherte, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Selbst wenn sie direkt Nase an Nase mit dem Versuchsleiter stand, berichtete sie über keinerlei negative Gefühle. Offensichtlich spielt die Amygdala eine zentrale Rolle für diesen Prozess, da sie die starken Gefühle des Unwohlseins erzeugt, die normalerweise den richtigen Abstand in sozialen Situationen einhalten helfen. Diese Ergebnisse wurden mittels funktionelles Magnetresonanztomografie bestätigt. Offensichtlich ist der Mandelkern daran beteiligt, die soziale Distanz zu regulieren, unabhängig von speziellen Sinnesreizen, die typischerweise signalisieren, wenn jemand zu nahe kommt, wie Geruch, äußeres Eerscheinungbild oder Geräusche.
Einbrüche als Verletzung der Distanzzone
Distanzzonen bei Babys und Kleinkindern
Kinder müssen sich von Erwachsenen weder küssen noch umarmen lassen
und es ist wichtig, dass Kinder von klein auf lernen, "Nein" zu sagen,
wobei Erwachsene und auch die Eltern das akzeptieren sollten. Das
bedeutet, zu akzeptieren, wenn ein Kind nicht umarmt oder geküsst werden
will, und ein Nein sollte von jedem Erwachsenen, auch von den eigenen
Großeltern, anstandslos akzeptiert werden, denn nur so lernt ein Kind,
dass ein Nein eine Wertigkeit hat. Bereits Babys und sehr kleine Kinder,
die noch nicht sprechen können, zeigen in ihrer Körperhaltung und durch
Laute, wenn ihnen etwas nicht gefällt, d. h., sie schütteln verneinend
den Kopf oder lösen sich aus einer Umarmung heraus. Umgekehrt geben
Kinder auch ganz klare Signale, wenn sie Körpernähe wünschen, d. h.,
streckt ein kleines Kind die Hände nach oben, ist klar, dass es
hochgenommen werden möchte. Bezugspersonen spüren in der Regel sehr
schnell, was ein Kind möchte und was nicht. Selbst Babys können zwischen
einer guten und schlechten Berührung unterscheiden, und das wird auch
kognitiv so verarbeitet und abgespeichert.
Quelle: Die Kinderpsychologin Sabine Völk-Kernstock in einem Standard-Interview vom 30. August 2023.
Distanzen auch abhängig von Stimmungslagen
In Untersuchungen von Jochen Gebauer (Institut für Psychologie der Humboldt Universität Berlin) zeigte sich übrigens, dass emotional positiv besetzte Orte gefühlt als näher betrachtet werden, während man negativ besetzte Orte weiter weg verortet. Menschen in negativer Gemütslage wähnen hingegen positive Orte weiter weg und negative etwas näher. Für Frohnaturen liegt das Paradies gefühlt „um die Ecke“, während es für traurige Menschen „unendlich weit weg“ ist. Vermutlich gilt Ähnliches auch für die erlebte Distanz zu Menschen, die einem positive und negative Erlebnisse vermitteln können.
Kulturelle Unterschiede
In Mitteleuropa beginnt die Intimzone zirka 50 cm vor und endet 50 cm hinter einer Person – an der Seite ist die Intimzone etwas kleiner.
In Südamerika sind die Distanzzonen geringer ausgeprägt als in Mitteleuropa. In einem brasilianischen Reitclub hatten derartige Missverständnisse zwischen Mitteleuropäern und Nordamerikanern schmerzhafte Folgen: Ein Schreiner musste das Geländer einer Veranda erhöhen, weil immer wieder Nordamerikaner und Nordeuropäer rücklings hinunter gestürzt waren. Ihre südamerikanischen Pferdefreunde hatten den üblichen „nordischen“ Gesprächsabstand von einer Armlänge nicht eingehalten, und die Gäste hatten sich unbewusst bedroht gefühlt. Da sie Schritt um Schritt zurückwichen und die Südländer nachrückten, hatte dies fatale Folgen.
Ähnlich problematisch können Begegnungen zwischen kühlen Engländern, die Berührungen praktisch nie zulassen, und Männern aus Puerto Rico sein. Ein puerto-ricanischer Mann wird seinen Gesprächspartner, wie bei Beobachtungen gezählt wurde, wohlmöglich 180-mal pro Stunde berühren. Für den Briten genau 180-mal zu oft. Der Engländer wird dem Puerto-Ricaner mit Sicherheit homosexuelle Absichten unterstellen.
Psychologische Distanz
Quelle: Science, Bd. 322, S. 1202.
Distanzzonen gegenüber Körperbehinderten
Kaiser et al. (2010) haben mit Hilfe einer quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse einer Videobeobachtung das Hilfe- und Ausweichverhalten von Passanten gegenüber einem sich in einer vermeintlichen Problemsituation befindenden Rollstuhlfahrer untersucht. Lediglich 28 von 541 PassantInnen sprachen den Rollstuhlfahrer an, von denen wiederum 13 Hilfsanbote machten. Die ForscherInnen konnten dabei deutlich größere Körperabstände und Ausweichverhalten gegenüber dem Rollstuhlfahrer feststellen, aber auch Personen, die ihn mehrmals passierten, offenbarten mögliche Unsicherheit und Berührungsängste, indem sie ihn erst bei der zweiten Begegnung ansprachen und jeweils einen großen Abstand zu ihm hielten. Nicht nur die vorübergehenden Passanten nahmen unüblich große Abstände zum Rollstuhlfahrer ein, sondern auch dessen Gesprächspartner, was einer Kontaktflucht-Reaktion gleichkommt. In anderen, weniger häufigen Situationen haben Psychologen beobachtet, dass sich Rollstuhlfahrer von zahlreichen aufgenötigten Verbalkontakten belästigt fühlen. Jedenfalls stellt unerwarteter Kontakt mit behinderten Menschen in Alltagssituationen für viele Personen eine Herausforderung dar. In solchen Situationen geraten die meisten Menschen in einen mentalen Konflikt … Die Leute trauen sich nicht, Behinderte offen anzuschauen, obwohl sie das Bedürfnis haben. Sie sind unsicher, ob eine Interaktion gewünscht wird, und wie sie mit behinderten Personen umgehen sollen. Gleichzeitig können auch behinderte Menschen keine dauerhaften Verhaltensstrategien entwickeln und mögen in ihrer psychischen Anpassung infolge fortwährend neuer und ambivalenter Situationen beeinträchtigt werden. Ein weiteres Hauptergebnis der Studie liegt in der Entdeckung eines Ansteckungseffekts, der darin besteht, dass sich Passanten offenbar erst dann trauen, den Rollstuhlfahrer anzusprechen, wenn dies bereits jemand vor ihnen gemacht hat.
Quelle
Kaiser, Mirjam, Scholz, Anouk, von Groote, Per M. & Reinhardt, Jan D. (2010). Paschaplegiker? Hilfe- und Ausweichverhalten gegenüber Rollstuhlfahrern an öffentlichen Orten: eine empirische Beobachtungsstudie in der Stadt Luzern. Psychologie & Gesellschaftskritik, 34.