Der Egozentrismus des Kindes
Piaget nennt solche artifizialistischen, animistischen und finalistischen Erklärungen des Kindes egozentrisch, wobei er den Begriff Egozentrismus vielfältig verwendet, z.B.
- zur Bezeichnung der Unfähigkeit, sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen,
- den Blickwinkel eines anderen einzunehmen oder
- die eigene aktuelle Sichtweise (Wahrnehmung oder Meinung) als eine unter mehreren Möglichkeiten zu begreifen.
Ein Kind dieses Alters hat noch keine Zweifel, ob der Gesprächspartner verstanden hat, was es sagt, es fragt nicht nach. Es weiß nicht, daß der andere die Dinge vielleicht nicht so versteht und sieht, wie es selbst. Es sieht daher auch keine Veranlassung, seine Ansichten zu rechtfertigen und zu begründen. Dieser kommunikative Egozentrismus wird überwunden durch die Entwicklung von Kompetenzen zur Perspektiven- und Rollenübernahme. Das Kind wird zunehmend fähig, die Perspektive anderer zu erkennen und sich in seinem eigenen Handeln und Reden auf die Verständnismöglichkeiten des anderen einzustellen. Die Erzählungen sind dann nicht mehr nur Erzählungen für Eingeweihte: Kommunikation gelingt unter Berücksichtigung der Verständnismöglichkeiten unterschiedlicher Partner.
Egozentrismus bei Piaget meint nicht Autismus, Solipsimus oder gar Narzissmus, sondern es ist der naive Glaube eines Kindes, daß seine Welt die Welt schlechthin ist. Es ist keineswegs nur auf sich selbst bezogen, sondern es lebt in der natürlichen Einstellung, für die die Welt von Anbeginn keine Privatwelt ist, sondern eine intersubjektive Welt, die allen gemeinsam ist. Egozentrismus meint also mehr die kognitive Unfähigkeit zu dezentrieren und den eigenen Standpunkt vom Standpunkt anderer schlüssig zu unterscheiden. Der Egozentrismus stammt daher nicht aus einem Individualismus, der den Beziehungen zu anderen Menschen vorausgeht, sondern er kann sich im konkreten Handeln überwinden lassen, das immer auch Interaktion und damit das Erleben der eigenen Grenzen, und des Angewiesenseins auf die Mitwelt ist.
Die klassische Demonstration egozentrischer Perspektive ist Piagets "Drei-Berge-Versuch". Das Kind weiß zunächst nicht, daß es unterschiedliche Ansichten eines Gegenstandes von unterschiedlichen Perspektiven aus gibt oder - falls es das grundsätzlich weiß - es kann sie nicht konstruieren und bietet als "Lösung" oder Lösungsersatz die eigene an.
Die Überwindung des Egozentrismus wird nach Piaget möglich durch Erfahrung und Speicherung unterschiedlicher Ansichten sowie durch sozialen Austausch, durch Widerspruch und Konflikt der "Ansichten". Auch der Erwachsene muß egozentrische Sichtweisen ständig neu überwinden. Man denke z.B. an Selbstverständlichkeiten in einer sozialen Gruppe, an Vorurteile und unreflektierte Ideologien. Die Weiterentwicklung wird im Erwachsenen- wie im Kindesalter angeregt sein durch Austausch von Meinungen, durch Widerspruch, durch Erfahrungen, die mit den eigenen Vorurteilen nicht in Einklang stehen.
Nach neuen Studienergebnissen leben Reste dieses Egozentrismus allerdings bis ins Erwachsenenalter fort. John Chambers (Universität Florida) hat in verschiedenen Experimenten nachgewiesen, dass wir selbst bei uns fremden Menschen jede Menge Wissen über uns voraussetzen, das diese jedoch objektiv betrachtet gar nicht haben können.
Piagets "Drei-Berge-Versuch"
Legen Sie vierjährigen Kindern ein Modell mit drei Bergen vor, die sich deutlich unterscheiden. Setzen Sie jedes Kind vor das Modell in Position I und lassen Sie es die Ansicht bestimmen, die es von den drei Bergen hat. Es wird vermutlich diese Aufgabe bewältigen und aus mehreren Zeichnungen oder Fotografien diejenige auswählen, die seiner Sicht entspricht.
Nun fragen Sie die Kinder, wie die Berge aus der Sicht eines Betrachters aussehen, der in Position 2 oder in Position 3 sitzt. Die Mehrzahl der Kinder wird die eigene Ansicht der drei Berge auswählen.
Daraufhin führen Sie die Kinder in die Position 2 bzw. Position 3, lassen von hier aus die Berge betrachten und die jeweilige Ansicht auswählen, eine Aufgabe, die wiederum geleistet wird. Schließlich führen Sie die Kinder wieder in Position I und lassen erneut diejenige Ansicht auswählen, die ein Betrachter aus der Position 2 oder 3 hat, die sie gerade vorher selbst auch bestimmt haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird als Lösung wiederum die aktuelle eigene Ansicht aus Position 1 angeboten.
Es ist nicht erstaunlich, daß das Kind die Ansicht eines Betrachters in anderer Position nicht korrekt bestimmen kann: Das ist eine recht schwierige Rekonstruktionsaufgabe. Erstaunlich ist, daß es lange Zeit glaubt, seine aktuelle Sichtweise sei die Ansicht, nicht eine unter vielen.
In einem Gegenexperiment von Flavell, Newcombe & Huttenlochner konnte jedoch bewiesen werden, dass es Kindern zwischen zwei und drei Jahren durchaus gelingt, sich in andere Perspektiven zu versetzen. Die Kinder konnten bei Kärtchen, bei denen auf der Vorderseite ein Hund, auf der Rückseite eine Katze abgebildet war, richtigerweise angeben, welche Ansicht ein zweiter Beobachter hatte.
Man erkennt an der kindlichen Sprache auch, daß das Kind seine Sichtweise noch nicht von der anderer Personen trennen kann. Es vermag die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt noch nicht zu meistern. Vorschulkinder tendieren zu der Annahme, dass andere Leute die Welt genauso verstehen wie sie. Der mit dem verbalen Egozentrismus zusammenhängende allgemeine Egozentrismus des Kindes erlaubt es ihm noch nicht, andere Perspektiven einzunehmen. Fragt z.B. die Großmutter am Telefon ein Vorschulkind, was es denn zum Geburtstag bekommen hätte, so antwortet das Kind eventuell nur mit "Das da!" und deutet auf ein nahegelegenes Bilderbuch. Ihm ist nicht bewußt, daß seine Großmutter über das Telefon keine Möglichkeit hat, das Buch zu sehen. Beim Mitteilen von Informationen erkennt es kaum, welche Kenntnisse andere Personen schon haben, um dann seine Äußerungen darauf abzustimmen. Allerdings dominiert in diesem Alter nicht ausschließlich die egozentrische Sprache, sondern es gibt auch eine sozialisierte Sprache, die der Verwendung der Erwachsenensprache ähnelt. Sogar dreijährige Kinder sind schon in der Lage, ihre Sprache gemäß dem Alter ihres Gesprächspartners anzupassen). Sprechen sie mit jüngeren Kindern, verwenden sie eine andere Tonlage und kürzere Sätze, als wenn sie sich in einem Gespräch mit Erwachsenen befinden.
Durch echte Kommunikation mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen wird die Sprache allmählich an die Regelsprache angepaßt, und gleichzeitig wird durch die Verwendung der Sprache die Sozialisation des Kindes vorangetrieben, somit das Hineinwachsen in Werte und typische Verhaltensweisen der Gesellschaft. Um diesen verbalen Egozentrismus im Laufe der Kindheit zugunsten einer sozialisierten Sprache zu überwinden, müssen Kinder lernen, ihre Sichtweise als nur eine von vielen möglichen Perspektiven zu sehen. Das gelingt ihnen z.B. dadurch, daß sie in ihren Handlungen und denen ihrer Mitmenschen entdecken, daß ihre Wünsche und Vorstellungen manchmal mit denen der Anderen übereinstimmen (Identifikationsprozeß) oder sich von diesen unterscheiden können (Individuationsprozeß).
Merkmale des verbalen Egozentrismus
Die sprachliche Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung, d.h., wenn die Sprachentwicklung beeinträchtigt ist, treten oft auch Probleme im kognitiven Bereich auf. Sprachentwicklungsstörungen treten nur selten isoliert auf, sondern sind oft begleitet von anderen Symptomen, die es Kindern schwer machen, die altersgruppenspezifischen Anforderungen zu erfüllen. Daher sind solche Kinder oft in ihrem aktuellen und späterem Lernen beeinträchtigt und es kommt zu einem Teufelskreis von wechselseitiger sprachlicher und kognitiver Beeinträchtigung, sodaß eine früh einsetzende adäquate Förderung notwendig ist.
Siehe dazu weiter die Zentrierung auf einen oder wenige Aspekte.
Quellen & Literatur
Friedl, Johanna (2001). Wie kommt das Kind zur Sprache.
WWW: http://wrzx05.rz.uni-wuerzburg.de/sopaed1/breitenbach/entwicklungspsychologie/sprachentwicklung1.pdf (02-12-27)
Montada, Leo (2002). Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets. In Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Weinheim: PVU. (Kapitel 11).
Piaget, Jean (1974). Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde. Frankfurt: Suhrkamp.
Bildquelle
http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/pdietric/piaget_2.jpg
Siehe auch Der Narzissmus - eine Persönlichkeitsstörung
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